Prompt vom 13. November 2019
CW: Dissoziative Persönlichkeitsstörung
Red sah sich den riesigen Bildschirm an und schlürfte an ihrem Cappuchino. "Meinst du, sie bekommt das hin? Alice?"
Angesprochene strich sich ihre kurzen weißen Haare aus der Stirn. "Bestimmt." Konzentriert lehnte sie sich nach vorne.
Red presste ihre schmalen Lippen zusammen. Sie wusste zwar, dass Alice grundsätzlich kurz angebunden war, aber gerade wirkte sie noch abweisender als sonst. Ein klares Zeichen dafür, dass sie bereit war, jederzeit einzuspringen.
Etwas zog an Reds Mantel. "Eddie", knatschte eine kleine Stimme neben ihr, "Mathis hat mir an den Haaren gezogen!"
Ein Lächeln flog über Reds Gesichtszüge. Die Kleine hieß Emma und stritt sich ständig mit ihrem Zwilling, nur um sich kurze Zeit später wieder zu vertragen. "Ist schon gut", sagte Red sanft und strich ihr über den Kopf. "Vielleicht bleibst du eben hier, bis er sich beruhigt hat, hm?" Emma nickte und ließ sich von Red hochheben. So war es immer: Sie stritten sich, Red kümmerte sich um die Kleine, Mathis kam kurze Zeit später dazu, der Streit wurde geklärt und sie spielten wieder miteinander. Das immergleiche Ritual zweier sich nie verändernder Kinder. Insgeheim hoffte Red, dass sich das niemals ändern wurde. Nein, nicht ganz - Sie wusste, dass es sich nich ändern würde. Und das war gut so.
Das Bild auf der Wand hatte sich verändert. Statt der Supermarktkasse war dort nun die freie Straße zu sehen. Anscheinend hatte sie es geschafft. Mit einem triumphierenden Grinsen wandte Red sich zu Alice um - Doch die war nicht mehr da. "Scheiße", murmelte Red und setzte Emma ab. "Bleib hier", wies sie die Kleine so freundlich an, wie sie konnte, "Ich muss mich um Liz kümmern." Emma sah sie mit großen Augen an, dann nickte sie. Sie kannte so etwas schon.
Mit wenigen Schritten war Red an der Ecke des Raumes, dort, wo eine Tür in das Bild hinein führte. Wie vermutet lag dort eine zierliche Gestalt, das Gesicht verdeckt von ihrer Kapuze, zitternd und leise weinend. Vorsichtig nahm Red sie in den Arm. "Ist ja schon gut", flüsterte sie beruhigend, "du bist in Sicherheit. Alice hat übernommen. Gemeinsam gingen sie zum Sofa, das abgewand vom Bildschirm stand.
"Kakao?" Die Stimme gehörte einem schwarzen jungen Mann, der einige Schritte Abstand zu ihnen hielt.
Liz nickte zittrig.
"Warm und mit Sahne", übersetzte Red. "Danke, Anthony."
Anthony nickte und ging zur Küche. Inzwischen strich Red Liz über den Rücken. "Ist ja gut, meine Liebe", sagte sie dabei immer wieder, "Du bist in Sicherheit. Alice bleibt draußen, bis du wieder bereit bist." Zwar würde Alice sich unwohl fühlen, wenn sie zu lange am Licht war, aber das war ihre Aufgabe.
Anthony kam mit einer großen, dampfenden Tasse zurück und kniete sich vor Liz. Vorsichtig strich er ihr übers Knie. "Hier."
Die schmale Person atmete einmal tief ein, dann nahm sie mit dünnen Fingern die Tasse entgegen. Allmählich wurde sie wieder ruhiger. "Danke."
Mehr war als Dankeschön für Anthony nicht nötig. "Elias?", fragte er kurz an Red gewandt, weil er gesehen hatte, dass Emma noch immer allein war.
"Gute Idee", meinte Red. Nach ihr konnte die füllige Gothic-Lady noch am Besten mit den zwei Kindern umgehen. Kurz warf er noch einen besorgten Blick in Liz' Gesicht, dann stand Anthony auf, um Elias zu holen.
Abwesend warf Red einen Blick auf den Bildschirm. Alice war inzwischen im Bus, wo sie starr auf einen unbestimmten Fleck starrte. Es war anscheinend höchste Zeit für sie, wieder zurückzukommen. "Wie geht es dir, Liz?", fragte Red sanft. "Meinst du, du kannst wieder raus?"
Liz nahm einen kurzen Schluck von ihrem Kakao. "Ich denke schon", sagte sie und streckte sich kurz. "Bedank dich bei Alice von mir, ja?"
"Natürlich." Red lehnte sich etwas zurück, als Liz aufstand. Von ihrer zuvor schwächlichen Ausstrahlung war nichts mehr zu sehen.
"Anthonys Kakao wirkt immer wieder wahre Wunder", grinste sie und marschierte zur Tür. "Bis dann!"
"Bis dann", wiederholte Red monoton und beobachtete, wie Liz in die kleine Kammer verschwand.
Kurze Zeit später kam die weißhaarige wieder in den Raum. Sie schüttelte sich und spuckte aus. "Warum um alles in der Welt geht sie nur immer wieder an solche Orte!?", fluchte sie.
Red musste unwillkürlich lachen. "Vielleicht, um zu überleben? Wir können uns nicht ewig in unserer Wohnung einsperren."
Alice sah sie nur kurz mit gerunzelter Stirn an. "Kannst du übernehmen?", fragte sie harscher als gewollt, "Ich muss was nachprüfen."
"Meinst du den Trigger?" Red hatte zwar mitbekommen, dass etwas nicht gestimmt hatte, wusste aber nicht, was es war.
Alice nickte.
"Sag ihn mir dann bitte auch", seufzte sie und setzte sich damit vor den Bildschirm. Inzwischen war auch Elias da. Er bemerkte die ältere kaum, so sehr war er in das Spiel mit Emma und Mathis vertieft. Immerhin sind die beiden glücklich, dachte Red lächelnd.
Währenddessen ging Alice nach unten. Immer tiefer, immer tiefer, bis sie an der tiefsten Stelle angekommen war, dort, wo niemand von ihnen gerne war. Ein leichter Schauer lief ihr über den Rücken, als sie an die schwarze Tür klopfte. "Annabelle?", rief sie leise und trat ein. Vor ihr saß in der Mitte des Raumes zusammengekauert das siebenjährige Kind, das nie wieder ans Licht kommen wollte. "Wir müssen reden."
"Annabelle schläft", flüsterte das Kind und stand auf. "Weck sie nicht auf."
Alice presste die Lippen zusammen. "Sie ist aufgewacht. Ich muss mit ihr sprechen."
"Nein", flüsterte das Kind. "Lass sie schlafen."
Langsam verlor Alice ihre Geduld. Diese endlose Dunkelheit machte sogar ihr zu schaffen. "Es gibt einen Trigger, den wir noch nicht kennen", zischte Alice. "Du bist genau so ein Beschützer wie ich, Belle, also lass mich durch!"
Das Kind sah sie wütend an. "Wag es nicht, mich mit dir zu vergleichen", flüsterte sie aufgebracht. "Ich bin ein Beschützer, aber du bist nicht sehr viel mehr als ein weiterer Seelensplitter!"
Genervt presste Alice die Lippen zusammen. "Dann frag du sie. Bitte."
Ein paar leise Fußschritte unterbrachen ihr Gespräch. "Warum lügst du?", fragte das exakte Ebenbild von Belle. "Ich bin doch wach!"
"Annabelle", lächelte Alice und kniete sich vor sie. Vorsichtig nahm sie die winzigen Hände in ihre. "Möchtest du mir erzählen, was dich aufgeweckt hat?"