Prompt vom 16. Oktober 2019
Ich stehe auf, und ich bin schön.
Die Haare sind lang und fallen in seidigen Wellen über meine Schultern. Lange Wimpern umrahmen meine tiefgründigen Augen, und meine Lippen sind voll und glitzern einladend. Wie aus Stein gehauen wirkt meine Haut, so makellos und glatt.
Ich stehe auf, und bin schön, und das bin ich den ganzen Tag lang. Ich lächle, verteile kokette Küsschen, lache über schlechte Witze und bin generell die perfekte Frau.
"Cut", ruft der Direktor und die Kamera geht aus. "Alles ist im Kasten. Schluss für heute."
Die Rolle, die ich spiele, fällt schlagartig ab. Mein Lächeln verschwindet und ich kann es gar nicht abwarten, aus diesem engen Kleid heraus zu kommen. So schnell wie möglich laufe ich in den Umkleideraum.
Ich weiß nicht einmal, wofür diese Werbung war. Oder was sie vermitteln wollte. Wenn ich in der Realität aufstehe, sehe ich meistens eher aus wie ein ziemliches Monster: Augenringe, strubbeliges Haar, schlaffe Haut und Pickel bis zum Abwinken. Wenn ich ins Badezimmer schlurfe, habe ich oft sogar einen kleinen Buckel durch die schlaffe Haltung. Und ehrlich gesagt bezweifle ich, dass es anderen Frauen sehr viel besser geht. Die schöne Maske, die ich mir gerade abschminken will, besteht aus mehreren Schichten Make-Up, die mein eigentliches Gesicht bis zur Unkenntlichkeit verzerren.
"Eigentlich", denke ich, kurz bevor der Schwamm meine Haut berührt, "eigentlich sollte ich das Make-Up auflassen. Es schadet ja niemandem, im Gegensatz zu meinem echten Gesicht."
Ich bin schön. Ich will diese Frau aus der Werbung sein, die ich eben noch war, zumindest fast. Also spiele ich ihre Rolle noch etwas länger. Der Abend ist jung, das Wochenende steht vor der Tür, und ich bin unglaublich schön. Aber was ist der Preis dieser Schönheit? Anzügliche Blicke, Musterungen, die einen begaffen mich neidisch, die anderen rufen mir anzügliche Dinge hinterher. Und ich fühle mich absolut unwohl unter all dieser Aufmerksamkeit. Als mir jemand etwas spendiert, will ich es eigentlich selbst bezahlen und habe dann das Gefühl, ihm etwas zu schulden. Erst ab der fünften oder sechsten spendablen Geste bedanke ich mich lediglich noch oberflächlich. Aufhalten kann ich sie ohnehin nicht. Ich komme mir nicht mehr wie ich selbst vor. Ich will diese Maske ablegen.
Eine Maske, genau das ist es doch. Ich wollte jemand anderes sein als ich bin, und verstecke mich hinter unzähligen Schichten Schminke. Um anderen etwas vorzugaukeln. Um... Wofür eigentlich?
Eigentlich bin ich doch eine sehr tolle Person. Ich bin witzig, freundlich, liebevoll. Sarkastisch und gemein. Ich bin interessant und jemand, mit dem man gerne einen Freitag Abend verbringt. Ich brauche ab und an Zeit, um mich selbst zu genießen, fernab von anderen Menschen, und setze das energisch durch. Ich kann gut kochen und tiefgründige Gespräche führen. Wofür sollte ich jemand anderes sein wollen?
"Eigentlich", denke ich, als ich mich am späten Abend abschminke, "bin ich ziemlich perfekt. Ich sehe nicht einmal schlecht aus, wenn man mal über die kleinen Unreinheiten hinwegsieht. Aber die sind ja menschlich."
Wenn ich aufstehe, bin ich schön. Allerdings nicht, weil ich besonders gut aussehe. Eigentlich sehe ich sogar ziemlich biestig aus. Und wie ein echtes Biest rufe ich jetzt bei meiner unmenschlichen Agentur an und kündige.