Nervosität breitete sich in Pakhets Magen aus, als sie aus dem Taxi ausstieg. Der Baoshan Distrikt war kein Ort, an dem sich Touristen üblicherweise aufhielten, was bedeutete, dass sie herausstach. Sicher, sie trug eine dunkle Perücke, doch war es offensichtlich, dass sie nicht von hier kam.
Sie sah sich um. Die Dunkelheit war bereits vor zwei Stunden über Shanghai hereingebrochen, so dass die Schluchten zwischen den grauen Wohnklötzen aus Beton vom gelblichen Licht alter Straßenlampen erleuchtet wurden. Dies war weit ab von den Neonlichtern, die viele Westler mit Shanghai verbunden hätten. Zugegebenermaßen hatte sie anderes erwartet, als Michael ihr gesagt hatte, dass sie ein Casino aufsuchen würde. Sie hatte an einen der Touristendistrikte und eine moderne Casinohalle gedacht – nicht an irgendeinen Mahjongg-Parlor.
Egal. Sie war vorbereitet. Sie hatte alles, was sie brauchte. Sie würde hoffentlich nicht zu lange brauchen. Morgen wäre sie im Flieger zurück nach Kapstadt. Ein ungutes Gefühl ließ sich dennoch nicht abschütteln. Die Tatsache, dass sie praktisch kein Mandarin sprach, machte die Dinge nicht einfacher.
Mit einem tiefen Atemzug machte sie den ersten Schritt auf dem Bürgersteig. Der Parlor müsste in einem der Wohnblöcke sein. Ihr Kontakt sollte davor warten, unter dem Vorwand eine Zigarette zu rauchen. Dann würde sie reinkommen, würde ihre Zielperson finden und hoffentlich nach spätestens einer Stunde verschwinden.
Sie hasste es. Assassinenaufträge waren nicht ihre liebste Art von Jobs. Dennoch konnte sie Michael nicht widersprechen: Huang Li war niemand, bei dem sie ein schlechtes Gewissen haben sollte. Er gehörte zu einer der Triaden, wurde mit diversen Dingen in Verbindung gebracht. Drogenschmuggel. Menschenhandel. Waffenhandel. Eine wilde Mischungen aus den Dingen, die man mit der Mafia verband.
Natürlich war derjenige, der sie beauftragt hatte, wahrscheinlich seinerseits ein Mitglied der Triaden. Vielleicht gehörte er zu einer rivalisierenden Triade, vielleicht zur selben und wollte Lees Position einnehmen. Doch das war der Lauf der Dinge. Sie hatte es sich nicht erlauben können, den Job abzulehnen. Nicht nach den Problemen, die sie sich bereits mit Michael eingehandelt hatte. Genau das hinterließ einen bitteren Geschmack auf ihrer Zunge.
Leichter Regen nieselte vom Himmel hinab, während Pakhet sich in Kleid mit einem übertriebenen übergeworfenen Mantel gekleidet den Bürgersteig entlang bewegte.
Am Ende konnte sie nur hoffen, dass sie ihre Spuren zurück zum Hotel gut genug verwischt hatte, hatte sie doch mehrere Umwege in Kauf genommen und ihre Schlüsselkarte für das Hotel in einem Bahnhofsschließfach gelassen.
Da. Im überdachten Eingangsbereich von einem der Wohnblöcke stand eine Gestalt. Ein recht groß gewachsener chinesischer Mann mit ordentlich zurückgekämmten Haaren. Er rauchte, zeigte damit einen verzierten Armreif an seinem Handgelenk. Ein Drache mit violetten Edelsteinaugen. Das solle Tenzien sein. Ihr Kontakt.
Einmal noch atmete Pakhet durch, ehe sie zu ihm hinüberkam.
Ihre Stöckelschuhe waren laut auf den Betonplatten, die hier den Boden bedeckten, ließen ihn aufsehen. Er musterte sie von oben bis unten, lächelte dann. „Sind Sie das, Ms Kirby?“, fragte er auf Englisch. Sein Dialekt identifizierte ihn deutlich als Hongkonger.
„Es ist ein schöner Abend, finden Sie nicht, Mr Han?“, erwiderte sie wie abgesprochen. Eine Aussage, die ob des nieselnden Regens wenig Sinn machte.
„Nicht so schön, wie ein bekanntes Gesicht zu sehen.“
„Dann haben Sie mich nicht vergessen.“
„Natürlich nicht.“ Er schenkte ihr ein gewinnendes Lächeln. Er trug einen Anzug, hatte das Jackett jedoch zusammengefaltet über den Arm gelegt. Jetzt streckte er ihr die Hand auf. „Wenn Sie schon hier sind: Darf ich Ihnen einige meiner Freunde vorstellen?“
„Warum nicht?“, erwiderte sie, nahm seine Hand und erwiderte das Lächeln steif.
„Dann begleiten Sie mich doch“, erwiderte Tenzien und zog sanft an ihrer Hand.
Pakhet presste die Lippen aufeinander, erlaubte es jedoch, dass er sie bei der Hand führte. Er ließ den Stummel seiner Zigarette fallen, drückte ihn mit seinem Schuh aus und führte sie dann zum Eingang des Gebäudes.
Dort angekommen drückte er auf eine der vielen Klingeln und wartete, bis eine tiefe Stimme über die Gegensprechanlage erklang. Kurze Worte wurden in Mandarin ausgetauscht, ehe ein Buzzer erklang.
Weiter ging es: Ins Gebäude hinein, hin zu einem Aufzug. Hinauf in den drittobersten Stock.
Noch immer hatte Pakhet den Kiefer angespannt, doch das konnte sie sich nicht erlauben. Sie durfte nicht nervös wirken. Es passte nicht zu ihrer Persona. Sie schloss die Augen, atmete einige Male gezielt durch, entspannte sich bewusst. Es würde nicht schwer sein. Laut ihren Informationen waren wenige Wachen dort und die, die es gab, würden kein Problem sein. Sie war stärker. Das waren einfache Schläger, sie war ausgebildete Soldatin – Söldnerin.
Also folgte sie Tenzien in das Treppenhaus, als der Aufzug hielt. Sie mussten den Aufzug einmal umrunden, um in einen dunklen Flur zu kommen. Gab es hier keinen Strom oder waren die Lampen einfach nur kaputt?
Zielsicher führte Tenzien sie zu einer Tür am Ende des Flurs. Die Türen waren alle gleich: Weiß gestrichen, jedoch gelblich verfärbt. Es gab einen Spion in jeder von ihnen. Die Mauer der Wand war offen sichtbar. Dunkler Beton. Das ganze Gebäude war wahrscheinlich eine Betonplattenkonstruktion.
Tenzien klopfte. Sofort wurde ihm auf Mandarin geantwortet. Er sagte etwas. Wahrscheinlich ein Passwort. Klischeehaft, doch oft die Realität.
Dann wurde die Tür geöffnet und ein Mann, der den Tattoos auf seiner Hand nach zu Urteilen russischer Abstammung war oder zumindest einen Aufenthalt in einem russischen Gefängnis genossen hatte, stand ihnen gegenüber.
„Das ist eine alte Freundin von mir“, meinte Tenzien auf Englisch zu dem Mann.
„Sie ist nicht eingeladen“, erwiderte der Mann. Er musterte Pakhet von oben bis unten.
„Das waren einige der anderen Damen doch auch nicht.“ Tenzien lächelte verschmitzt.
Pakhet wusste, dass dies ein Einsatz für sie war.
Vorsichtig und langsam griff sie in ihre Handtasche. Sie wollte nicht riskieren, dass die Wache auf die Idee kam, sie würde ihn angreifen wollen. Dann holte sie ihr Portemonnaie aus der Tasche, griff hinein und drückte ihm einen 100 Yuan-Schein in die Hand. „Ich will mich nur ein wenig amüsieren“, meinte sie und schenkte ihm einen verführenden Blick.
Der Mann sah auf den Schein in seiner Hand. Dann musterte er sie für einen weiteren langen Moment. Er war groß. In beinahe jeder Hinsicht entsprach er dem Klischee eines russischen Schlägers – inklusive des breiten kahlgeschorenen Schädels.
„Lassen Sie mich ihre Tasche durchsuchen“, murrte er schließlich.
Pakhet lächelte, reichte ihm dann die Handtasche, ließ sich schließlich auch so untersuchen. Sie hatte keine identifizierenden Gegenstände dabei. Keinen Hinweis auf Forrester Security. Nur ein Wegwerfhandy, zwei versteckte Waffen, Geld und die Spritze mit dem Gift. Ihr Auftragsgeber war dahingehend sehr spezifisch gewesen. Die Spritze war jedoch in der Gestalt eines Epipen getarnt. Etwas, das wenig Aufmerksamkeit auf sich ziehen sollte.
Schließlich brummte der Mann. „Nimm sie mit.“
Tenzien verneigte sich und murmelte etwas auf Mandarin. Dann nahm er erneut Pakhets Hand.
Sie wurden in die vermeintliche Wohnung gelassen.
Pakhet wusste nicht, was sie erwartet hatte. Jedenfalls hatte sie sich das ganze verrauchter, dämmriger vorgestellt, als es war.
Der Raum, der wohl als ein Wohnzimmer gedacht gewesen war, war normal ausgeleuchtet. Ein paar quadratische, niedrige Tische waren aufgestellt. Darauf die Steine. Einige Leute, die meisten von ihnen Männer, saßen drum herum. Jedoch gab es auch Frauen – und das nicht nur als knapp bekleidete Kellnerinnen.
Die Frage war, welche dieser Frauen eigentlich Sicherheit waren. Da war ein junger Mann, an dessen Seiten direkt zwei chinesische Frauen saßen. Pakhet wusste, dass es gerade in den Triaden in Mode gekommen war, Frauen zur Sicherheit auszubilden. Man vermutete sie seltener als einen Mann. Sie konnten die Überraschung für sich nutzen.
Egal.
Insgesamt waren hier 25 Personen. Ihr Zielperson war nicht zu sehen. Doch ihr war auch nicht entgangen, dass vom Zimmer aus vier Türen abgingen. Eine davon stand offen, führte in eine ordentliche, wenngleich kleine Küche. Die anderen wahrscheinlich zu den Zimmern, die als Arbeits- und Schlafzimmer vorgesehen waren.
Sie würde ihn schon finden. Huang Li. Bis dahin musste sie sich anpassen. Sie durfte nicht auffallen.