Preisschild.
Volle Läden. Menschen, die sich drängeln. Irgendwo Weihnachtsmusik. Ein sureales Erlebnis. Nur wenige mit Masken. Ich scheine die einzige zu sein, obwohl ich weiß, dass ich damit mein makeup (und in Folge auch die Maske) ruiniere. Aber ich ging immer auf Nummer sicher. Zu groß war meine Paranoia vor dem Virus. Zwei Jahre hatte es mich verschont. Zwei Jahre, wo ich gebettet hatte, dass dieser Kelch an mir verüber ging. Wo ich Lieferdienste angefleht hatte, bis zu mir aufs Dorf hinaus zu fahren. Wo meine Freunde irgendwann keine Lust mehr hatten, für mich einzukaufen. Ausser einer. Einer einzelnen Freundin die mir mehr wert war wie Gold. Sandra. Jede Woche kam sie, brachte mir Essen und Drogerieartikel. Leistete mir Gesellschaft. Tröstete mich, wenn es mir schlecht ging. All die Jahre konnte ich mich nicht revanchieren. Denn ich war zum Einsiedler geworden, zu einem Eremiten, der sich in seiner Höhle verbarrikadierte vor Furcht, was draussen war. Aber nicht heute. Weihnachten stand bevor und ich wollte endlich, endlich, mich bei ihr bedanken. Ich wusste, dass das Outlet, was sie so liebte, nach der Hochwasserkatastrope in Bad Münstereifel wieder aufgebaut worden war. Sie liebte die Schokolade aus diesem Laden. Diese war normalerweise für mich zu teuer. Aber da das Outlet wieder auf hatte, hatte ich mich aus den Tiefen der Eifel hierher gekämpft, um ihr einen Adventskalender zu holen. Diese Teile von dieser Marke waren nicht billig. Meine kleine Frührente, die ich schon seitdem ich zweiundzwanzig war bezog, erlaubte es mir normalerweise nicht. Aber heute. Heute.
Und es sollte kein kleiner Kalender sein. Der größte. Sie sollte sehen, wie sehr ich sie schätzte.
Und ich sah ihn, den idealen Adventskalender. Groß. Fast einen Meter. Er stellte ein Gebäude dar und ähnelte dem Empire Statebuilding. Da waren wir mal vor der Pandemie. Meine letzte Reise seitdem. Wahrscheinlich die letzte überhaupt, wenn ich hier die hustenden und keuchenden Menschen sah, die dichtgedrängt aneinender standen. Sich vor dem Kalender drängelten. Denn der war direkt neben der Kasse.
Entschuldigungen murmelnd schob ich mich langsam nach vorne. Es war schwer, denn ich zog meinen beladenen Einkaufkorb hinter mir her. Nur langsam wichen die Leute mir aus. Paar erst nach Blick in meinen Korb.
Endlich stand ich schweratmend an der Kasse. „Entschuldigung.“ Ich griff an einer Frau vorbei. „Ich hätte gerne diesen Kalender.“ Automatisch reichte mir die Verkäuferin die Pappkonstruktion. Aber meine Brille war durch die Maske beschlagen und ich konnte das Preisschild nicht lesen.
„Entschuldigung, wie teuer ist der?“ Eine Kundin neben mir wollte auffahren. Sie war besonders breit und schwitzte und ich verbog mich geradezu, um nicht in Kontakt zu ihr zu kommen. Ich hoffte, meine Maske hielt.
Aber die Verkäuferin lächelte mich nur an und sagte: „21,99 EUR“ Das war viel. Aber es war der Traumkalender für Sandra, das Nonplusultra, mit dem ich mich für ihre Freundschaft bedanken konnte. Also nickte ich zögernd, und zog das Geld aus meiner Tasche. Das war viel. 10 Eur davon waren dann von meinen Essensgeld für die nächste Woche. Es war aber nicht schlimm, im Studium hatte ich eine Zeitlang auch nur von Nudeln und Tomatensosse gelebt.
Bevor ich das Geld auf den Teller an der Kasse legen konnte, stoppte mich die Frau. „Aber wir haben noch einen kleinen Outletrabatt, der zusätzlich drauf kommt. Das wären dann 11,99 EUR.“
Das war wenig! Immer noch zwei Euro mehr als geplant, aber das konnte ich handeln. Glücklich bezahlte ich den Kalender und machte mich auf zu Tür. Zu weiteren dichtgedrängte Menschenmassen.
Meine Brust schnürrte sich zu beim Gedanken, da durch zu gehen. Aber bevor ich mich ins Gewimmel stürzen konnte, legte sich eine Hand auf meine Schulter.
Jene schwitzende breite Kundin stand hinter mir. „Lass mich mal Kleines.“ Sie stellte sich resolut vor mich auf und wie Moses das Wasser teilte sie mit ihrer Körpermasse die Menge vor mir. Ein paar Leute wollten auffahren, aber sie wies sie mit einer resoluten Handbewegung ab und wies nur auf meinen Einkaufskorb. Als ich schwer atmend draussen war, hob sie den Sauerstofftank, der mit der Sauerstoffmaske unter meiner Nase (und unter der Maske) verbunden war, aus dem Korb.
„Lunge kaputt?“ fragte sie mitfühlend. Ich hustete. Der Schleim sass wieder fest in meiner Brust. „Ja.“ sagte ich keuchend. „Vielen Dank für Ihre Hilfe.“ Sie winkte ab. „Ich bin Krankenschwester. Hab mein Praktikum auf der Lungenstation gemacht. Krebs?“ fragte sie mitfühlend. „Nein, Muko*.“ Ich keuchte wieder.
„Wieso tust du dir dann das da an? Du könntest dir den Tod holen!“ Sie wirkte echt um mich besorgt. „Das ist für eine Freundin.“ Ich wies auf den Kalender. „Ah.“ Sie nickte. „Ich verstehe. Ist das dein Fahrdienst?“ Sie verwies auf den wartenden Wagen des DRK. „Ja.“
„Dann komm gut nach Hause und pass auf dich auf.“ Sie sprach nicht aus, was wir beide wussten. Ohne eine Transplantation hätte ich wenig Chancen das näcshte Weihnachtsfest zu erleben. Aber ich wusste, dass ich es schaffen würde. Eine Lunge wartete direkt an der nächsten Ecke auf mich, ich konnte es fühlen. Und bis dahin hätte ich Sandra, die einzige meiner Freunde, die noch zu mir kam und mir Gesellschaft bot. An so eine Freunschaft konnte man kein Preisschild stecken.
*Mukoviszidose