Der kleine Wassermann fütterte liebevoll den kleinen Nutria in seinen Garten. Das letzte Jahr war eine ganze Familie oben an der Wasseroberfläche hingezogen, und das war das jüngste Junge.
Er liebte es, den Kleinen zu füttern. Nichts entspannte ihn mehr. Besonders aktuell. Besorgt warf er immer wieder den Blick zurück auf die kleine Hütte, die er am Grunde des Sees gebaut hatte. Er hatte sie sehr liebevoll gebaut, damals, für seine kleine Wasserfrau. Leider war diese schon seit Jahren verstorben. Süßwassermuscheln verzierten die aus geflochtenen Algen bestehenden Wände. Rund gewaschene Glasscherben, die aussahen wie bunte Steine, säumten den die Fenster. Große Algenblätter bedeckten das Dach. Und rund herum reckten sich gelbe Seerosenknospen in die Höhe.
Das Haus wiegte sich sanft mit der Strömung im Wasser. Dadurch verschaffte es seinen Bewohnern das Gefühl, als würden sie in den warmen Armen ihrer Mutter, der See liegen. Denn Wassermänner oder Wassermenschen, wie sie sich nannten, vermehrten sich nicht wie die Menschen. Oh nein. Sie hatten alle nur eine Mutter, die See. Alle Jahre wieder trugen Aale große Muscheln in ihren Mäulern die Flüsse hoch, und legten sie vor den ausgewählten Wassermannhäuser ab. Mittlerweile durch die Befischung nicht mehr so viele, aber dennoch genügend. Aus den Muscheln schlüpfte nach einiger Zeit ein kleines Wasserbaby. Noch ganz grün von der Haut, denn diese dunkelte erst später zu dem schönen Blau nach, was die normale Hautfarbe eines echten Wassermenschens war.
Auch ihm und seiner Frau war ein Wasserbaby gegeben worden. Ein kleiner Junge, ihr größter Schatz. Es war ihre größte Freude ihn aufwachsen zu sehen. Freude, aber auch eine Zeit mit wachsender Trauer. Denn kein Wasserbaby oder später Wassermensch bleibt an dem Ort seiner Geburt. Nein. Je älter sie werden, desto mehr erfasst sie ein Fernweh, ein wahnsinniger Hunger, der ihr Herz erfasst. Eine große Sehnsucht andere Orte zu sehen. Andere Seen und Meere. Manche zogen sogar bis in Gegenden, wo das Wasser das ganze Jahr über vereist war. Andere hatten Ozeane und Seen gesehen, die von den Menschen noch unberührt waren. Versunkene Welten. Es war eine Tradition, welche den jungen Wassermenschen die Welt zeigte, in der sie lebten. Und beim umherziehen wurden sie erwachsen.
Sie kamen selten zurück. Eigentlich nie. Der Hunger nach de Welt, nach der endlosen See, verstreute ihr Volk über den ganzen Erdkugel. Bis sie irgendwann den Hunger nicht mehr verspürten und sesshaft wurden. Manchmal viele Jahre später. Dann galten sie als erwachsen. Normalerweise war das so. Denn sein Sohn, sein kleiner Guppy, war nach drei Jahren zurückgekehrt.
Wie es Tradition war, war sein Sohn mit vielen anderen Wasserkindern zusammen beim Erreichen seines 70. Lebensjahres fortgezogen. Er hatte sich drauf vorbereitet, seinen Sohn nie wieder zu sehen. Und dann stand er plötzlich vor ein paar Tagen vor seiner Türe.
Zögernd ging der Wassermann auf das Haus zu und schob den Algenvorhang, der die Tür bildete, beiseite. Und tatsächlich - sein Sohn lag zusammengekrümmt auf seinem alten Bett. Wo er schon seit seiner Rückkehr lag. Zögernd setzte sich sein Vater zu ihm.
„Willst du nicht was essen?“ fragte er schwach. Er wusste nicht, wie er mit der Situation umgehen sollte. Sein Sohn schüttelte nur das vom Weinen gerötete und geschwollene Gesicht. „Magst du vielleicht drüber reden, was passiert ist?“ Er fühlte sich hilflos. Selbst wenn ein Kind nach Hause zurückkehrte, geschah das nicht nach wenigen Jahren. Das Fernweh hielt Jahrzehnte an. Was konnte seinen Sohn wieder hierhin getrieben haben?
Der Junge schüttelte nur den Kopf. Er krampfte sich weiter in seinem Bett zusammen.
„Also gut, ich lass dir dein Essen hier.“ Er stellte das Blatt mit den Seeschnecken vor seinem Sohn ab. Der drehte sich um und wandte ihm den Rücken zu.
Hilflos stand der Wassermann auf und ging raus. Er blickte über seinen Garten, auf den er so stolz war. Seinen mühevoll aus versunkenen Plastikbooten errichteten Zaun. Seine geliebten Seerosen. Und hinter den Garten, die Weite- gut, beschränkte Weite - des Sees. Aber es war sein Zuhause. Der Ort, wo er eine Heimat gefunden hatte und immer glücklich war. Bis jetzt. Er wusste, seinen Sohn musste was Schlimmes zugestoßen sein. Und das machte das Wasser, was er ein und ausatmete, bitter. Was konnte seinen kleinen Guppy nur passiert sein?
Eine anmutige Gestalt schwebte durch das Wasser auf ihn zu. Seine Nachbarin, die Undine. Sie wohnten schon viele Jahrzehnte nebeneinander. Und kannten sich gut. Zwar stritten sie hin und wieder darüber, wem die Seerose genau an der Grundstücksgrenze gehörte, aber sie waren trotz allen Freunde.
„Ist es immer noch Guppy?“ fragte sie vorsichtig. Der Wassermann nickte traurig. „Er isst nichts. Ich weiß nicht, was mit ihm los ist. Er sagt kein Wort.“
„Kann ich dir irgendwie helfen?“ fragte sie vorsichtig. Der Wassermann schüttelte nur traurig den Kopf. „Ich weiß nicht wie.“
„Vielleicht will er ja mit jemanden anderen reden. Was ist mit Anemones Eltern?“ Anemone war ein kleine Wassermädchen, was zur Guppys Altersklasse gehörte. Sie waren alle zusammen ausgezogen. Guppy war häufig in ihrem Haus am andere Ende des Sees gewesen, hatte da oft mehrere Tage verbracht. Besonders nach dem Tod seiner Mutter hatte Anemones Mutter sich seiner angenommen. Sie hatten ein sehr enges Verhältnis.
„Das hilft vielleicht.“ Der Wassermann war für jeden Rat dankbar. Eilig schwamm er an die Oberfläche und bat ein Blesshuhn, mal eben an die andere Seite des Sees zu fliegen und Anemones Eltern zu holen. Denn der See war zu groß, als dass der Wassermann mit seinen kleinen Beinen ihn schnell hätte durchschwimmen können.
Und tatsächlich, als Anemones Eltern kamen, einen Tag später, sprang Guppy wie ausgewechselt aus dem Bett. Er scherzte mit ihnen. Erzählte von Anemones Abenteuern- jedenfalls denen, die er mitgekriegt hatte. Die Gruppe junger Wassermenschen hatte sich irgendwann aufgeteilt. Aber er erwähnte nicht, warum er eher zurück gekommen war. Oder überhaupt. Schließlich verabschiedeten sich Anemones Eltern. Guppy winkte Ihnen noch enthusiastisch nach.
Der Wassermann stand neben ihn. Er war total verwundert, über die Verwandlung seines Sohnes. Aber auch sehr glücklich. Vielleicht würde er ja jetzt erfahren, was los war.
Er drehte sich zu seinen Sohn um, um diesen ein lobendes Wort zu sagen. Aber er stockte. Sein Sohn, sein lieber Guppy, der vor wenigen Minuten noch lustig gelacht hatte, schwebte kreidebleich, zusammengekrümmt über den Boden des Sees. Er hatte eine Faust in den Mund gesteckt und wimmerte leise.
„Guppy? Was zum verdreckten Kehrwasser...“ Entsetzt ließ sich der Wassermann neben seinen Sohn nieder und zog ihn in seine Arme. Er wünschte, seine Frau würde noch leben. Die wüsste doch bestimmt, was zu tun wäre.
„Ich konnte es ihnen nicht sagen.“ wimmerte Guppy. „Ich habe es doch versprochen.“
Hilflos strich der Wassermann über die algigen Haare seines Sohnes. „Versprochen, was meinst du?“
„Anemone ist tot.“ flüsterte der Junge leise. „Wir wurden von den anderen getrennt. Ein Hai hat uns gejagt. Wir konnten ihm entkommen, aber sie war zu sehr verwundet.“ Er schluchzte. „Ich konnte sie nicht beschützen.“
„Shht.“ Geschockt streichelte der Wassermann die Haare seines Sohnes weiter. Mechanisch. Ein Hai. Einer der wenigen natürlichen Fressfeinde ihrer Art.
„Das ist nicht deine Schuld.“
„Doch.“ heulte sein Sohn. „ich war da. Sie hat den Hai zuerst gesehen, aber ich habe ihr nicht geglaubt. Ich dachte, die anderen lachen, wenn wir sagen, wir hätten einen Hai in der Ostsee bemerkt. Hätte ich ihr geglaubt, wäre sie noch am Leben.“
Beruhigend flüstere der Wassermann unsinnige Worte in das Ohr seines Kindes. „Warum hast du ihren Eltern nichts gesagt?“
„Weil sie das nicht wollte. Sie sollten nicht um sie trauern, sondern denken, sie erkundet die See. Das sie irgendwo glücklich ist.“ Der Junge weinte bitterlich. „Ich habe es versprochen. Aber es ist so schwer.“
Dumpf hielt der Wassermann seinen Sohn weiter in den Haaren. Kein Wunder, dass der Junge zurückgekehrt war. Es war ein alter Spruch seines Volkes, der sich auf die Wanderzeit ihrer Kinder bezog.
Nur der Tod nimmt das Fernweh.
Sein Sohn hatte kein Bedürfnis mehr erwachsen zu werden. Durch den Tod Anemones war es schon längst.