Wieder musste Pakhet Erinnerungen verdrängen, die in ihr aufkommen wollten. Nein. Später. Sie würde all das später verarbeiten. Für jetzt musste sie hinter dem Wagen bleiben, der mit zu großer Geschwindigkeit in Richtung der nächsten Hauptstraßen fuhr. Wohin auch immer das Weib wollte.
Dankbarerweise hatte Pakhet einen nicht zu langsamen Wagen geholt, selbst wenn der Kombi es nicht wirklich mit dem Sportwagen des Weibs aufnehmen konnte. Doch der Verkehr galt für sie beide und so schaffte sie es irgendwie, nah genug an dem roten Wagen zu bleiben, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren.
Die Frau fuhr in Richtung des Finanzdistrikts – auch wenn Pakhet Zweifel hatte, was sie da wollte. Dennoch hielt sie sich an ihr, fluchte aber innerlich. Der Finanzdistrikt war deutlich besser gesichert, immerhin trieben sich hier die wichtigen Menschen rum, für die die Polizei auch aufmerksam war. Nicht der beste Ort für eine Befragung.
Tatsächlich hielt das Weib vor einer Bank, stieg aus ihrem Wagen aus und sah sich um. Sie trug eine Sonnenbrille, die beinahe dazu gemacht schien, das Bösewichts-Bild abzurunden. Am Ende schloss sie den Wagen ab, verschwand in die Bank, während Pakhet missmutig einen Parkplatz gute hundert Meter entfernt auf der gegenüberliegenden Straßenseite suchte. Sie würde warten. Es war wirklich kein guter Ort für einen Angriff.
Und so wartete sie mit einem Finger nervös auf dem Lenkrad tippend. Sie wusste nicht, ob die Frau sie vorher bemerkt hatte. Wenn sie um Hilfe rief, wenn es einen Hinterhalt gab … Ein weiteres Mal würde sie nicht entkommen. Und dieser Gedanke lag wie ein Stein in ihrem Magen. Normal war sie nicht paranoid, aber die Erlebnisse in diesem Zimmer …
Nach etwa vierzig Minuten stolzierte die Frau in ihrem nicht ganz hierher passenden Kleid wieder aus der Bank heraus. Wieder blieb sie stehen, sah sich um und für einen Moment glaubte Pakhet, dass ihr Blick auf ihrem Wagen verweilte. Hoffentlich nicht.
Vielleicht war es besser umzudrehen. Vielleicht …
Nein. Sie würde es durchziehen. Das hier war ihre beste Chance. Es war ihre einzige Chance. Sie musste Li finden.
Und so wartete sie bis die Frau losfuhr, mit dem Wagen hinter der nächsten Straßenecke verschwand, ehe sie folgte.
Es war kurz nach fünf und der ohnehin schon dichte Verkehr nahm zu, machte es schwerer den roten Wagen ausfindig zu machen. Dann aber entdeckte Pakhet ihn, konzentrierte sich darauf ihn im Blick zu halten, während sie den Kombi durch den Verkehr lenkte.
Irgendwann würde es eine Chance für sie geben, oder?
Sie verdrängte die Zweifel, konzentrierte sich auf den Verkehr und folgte der Frau weiter, der nun wieder in Richtung des Flusses fuhr.
Keine zehn Minuten später standen sie in einem Stau, der sich auf der Brücke gebildet hatte, wo hunderte Wagen sich drängten, während ihre Insassen auf dem Rückweg von der Arbeit heimwollten. Es war egal. Sie hatte noch Zeit. Sie behielt den roten Wagen im Auge, fünf Wagen weiter vorne im Gedränge stand. Stück für Stück bewegten sie sich vorwärts, während die Uhr am Armaturenbrett sich auf achtzehn Uhr weiterbewegte.
Es war viertel nach sechs, dass sie die andere Seite der Brücke erreichten, und Pakhets Nerven lagen blank. Der Stau bot wenig Ablenkung, machte es schwer ihr Gehirn davon abzuhalten, sich alle möglichen Ausgänge für diese Sache auszumalen. Aber egal wie schwer der Stein in ihrem Magen zu sein schien: Sie fuhr weiter. Folgte der Frau, die nun wieder in ein einfacheres Wohngebiet abbog. Es war eine andere Gegend als die, in der Pakhet gefangen genommen worden war, auch wenn die Apartmenthäuser, die sich rechts und links von der Straße gen Himmel streckten denen in dem Viertel des Casinos erstaunlich ähnlich waren. Auch hier war der Verkehr noch dicht und zähfließend, stand aber wenigstens nicht länger.
Endlich bog der rote Wagen in eine kleinere Seitenstraße.
An der Straßenecke zögerte Pakhet. Die Seitenstraße war nicht weiter befahren, schien vorrangig eine Lieferanfahrt für ein paar Geschäfte und Restaurants, die sich in den Erdgeschossen der anliegenden Gebäude befanden, zu sein.
Wenngleich nach einem kurzen Halt bog Pakhet dennoch ab, nur um den Wagen einen Moment später anzuhalten.
Der rote Wagen stand. Die Rücklichter waren aus. Offenbar geparkt.
Jeder von Pakhets Sinnen schlug Alarm. Das hier musste eine Falle sein. Ja, sie war sicher bemerkt worden. Was sollte sie tun? Wegfahren? Nein. Das konnte sie nicht. Es kam nicht in Frage.
Sie atmete tief durch. Dieses Mal war sie besser bewaffnet. Sie würde es schon mit dieser Frau aufnehmen können. Mit der Frau und etwaigen Triadenmitgliedern, die hier auf sie warteten.
Die Gebäude hier waren nur vier bis fünf Stockwerke hoch. Da waren Gassen zwischen ihnen. Vielleicht war es eine Möglichkeit. Wenn sie nach oben kam und sich eine Übersicht verschaffte.
Ja, das war ein guter Plan.
Sie nahm ihre Waffe, befestigte das Holster außen, überprüfte dann ihre Messer. So würde es gehen.
Mit einem letzten tiefen Atemzug stieg Pakhet aus dem Wagen aus. Sie riskierte es, sich kurz umzusehen, ehe sie über den Wagen hinwegsetzte und zur Gasse hetzte.
Schon erklang der erste Schuss. Sie hatte nicht genau gesehen, woher, doch verfehlte er sie nur um wenige Zentimeter. Gerade als der zweite Schuss erklang hatte sie die Gasse erreicht und sprang.
Sie musste aufpassen, dass sie nicht zu viel ihrer Energie für solche Stunts verschwendete, aber Übersicht war wichtig. Wenn sie einmal oben war, wäre sie relativ sicher. Die meisten Menschen waren mies darin nach oben zu schießen. Zu viele Nicht-Menschen würden sie wohl nicht haben.
Also sprang sie, stieß sich an der Hauswand ab, sprang weiter und erreichte das Flachdach. Sie ließ sich auf den Bauch fallen, zog dabei ihre Waffe und robbte dann zum Rand des Daches. Rufe erschalten unten auf der Straße. Da waren vier Männer. Von der Frau fehlte jede Spur.
Verflucht. Zwei der Männer liefen nun zu der Gasse hinüber.
Nun, sie waren das erste Problem, was es zu beseitigen galt.
Sie entsicherte ihre Waffe, hielt sich soweit möglich unter dem Mäuerchen am Rand des Daches verborgen und zielte. Einatmen, nachjustrieren, ausatmen, schießen.
Ihr Schuss traf den ersten Mann in den Kopf.
Sie schoss noch einmal, traf den zweiten in die Schulter, bevor er eine Chance hatte zu reagieren. Es würde ihn nicht töten, reichte aber, um ihn zu Boden zu reißen. Allerdings reichte es ebenso, um die anderen beiden auf ihre Position aufmerksam zu machen.
Sie duckte sich wieder, rollte sich ein Stück zur Seite. Immerhin dämmerte es langsam.
Ihre Position war besser als die der Männer. Sie hatte Schutz und soweit prallten alle Schüsse nutzlos an der Mauer ab, schafften es nur Putz von der Fassade zu lösen.
Die beiden Kerle da unten entleerten beide ihre Magazine. Pakhet zählte. 24 Schüsse gesamt. Zwölf pro Magazin. Jetzt war ihre Chance. Sie wagte den Blick über die Kante, richtete sich ein Stück auf und legte an. Einatmen, nachjustieren …
Jemand packte sie von hinten am Kragen der Jacke, warf sie mit einer magischen Leichtigkeit.
Unsanft prallte Pakhet mit dem Rücken auf dem Kies auf, dass das Dach bedeckte. Sie keuchte. Es waren ihre Instinkte, die sie warnten und dazu brachten, sich zur Seite zu rollen, so dass das Messer den Boden neben ihr traf.
Sie wollte nach der Gestalt treten, verfehlte aber. Die Gestalt war schnell. Magisch.
Natürlich.
Keuchend kam Pakhet auf die Beine und betrachtete die Frau, deren Kleid locker um ihre Beine wehte. Sie hielt einen langen Dolch in der Hand, hatte ihre Sonnenbrille vom Nachmittag abgelegt. Da war etwas in ihren Augen, das Pakhet nicht in der Folterkammer gesehen hatte. Ein magisches Schimmern, das den Hunger noch gefährlicher wirken ließ.
„Gweimu“, zischte die Frau und fixierte Pakhet.
Sie war definitiv noch am Leben und allen Anschein nach kein Mensch. Schon sprang sie auf Pakhet zu, aber anders als auf jenen Balkon oder in dieser Folterkammer hatte Pakhet ihre Pistole. Sie schoss, ließ ihre Instinkte ihre Finger leiten.
Ein wütender Schrei erklang, als die Frau zur Seite sprang. Sie hielt sich die Seite. Offenbar hatte Pakhets Schuss sie zumindest gestreift.
„Ich hatte eigentlich gedacht, du würdest abhauen“, knurrte die Frau in ihrem weiterhin dickem Akzent. „Aber offenbar willst du sterben.“
Normalerweise ließ Pakhet sich gerne auf diese kleinen Pläuschchen ein. Versuche den Gegner auf dem falschen Fuß zu erwischen. Aber nicht heute. „Wo ist Li?“, fragte sie stattdessen kalt ohne ihre Waffe sinken zu lassen.
Die Augen der Frau glühten. Sie glühten tatsächlich. Was war sie? Sie antwortete etwas, jedoch auf Mandarin. Dann sprang sie, schien zu verschwinden.
Pakhet sah sie nicht, doch ihre Instinkte ließen sie sich umdrehen – gerade Rechtzeitig um zu verhindern, dass der Schal sich um ihren Hals wickelte. Sie schoss, duckte sich dann unter dem Messer hinweg.
Die Frau war noch schneller als sie – und ihre eigene Geschwindigkeit war bereits durch ihre Magie verstärkt.
Von der Straße erklangen weitere Schüsse, brachten die Frau dazu kurz einen Blick zum Rand des Gebäudes zu werfen. Sie zischte etwas, verschwand dann erneut. War sie zu schnell oder nutzte sie irgendeine Form der Unsichtbarkeit?
Anstatt zu versuchen sie zu sehen, vertraute Pakhet ihren Instinkten. Sie duckte sich unter dem Messer hinweg, versuchte erneut zu schießen, traf dieses Mal aber nur das Dach. Ein weiterer Schlag mit dem Messer, ein weiterer Schuss, dann traf auf einmal eine kalte Hand Pakhets Nacken, griff fest zu.
Spitze Fingernägel bohrten sich in Pakhets Fleisch, ließen sie keuchen. Sie durfte jedoch nicht schlaff werden. Das Weib hatte noch immer ein Messer. Stattdessen trat sie nach hinten aus, traf die Hüfte der Frau. Dann brachte sie ihre Waffe zu ihrem Hals und schoss.
So nah an ihrem Ohr abgefeuert klang der Knall des Schusses als Ringen weiter. Sie konnte die Hitze des Laufs an ihrem Hals fühlen. Dennoch schrie die Frau auf, ließ sie los.
Pakhet fuhr herum. Der Schuss hatte den Arm der Frau durchbohrt – allem Anschein nach die Knochen zertrümmert.
Schreiend hielt die Frau den linken Arm an ihren Körper gedrückt, die Hand mit dem Messer jedoch weiterhin vor sich. Ihre Worte waren fraglos irgendwelche Beleidigungen, selbst wenn Pakhet sie nicht verstand.
Wieder verschwand sie, tauchte nicht sofort wieder auf. Pakhet atmete tief durch, fuhr dann herum und schoss noch einmal.
Dieses Mal traf sie die Schulter der Frau, riss sie damit zu Boden.
Diese Chance konnte sie sich nicht entgehen lassen. Mit drei Schritten war Pakhet bei ihr, trat den Dolch aus der Hand der Frau, ehe sie ihren Fuß auf die verletzte Schulter setzte. Sie richtete die Pistole auf den Kopf der schreienden Frau. „Wo ist Li?“