Die Strandkörner bewegten sich angenehm zwischen meinen Zehen. Ich grub meine Füße tiefer in den nassen Sand und schaute hinaus auf die Brandung. Die untergehende Sonne färbte die Wellen und den Himmel rot und mir war, als ob ich auf einen See aus geschmolzenen Feuer hinaus blickte.
Schwermut lag auf meinen Herzen und ich spielte traurig mit dem Anhänger um meinen Hals. Heute war der letzte Tag des Sommers, morgen war Herbstanfang. Trotzdem war es hier noch ziemlich warm und ich konnte in meinem dünnen Kleid am Strand stehen.
Vor sechs Monaten war ich genau an der gleichen Stelle, nur etwas weiter die Dünen hoch. Nina saß neben mir und wühlte müßig mit den Händen im Sand. „Ich bin froh, dass du mitgekommen bist.“ sagte sie. „Ich hätte sonst keinen gehabt, der mit mir gefahren wäre.“ „Zwei Wochen bezahlten Urlaub auf Lanzarote?“ ich sah sie ungläubig an. „Deine anderen Freunde sind Dummköpfe. Sie wissen nicht, was sie die letzten 14 Tage verpasst haben.“
Ihr Lächeln war traurig. „Ja.“ Sagte sie schließlich. Sie sah wieder aufs Meer hinaus.
„Ich dachte nicht, dass ich noch mal sowas sehen würde.“ sagte sie schließlich.
„Natürlich würdest du das. Wenn wir nächstes Jahr unseren Roadtrip durch Florida machen, wirst du jeden Abend solche Sonnenuntergänge sehen.“ Wenn ich das Geld dafür zusammenkriegen würde. Bei den Gedanken an die Kosten wurde mir ganz schlecht im Magen. Ich war eine Studentin. Es würde schwer werden, die mehrere tausende von Euro zusammen zu kriegen. Mittlerweile hasste ich mich schon dafür, dass ich diesen Roadtrip versprochen hatte. So eine Verschwendung von Geld- meine bisherigen abroad Trips in die USA hatten mir eigentlich gereicht. Geistig spielte ich schon mit dem Gedanken, wie ich die Fahrt absagen konnte.
„Meinst du, wir machen das wirklich?“ fragte sie sehnsüchtig.
„Ja.“ sagte ich, obwohl eine Stimme in meinen Gehirn nur ‚Abbrechen, denk an die Kosten‘ schrie. Ihr ausgezehrtes Gesicht fing daraufhin fast an so sehr zu strahlen wie die untergehende Sonne.
„Aber dann übernachten wir nicht mehr in Hostels, wie letztes mal, sondern in Motels.“
„Ich schwöre.“ Und das war mir ernst. Egal wo ich das Geld herkriegen würde - keine schmutzigen Hostels mehr.
„Und ich würde gerne die Keys sehen. Und mit diesem Boot durch die Sümpfe fahren, die Everglades. Du weißt doch, das gleiche wie im Inrto von CSI Miami.“ Sagte sie leise.
„Ja, definitiv.“ Auch wenn mir gerade der Name nicht einfiel. „Aber du fährst dann da Auto- du weißt ja wie ängstlich ich bin.“
Sie winkte ab. „Kein Problem. Die Amis haben noch nie eine Sizilianerin am Steuer erlebt.“
„Nein, haben sie nicht.“ Ich unterdrückte ein Lachen. Am Steuer war sie echt angsteinflößend. Seitdem ich sie mal Autofahren erlebt habe, unterschätzte ich kleine italienische freuen am Steuer nie mehr.
„Weißt du noch, früher in der Schulzeit?“ sie lehnte sich in dem Sand zurück. „Wo du mich immer mit deinen Auto abgeholt hast? Und immer zu spät kamst?“
„Meine Scheiben waren von innen zugefroren.“ Ich lachte.
„Das Problem werden wir in Florida nicht haben.“ Sagte sie zufrieden. Ihre Augen schweiften in die Ferne. „Und kein Freund kann mich von dieser Reise abhalten.“ Ihr Gesicht nahm einen entschiedenen Ausdruck an.
„Nein.“ Wir beide dachten an unseren letzten Backpackingtrip nach NYC zurück. Der war eigentlich eine Flucht vor ihrem letzten Ex gewesen, der ihr dann die Reise eigentlich verbieten wollte. Ihre Eltern waren auch nicht begeistert. Aber sie hatte ihre Medikamente eingepackt, ihren Inhalator genommen und innerhalb von zwei Tagen den Flug gebucht und mit mir nach Amerika abgehauen.
Das irgendwo bei der Gepäckkontrolle ihre Medikamente aus dem Koffer geklaut wurden hatten sie ebenso wenig abgehalten, wie das wir keinen Arzt in NYC gefunden haben, der uns Ersatz ausstellen wollte. Sie hatte sich irgendwie die paar Tage durchgebissen. Hinterher hatte sie eine Lungenentzündung und musste wieder ins Krankenhaus. Aber erstaunlicherweise war sie von dem Trip so begeistert, dass sie mich zu Florida überredet hatte. Später verstand ich erst den unheimlichen Willen zu leben, der in ihr innegewohnt haben musste.
Ein Glockengeläut in der Ferne lenkte mich ab. „Das Essen ist wohl fertig.“ Ich reichte ihr die Hand und zog ihren zerbrechlichen Körper hoch. Sie klopfte den Sand ab und griff den kleinen Sauerstofftank der mit einem Schlauch mit ihrer Nase verbunden war.
„Ich bin dafür, wir schwänzen das essen und gehen im Dorf essen.“ „Die Ärzte in der Reha werden einen Herzinfarkt kriegen“ sagte ich zweifelnd. Und ja, ich dachte auch wieder an das Geld, was mich ein Essen im Dorf kosten würde.
„Du hast recht.“ Langsam, an ihre kurzen Schritte angepasst, gingen wir durch die Dünen zurück zur Rehaklinik.
Einen Monat später klingelte mein Handy nonstop, als sie mir freudestrahlend von der neuen Lunge erzählte, die ihr bald eingesetzt werden würde. Drei Monate später klingelte das Handy erneut. Nur einmal. Eine SMS von ihrer Mutter. „Nina hat uns heute Nacht verlassen.“ Ihr Körper hatte angefangen, dass Transplantat abzustoßen. Sie wachte aus dem Koma nicht mehr auf. Mit ihr waren im gleichen Jahr sieben andere an dieser Klinik transplantiert worden. Sie war die sechste, die in Folge starb. Dabei hatten wir alle so gehofft, dass sie, als sturste und stärkste der sieben, es schaffen würde. Es ist erstaunlich, wie wenig mir plötzlich mein Geld wert war. Ich fühlte mich wie ein egoistischer Versager, der einer sterbenden Freundin den letzten Spaß verdorben hatte, nur weil sie sparen wollte. Das erste was ich tat, als ich wieder durch den Schmerz atmen konnte, war einen Flieger nach lanzarote zu buchen, um an den Strand zu gehen, wo wir das letzte Mal als Freundinnen zusammen saßen. Im Arm hielt ich einen kleinen Krug Asche. Nicht ihre, das war in Deutschland nicht möglich. Aber ihre Mutter hatte mir erlaubt einige Sachen aus ihrer Wohnung zu nehmen. Ich nahm ihre Lieblingsanziehsachen und Plüschtiere mit und verbrannte sie in meinen Garten. Jetzt verstreute ich die Asche im Meer. Ich kam mir komisch vor, als ob ich überreagieren würde. Ich konnte auch nicht in dem Dorf hier übernachten, sondern flog direkt in ein paar Stunden wieder zurück. Aber das war mir irgendwie richtig. Eine Geste am Ende des Sommers an dem Ort, wo sie ein letztes Mal das Meer gesehen hatte. Flüchtig kam mir der Gedanke, ob Florida nicht eine bessere Wahl gewesen wäre. Aber das war mir dann doch zu teuer.