Es brauchte eine ganze weitere Woche, bis die Wunden gänzlich verheilt waren. Natürlich zeichneten sich noch immer Rötungen auf ihrer Haut ab. Doch zumindest sah es so aus, als hätte die Schulterwunde nicht einmal eine Narbe hinterlassen. Wenigstens etwas.
Sie betrachtete sich im Spiegel ihres Badezimmers, das wie alles in diesem Haus aktuell zu groß und leer auf sie wirkte.
Leider war eine Narbe an ihrer Taille geblieben, doch das ließ sich wohl nicht vermeiden. Immerhin fehlte ihr ein Arm. Im Vergleich war die Narbe nur ein kleiner Markel. Ja, es würde weitere Narben geben.
Sie strich über die alte Narbe, die seit zwei Jahren auf ihrer Schläfe zu sehen war. Sie war mittlerweile genug verblasst, als dass die meisten sie nicht einmal bemerkten. Dem magischen Auge zum Dank vergas sie selbst manchmal, dass linke Auge nicht ihr echtes war. Selbst ihre Lider zuckten zusammen, wenn sie sich mit den Fingern näherte. Es sah echt aus. Sie konnte sehen. Was für einen Unterschied machte es, dass sie es von Zeit zu Zeit rausnehmen musste, um es zu reinigen?
Dennoch seufzte sie. Verdammt. Sie war gerade einmal 28 und bereits eine verdammte Ruine. Eigentlich plante sie irgendwann ein Kind zu haben. Aber wenn sie so weitermachte … Wahrscheinlich wäre es nicht verantwortlich. Am Ende würde sie auf irgendeiner Mission sterben und eine Waise zurücklassen. Es war einer der Gründe, warum sie es noch nicht getan hatte.
Sie wollte sich ein Polster anlegen. Genug, als dass sie ein, zwei Jahre zumindest vom Job aussteigen konnte. Genug, um eine Pause zu machen. Das würde es einfacher machen. Selbst wenn sie sich damit wahrscheinlich nur etwas vormachte.
Es war eine weitere Sache, die Michael nicht zulassen würde.
Und wahrscheinlich war es allgemein eine beschissene Idee. Wahrscheinlich wäre sie eine beschissene Mutter. Auch wenn sie nicht viel beschissener sein konnte, als ihre eigene Mutter. Zumindest wollte sie ein Kind – und das nicht als Statussymbol.
Sie schloss die Augen und seufzte. Mehr unangenehme Gedanken und Erinnerungen. Diese aber erfüllten sie vor allem mit Wut und Frustration, nicht mit dem Gefühl von Hilflosigkeit. Das war etwas besser.
Ach, verflucht.
Sie war lange genug im Haus rumgehangen. Das Traurigste war, dass sie nachwievor keine richtigen Hobbys hatte. Sie trainierte. Sie schraubte mit Robert an Autos rum. Doch was machte sie sonst?
Da war nur die eine Sache, die ihr zumindest für eine Weile ein gutes Gefühl gab. Die Sache, die sie sich in den letzten zwei Wochen nicht getraut hatte. Verdammt. Langsam reichte es. Noch immer wachte sie Nachts von Albträumen auf und sie hatte genug.
Sie musste es einfach wieder wagen, das Haus zu verlassen. Rauszugehen. Zu feiern. Und irgendjemanden zu finden. Deswegen war sie überhaupt hier. Im Bad. Hatte sich geduscht, hatte die Beine rasiert. Selbst wenn ein Teil von ihr sich fürchtete … es würde nicht besser werden, wenn sie noch länger im Haus versauerte.
Also zog sie die recht offen geschnittene Bluse, die sie sich herausgelegt hatte, an. Sie brauchte es. Das Gefühl von Kontrolle. Sie konnte die Kontrolle zurückgewinnen.
Auf ein Kleid würde sie erst einmal verzichten, entschied sich daher für eine enge, schwarze Hose und betrachtete sich im Spiegel. Ja, es ging definitiv als sexy durch.
Mit einem Seufzen holte sie ihre Make-Up Parlette hervor. Normal verzichtete sie darauf sich richtig zu schminken – abgesehen von ein wenig Lidschatten und Lippenstift. Heute aber gab es ihr zwei Dinge: Die Möglichkeit ihren Abend etwas herauszuzögern und eine weitere Möglichkeit der Kontrolle. Sie würde entscheiden, wie sie aussah. Welchen Eindruck sie erweckte.
Das lernte man nicht einmal beim Militär.
Der Gedanke ließ sie tatsächlich Lächeln.
Sie holte auch eine blonde Perücke hervor. Auch wenn sie ihre kurzen Haare bevorzugte, waren die meisten Männer eher langen Haaren angetan. Und heute war auch das ein Teil des Spiels.
So schließlich zufrieden seufzte sie. Kein Grund es weiter herauszuzögern. Sie brauchte es. Sie würde schon sehen, dass es die Dinge besser machen würde. Oder?
Kurz hielt sie inne und überlegte Robert anzurufen. Nur damit er wusste, wo sie war. Ja, und auch ein wenig in der Hoffnung, dass er mitkam. Doch wer war sie, dass sie einen Wingman brauchte? Nein. Robert hielt diese Art von Umgang ebenfalls für unschön. Sie würde sich nur Dinge anhören dürfen deswegen.
Also ging sie so. Sie zog den Armreif über die Prothese, der für normale, nicht magische Menschen zumindest den Eindruck erwecken würde. Es war nicht einmal so, als würde sie sich dafür schämen. Aber es war eine weitere Sache, die es leichter machte.
Natürlich war es eine Lüge. Alles daran. Das Make-Up, die Perücke, der Zauber, der die Prothese verbarg. Doch einmal ehrlich: Wer, der sich auf einen One-Night-Stand einließ, war auf die Wahrheit aus?
Sie brauchte es, rief sie sich in Erinnerung. Sie brauchte die Chance, sich wieder in Kontrolle zu fühlen. Sie brauchte Sex. Sex, bei dem sie die Kontrolle behielt.
Es würde helfen. Das wusste sie.
Bisher hatte es immer geholfen.
Also fuhr sie Richtung Westen, wo die besseren Bars und die Touristenhotels waren. Sie musste einfach darüber hinwegkommen. Noch zwei Mal atmete sie tief durch, als sie den Wagen abstellte. Dann stieg sie aus.
ENDE