Prompt vom 2. Oktober 2019
"Der Herbststurm braust durch Wald und Feld, die Blätter fallen nieder!", sangen die Kinder so laut sie konnten. Tatsächlich wehte ein starker Wind und Nina musste sich fest in ihren Mantel hüllen, um nicht zu frieren. Immerhin war Oliver gerade zum Getränkestand gegangen, um Glühwein und Kakao zu holen.
Nina rieb sich feste die Arme und stellte sich auf die kleine Mauer hinter ihr, um einen besseren Blick auf den Umzug zu bekommen. Die Kindergartenkinder waren bereits vor Stunden fertig gewesen. Die kleine Rieke war erschöpft nach Hause gekommen, doch nach ihrem kleinen Nickerchen sprang sie jetzt wieder fröhlich durch die Menge. "Und von dem dunklen Himmelszelt ziehn schwarz die Wolken nie-hieder!", kreischte sie ausgelassen und rannte zu Nina, um ihre Hand zu nehmen. "Mama, guck mal! Guck mal! Da hinten kommt Kim!" Mit ihrem kleinen Finger zeigte Rieke in eine Richtung, wo für sie allerdings nur die schwarzen Mäntel der anderen Zuschauer zu sehen sein mussten.
Nina schüttelte die Kälte ab und hob das kleine Mädchen hoch. "Kannst du xie so sehen?"
Rieke krallte sich in Ninas Haare, um noch etwas höher zu kommen. "Ja! Ja, da hinten ist xie!" Ihre Augen strahlten fast so hell wie die Laternen.
"Krapfen gefällig?" Oliver kam mit einem breiten Grinsen zurück und gab seiner Frau einen Kuss. Dann tippte er Rieke auf die Nase. "Kakao für meine Prinzessin", sagte er und gab ihr einen kleinen Becher.
"Vorsicht, das ist heiß", warf Nina schnell ein.
Rieke pustete bedächtig in den Becher und lachte, als ihre winzige Brille beschlug. "Kim kommt gleich vorbei!", informierte sie ihren Papa, bevor sie vorsichtig an dem Kakao nippte. Ihre ganze Oberlippe war voll von Sahne, was sie genüsslich ableckte.
Oliver legte die Krapfen auf das Mäuerchen, bevor er Nina einen der Glühweinbecher gab. "Tatsächlich!"
Der Umzug stoppte. "Sankt Martin reitet dann sein Pferd, so schnell die Wolken eilen. In seiner Rechten blitzt das Schwert, die Nebel zu zerteilen", sangen die Kinder auf der Straße.
"In seiner Rechten blitzt das Schwert, die Nebel zu zerteilen", summte Oliver mit, während er seinen Hals ausstreckte, um Kim zu entdecken. Zwischen den ganzen schaukelnden Lichtern war es ganz schön schwer, xien zu entdecken. Dafür klang xies Stimme umso lauter: "Das Schwert, womit als Reitersmann den Mantel er zerschnitten..." Hell und gleißend klang sie, wie das Schwert, von dem xie sang.
Der Zug setzte sich wieder in Bewegung und mit ihm kam auch Kims Stimme immer näher. Dann war xie schließlich da: In der letzten Reihe, gleich vor der Abschlusskapelle. "Den er geschenkt dem armen Mann und weiter ist geritten."
Kims Blick traf auf den xierer Familie, und ein Grinsen breitete sich auf xiers Gesicht aus. Am liebsten hatte xie ihnen zugewunken, doch die Lehrer hatten ihnen eingeschärft es nicht zu tun. Trotzdem wusste Kim, dass xiere Eltern und xiers kleines Schwesterchen xien sahen. Für einen Moment war die Luft erfüllt von Stille und von Frieden. Die Zeit schien den Atem anzuhalten. Kim spürte den Stolz und die Liebe, die xie umgaben, und für diesen Moment waren alle Probleme des Alltags vergessen. Egal was passierte, Kims Familie würde immer für xie da sein.
Dann war der Moment vorbei und Kim musste weiter gehen. "Den er geschenkt dem armen Mann und weiter ist geritten", sang xie und auf einmal hatten die Zeilen eine ganz neue Bedeutung gewonnen; In xierem persönlichen kleinen Herbststurm würde gewiss immer ein römischer Soldat auf einem weißen Pferd im Nebel verborgen sein, um den Mantel mit xier zu teilen.