Pakhet wachte in einem seltsamen Zwielicht auf. Nein, falsch. Es war nicht dämmrig, jemand hatte ihr nur dunklen Stoff – wahrscheinlich einen Sack – über den Kopf gezogen. Das hieß, sie war gefangen.
Mühsam kämpfte sie den ersten Anflug der Panik hinab. Sie war schon einmal gefangen genommen worden, nein, zwei Mal sogar, und war mehr oder minder heil rausgekommen. Ihr Job war schief gegangen, aber es gab noch mindestens einen Ausweg. Es musste einen Ausweg geben.
Doch wenn sie den Job nicht zu Ende brachte, hätte sie es sich vielleicht endgültig mit Michael verscherzt. Etwas, dass sie sich nicht erlauben konnte.
Sie bevorzugte die Triaden gegenüber dem US Militär. Zumindest würde man sie hier nicht auf ewig einsperren, in einem Loch verschwinden lassen. Das schlimmste, was passierte, war, dass man sie tötete. Folterte und dann tötete.
Ihr Magen verkrampfte sich bei dem Gedanken.
Jemand hatte ihr den Mantel abgenommen, doch dem Gefühl nach trug sie zumindest noch ihr Kleid. Allerdings war auch die Perücke verschwunden. Zu ihrer Überraschung hatte man ihr jedoch die Prothese gelassen. Vielleicht nur, um so ihr Handgelenk einfacher auf der Rückseite des Stuhls zu befestigen. Ja. Sie war an einen Stuhl gefesselt. Handschellen für die Handgelenke, Seil für die Beine. Wahrscheinlich kam das Licht von einer Lampe.
Theoretisch wusste sie, wie diese Dinge abliefen. Sie würde rauskommen.
Vorsichtig lauschte sie. Da war Geraschel. Ein geflüstertes Gespräch von drei oder vier Personen. Zwei oder drei Männer, eine Frau. Sie sprachen Mandarin, so dass sie nichts verstand. Jemand lachte.
Verdammt.
Sie musste hier herauskommen.
Handschellen. Vielleicht konnte sie sich daraus befreien.
Vorsichtig darum bemüht keine Geräusche zu machen bewegte sie die rechte Hand. Ein wenig Energie ließ sie in die Gelenke fließen im Versuch sie flexibler zu machen. Doch es war mit einer Hand schwerer, als mit zwei. Die Hand der Prothese war nicht beweglich. Sie konnte weder der rechten assistieren, noch konnte sie die Prothese selbst den Fesseln entwinden. Mist. Würde sie es schaffen die Prothese von der Schulter zu lösen, könnte sie sie zumindest als Waffe verwenden. Es wäre nicht optimal, doch sie könnte sich aus der Situation befreien.
Nein. Selbst wenn es funktionierte, könnte sie nicht schnell genug die Fesseln an ihren Beinen lösen, solang ihre eine nutzbare Hand von der Prothese verlangsamt wurde.
Die Arschlöcher waren gewitzt. Sie mussten gewusst haben, dass sie sich so leichter befreien konnte. Verflucht.
Was konnte sie machen?
Sie musste irgendwie die Kontrolle über die Situation erlangen. Waren die Typen wohl bestechlich? Immerhin: Sie war nur Söldnerin. Sie hatte keine persönlichen Probleme mit einem von ihnen. Sie hatte nur ihren Job gemacht. Vielleicht konnte man dem ganzen mit etwas Geld oder dem Angebot für Arbeit entkommen.
Ja. Das war wahrscheinlich ihre beste Chance.
Sie musste sich fangen. Sie durfte keine Angst zeigen, keine Schwäche. Zwei Mal, drei Mal atmete sie durch, dann erhob sie die Stimme: „Hey!“
Das Gespräch wurde unterbrochen. Gut. Sie hatte sie auf dem falschen Fuß erwischt. Sie würde keine brave Gefangene sein.
Sie würde für einige Sekunden warten. Vier. Fünf. Sechs. Sieben. Acht. Zehn. Noch immer sagte niemand etwas. Also waren sie unsicher? Vielleicht konnte sie das ausnutzen. „Ich weiß, dass ihr da seid!“
Jetzt wurden Worte auf Mandarin getauscht. Gut. Sie besprachen, was sie mit ihr tun sollten. Sie konnte sie weiter drängen.
„Hat euer Boss gesagt, ihr sollt auf ihn warten oder was?“
Schritte erklangen. Eine Tür wurde geöffnet und geschlossen. Für einen Moment war ferne Musik zu hören.
Sie atmete tief durch. Sie durfte sich nichts anmerken lassen. Irgendwann würde jemand den Sack von ihrem Kopf reißen. Wozu war der überhaupt da? Normal war das etwas, das man tat, damit Gefangene einen Weg nicht sahen. Aber sie war ohnmächtig gewesen. Es sei denn sie hatten dem nicht getraut.
Noch einmal bewegte sie vorsichtig die rechte Hand, doch aus der Handschelle gab es kein Entkommen.
„Worauf wartet ihr?“, fragte sie in den Raum hinein.
Jemand antwortete auf Mandarin. Die Stimme war erhoben, die Worte deutlich an sie gerichtet. Natürlich verstand sie nichts. Allerdings klang der Tonfall abwertend.
„Oh, Bitte, ich wisst, dass ich euch nicht verstehe. Zu feige mich richtig zu beleidigen?“
Ein wütender Laut. Dann: „Ich habe gesagt, du sollst die Klappe halten, Hure.“
„Das ist eine furchtbar kreative Beleidigung“, erwiderte sie. „Mal ehrlich. Was habt ihr mit mir vor?“
Doch keine Antwort erklang.
Sie verkniff sich ein Seufzen. Es hätte zu angespannt geklungen. Also sollte sie wirklich warten? Das war nicht gut. Sie brauchte Kontrolle. Also musste sie ihn weiter reizen. Es war zumindest ein Typ.
„Ach komm, machst du dir in die Hosen wegen deinem Boss oder mir?“, meinte sie.
Stille.
„Ich beiße, das kann ich garantieren“, knurrte sie.
Zu ihrer Überraschung antwortete die Stimme einer Frau, selbst wenn der Dialekt sehr dick war. „Wenn du beißt, verpassen wir dir einen Maulkorb.“
„Kinky“, antwortete Pakhet.
Schritte näherten sich. Schritte von Füßen in hochhackigen Schuhen. Jemand war nahe. Die Nähe war spürbar. „Ich weiß, was du machst, Gweimui“, meinte die Frau. „Du versuchst die Kontrolle zu behalten, hmm?“
Durchschaut.
„Ich kann dir garantieren, dass es nicht funktioniert, Gweimui.“
Pakhet hatte keine Ahnung, was Gweimui heißen sollte, aber es klang wie eine Beleidigung. Die Frau musste eine dieser Sicherheitsdamen oder irgendwer, der tatsächlich mit den Triaden arbeitete, sein. Sie war jedenfalls mehr als einfach nur eine Gespielin. Ihre Art passte nicht dazu.
„Ich bin nur der Meinung, dass wir darüber reden können“, erwiderte Pakhet. „Denn sicher gibt es hier eine Lösung für die Situation.“
„Natürlich gibt es die. Sie endet mit deinem Tod.“
„Wenn ihr mich töten wolltet: Warum bin ich noch nicht tot?“
„Weil der Heung Chu es dir nicht so leicht machen wird, Gweimui“, zischte die Frau. Dann traf etwas Hartes, Schweres Pakhets Schienbein, ließ sie aufkeuchen.
Ja, das war Antwort genug. Leider die Antwort die sie gefürchtet hatte. Sie wollten sie foltern. Wie konnte sie entkommen?
Sie presste die Augen zusammen, versuchte den Schmerz aus ihrem Geist zu verdrängen. Zumindest vorerst war nichts gebrochen. Doch wenn sie sie wirklich foltern wollten, würde dieser Zustand nicht zulange anhalten.
„Verstehst du mich, Gweimui?“, zischte die Frau.