Wir erleben das übliche Procedere mit suizidalen Vögeln bis zur Autobahn, die wir Richtung Potsdam brausen.
„Nach Berlin sind es nur 80 Kilometer“, speie ich aus. Allein der Tonfall sagt alles, was ich über Berlin denke, weshalb der Göttegatte nicht dem Missverständnis anheimfällt, ich könnte da hin wollen, wenn das Wetter morgen nicht besser wird. Von Berlin halte ich nämlich dasselbe wie Kraftklub.
„Wenn du mich küüüssst“, singt er plötzlich, „kommen unsere Freunde zurück aus Berlin.“
„Wenn du mich küsst, wenn du mich küsst“, trällere ich eine Weile mit und küsse ihn.
Natürlich nur auf die Wange, denn er muss Autofahren.
„Ich mag Berlin nicht“, schimpfe ich, „es war der größte Fehler der Geschichte, Berlin zur Hauptstadt zu machen.“
„Es stand in der Verfassung.“
„Die ändern die für jeden Scheiß, ohne uns zu fragen“, mosere ich weiter, „sie da zu ändern, wäre sinnvoll gewesen. Seit Berlin Hauptstadt ist, tut sich Deutschland wieder als bedeutend Staatsmacht auf. Überall müssen wir eine Rolle spielen. Vor allem im Krieg. Soldaten in Afghanistan. Lars war zweimal da.“
„Hm“, er tätschelt mir den Oberschenkel.
„In Mali!“, schrille ich, „Das ist eine französische Angelegenheit.“
„Wir sind da, damit die Franzosen ihre Soldaten abziehen konnten. Wegen der Terroristen in Paris.“
„Ich weiß! Aber als die Franzosen sich weigerten, an der Flüchtlingsverteilung mitzuarbeiten, hätte ich als erstes die deutschen Soldaten aus Mali abgezogen! Aber eure Flinten-Uschi...“
„Gut jetzt“, lächelt er sanft, „Ich weiß das doch."
„Die Bonner Republik war eine friedliche.“
„Ich weiß.“
„Und außerdem haben die Berliner keinen Humor.“
„Ich weiß. Wir fahren nicht nach Berlin. Beruhige dich.“
„Ich wäre so gerne Luxemburgerin“, maule ich mit vor der Brust verschränkten Armen.
„Ich weiß, mein Herz.“
Aber ich beruhige mich erst, als wir nach Potsdam abbiegen und dort hinter Thomas Kombi herfahren. Aus dem Heckfenster winkt Nicki energetisch. Ich winke zurück.
Als wir uns dem Zentrum nähern und durch einige Straßen mit uralten Mietshäuser über Pflastersteine -PFLASTERSTEINE- zuckeln, bin ich schon wieder geerdet, und gucke beglückt aus dem Fenster. „Guck mal, es sieht aus, wie in Wien.“
„Ja, nur ohne Parkplätze“, gibt er gereizt zurück und hält in einer Einfahrt. „Chatte mal mit Steffi. Wir sollten unabhängig voneinander einen Parkplatz suchen, und dann einen Treffpunkt ausmachen.“
Das mache ich.
Zehn Minuten später treffen wir uns alle neben unserem Auto, das auf einem Behindertenparkplatz auf alten Pflastersteinen parkt. Gelungene Teilhabe. Ich möchte sehen, wie ein alleinfahrender Querschnittsgelähmter hier aussteigt.
„Darf ich dich schieben?“, Nicolas hüpft auf und ab, aber ich beäuge den Boden kritisch. „Hier lieber nicht, Nicki.“
„Na, gut. Aber ob es hier ein Café gibt?“ Seine Locken wirbeln im Wind, und ich denke, er ist zehn und sieht saucool aus, selbst ohne Frisur. Die Mädchen werden ihm die Türen einrennen, gerade auch, weil er druckreife Sätze bildet und schlagfertig ist. Und irgendwie kommt er ungeheuerlich auf mich, was biologisch ja unmöglich ist. Die Züge seiner Mutter, die meinen ähneln, sind bei ihm lediglich enorm ausgeprägt.
„Da lang“, bestimmt Steffi mit Google für Fußgänger in der Hand. Der Wind hat einige Strähnen aus ihrem Dutt gerupft, die willkürlich umherflattern, als sie losläuft.
Wir trotten hinterher.
Passieren ein Stück Fußgängerpassage, aber wir suchen ein Café, das wir direkt vor dem Nauener Tor finden, das wir selbstredend fotografieren.
Es gibt Menschen aus Fleisch und Blut in Potsdam, und dass einige den Eindruck vermitteln, Alternative oder Grüne zu sein, versöhnt mich ein wenig mit Preußen. Es fiel mir bis dahin schwer, nicht in jedem einen potentiellen Nazi zu sehen, obschon mir auf intellektueller Ebene bewusst ist, wie unsinnig und ungerecht das wäre.
Wir begucken Schaufenster.
Sehen extravaganten Schmuck und Mode.
Dönerbuden. Unglaublicherweise freue ich mich darüber, alles scheint so normal hier, und der Boden macht mir auch die Freude, besser zu werden, sodass ich selbst fahren kann. Wir entdecken vor dem Nauener Tor das holländische Viertel und fotografieren es.
Vor uns, in der großen Außengastronomie, biegen sich die Sonnenschirme windgepeitscht. Wir kämpfen uns durch, und okkupieren einen Tisch.
„Sans Souci liegt da“, Steffi streckt den Arm nach Westen aus, „Ich schlage vor, wir trinken hier was, und laufen dann über die Fußgängerpassage in diese Richtung.“
„Das ist ein Umweg“, Jan guckt von der Karte auf.
„Da ist der Boden besser“, erklärt Tom.
„Ah.“
"Ich hab‘ Hunger“, verkündet Nicolas, „Ich würde gerne ein Schnitzel essen. Das steht hier auf der Karte.“
„Das ist vielleicht ein wenig groß“, gibt seine Mutter zu bedenken.
„Schon, aber es steht unter der Überschrift Rentnermenü. Ich glaube, da sind die Portionen kleiner.“
„Gut, dann ein Schnitzel. Jan?“
Selbiger sieht auf. „Ich nehm‘ ne Currywurst.“
„Hier bestellt man mit Scancodes und dem Handy“, mokiert Tom, weil das nicht funktioniert. Thomas probiert es auch erfolglos.
„Willkommen im 21 Jahrhundert“, kommt es von Jan.
Steffi winkt unterdessen eine Bedienung herbei und bestellt allerlei Getränke und zwei Mahlzeiten, während die Männer noch vergeblich mit dem Scancode befasst sind.
Später, mit seiner Cola in der Hand, lehnt Jan sich zurück. „Potsdam, also“, er lächelt ein unwiderstehliches, weil ironisches Jungenlächeln, „Potsdamer Konferenz, 17 Juli 1945, Schloss Cäcilienhof. Stalin, Atlee, irgendein amerikanischer Admiral, aber den US-Fuzzi kann ich mir einfach nicht merken.“
Keiner guckt ihn entgeistert an. Am Tisch sitzen zwei Historikerinnen, mit denen er aufgewachsen ist.
„Harry S“, Tom nimmt einen kräftigen Schluck von seinem Bier, „leichte Eselsbrücke.“
Alle, bis auf ich und Nicki, der an seinem Schnitzel säbelt, gucken ihn fragend an.
„Eselsbrücke? Was denn?“, fragt Steffis helle Stimme.
„Denk doch mal nach“, Tom hebt amüsiert eine blonde Braue, „Vor allem spreche es aus. Der US-Fuzzi...“
„Präsident“, souffliere ich.
„....hieß Harry S. Truman.“
„Harry S.“, Jan beugt sich interessiert vor.
„Harry S“, betone ich süffisant.
„Hairy ass.“, wiederholt Tom, aber alle glotzen ratlos. Allein Nicky, zehn Jahre alt, säbelt weiter und verkündet dabei lakonisch: „Haariger Arsch. Ist doch einfach.“
Zuerst sieht seine Mutter verblüfft aus. Dann lacht sie schallend und wühlt ihrem Jüngsten durch die Locken.