- Start: 06.11.2020 - 18:54 Uhr
- Ende: 06.11.2020 - 19:27 Uhr
Das kleine Engelskind an der Hand harrte Lonnie in der Gasse aus. Dann, als die Kutsche auf der Hauptstraße um eine Ecke gebogen war, huschte er über die Straße auf das düstere Gebäude zu.
"Was ist das?", piepste die kleine Marina.
"Die Bibliothek der Namen", antwortete Lonnie im Flüsterton. "Jetzt müssen wir ganz leise sein, okay?"
Marina nickte mit großen Augen und klammerte sich fester an Lonnies Hand.
Lonnie schob sich in eine Seitengasse, an der Wand der düsteren Bibliothek entlang, bis er zu einer Tür kam. Leise zog er, doch sie rührte sich nicht.
"Abgeschlossen. Scheiße."
"Scheiße?", wiederholte Marina.
"Merk dir das Wort auf keinen Fall!", drohte Lonnie dem Kind. Dann sah er an der dunklen Fassade hinauf.
Oben war ein Fenster auf Kipp.
"Also gut", murmelte er und kniete sich zu Marina. "Onkel Lonnie muss mal kurz darauf. Du setzt dich hier hin und bewegst dich nicht. Okay?"
Marina verzog das Gesicht. "Das stinkt."
"Das sind Mülltonnen, natürlich stinken die." Lonnie seufzte. "Ich weiß, dass das nicht toll ist, aber du musst dich verstecken." Er wies zur Hauptstraße. "Wenn da ein böser Mann kommt, darf der dich nicht sehen."
"Ich dachte, wir wären jetzt sicher!" Eine Träne stahl sich über Marinas Wange. "Du hast gesagt, wenn wir hier sind ..."
Lonnie kniete sich neben sie. "Ich bringe dich zu deiner Mama, versprochen. Aber dafür muss ich in die Bibliothek. Ich bin gleich wieder da."
Marina nickte und wischte sich die Augen. Tapfer verkroch sie sich zwischen den Mülleimern und Lonnie begann, an der steinernen Fassade hinaufzuklettern. Zum Glück gab es vorspringende Halbsäulen in Gestalt versetzter Backsteine, sodass der Aufstieg nicht besonders schwer war. Schwieriger war es, obwohl es im Grunde nur Überwindung kostete, den Dornenschwanz durch das Fenster zu schieben und dieses dann zu schließen. Lonnie zischte vor Schmerz, bevor er den Griff umgelegt bekam und das Fenster aufschwang.
Er warf einen Blick nach unten. Marina wartete noch hinter den großen Müllcontainern.
Dann schwang er sich durch das Fenster und huschte durch die Regalreihen.
Es dauerte nicht lange, bis er wieder bei dem Regal mit dem Eintrag zu dem Engel Sonja war.
Es schien eine Ewigkeit her, dass sein Abenteuer hier begonnen hatte. Hätten ihn die Minotauren hier nicht erwischt - wäre dann alles anders gekommen?
Er durchwühlte die Bücher und stockte.
Das Buch für Sonja war weg!
Schlimmer noch, es gab keine Lücke im Regal. Ihr Buch war nicht einfach fort, es war verschwunden.
Nicht existent.
Ausgelöscht.
Lonnies Atem stockte. Mythika hatte Sonjas Buch aus der Realität entfernt.
Die Hände des Privatdetektivs zitterten. Es war, als hätte es die himmlische Enthüllungsjournalistin niemals gegeben. Sie war spurlos fort.
Panisch rannte er weiter. Conny lebte doch noch, Sonjas Frau. Doch auch zu ihr fand er keinen Eintrag. Noch zu Marina.
"Verdammt. Verdammt, verdammt, verdammt."
Mythika waren gründlich gewesen. Falls Conny noch lebte, schwebte sie in furchtbarer Gefahr. Und Lonnie konnte sie nicht warnen. Marina hatte er vor der Opferung retten können, aber sehr lange würde er sie nicht beschützen können. Schon jetzt hatte sie so viel Tod und Schrecken gesehen, dass ihre kleine Seele vielleicht niemals heilen würde.
Er rannte zurück zum Fenster und kletterte hinaus. Gleich darauf überlief es ihn kalt.
Marina war nicht länger in ihrem Versteck.
"Marina? Marina, wo bist du?", rief Lonnie und rannte zur Hauptstraße.
Hatten die Mythika das kleine Mädchen erwischt? Würden sie sie wirklich töten, nur weil ihre Mutter Babylon entdeckt hatte?
Die Antwort in beiden Fällen lautete vermutlich 'ja'.
Lonnie hätte fluchen können. Es gab nur eine Möglichkeit: Er musste den ganzen Weg zurück zur Grube, wo sie nur knapp einer Bombe und dann schrecklichen Aasfressern entkommen waren.
Er lief auf die Straße. "Marina? Marina, ich komme!"
"He, Dummerchen, wir sind doch hier!"
Lonnie hielt inne. Ein Kichern erklang über ihm.
Langsam hob er den Kopf. "Wir?"
Die kleine Marina schwebte durch die Luft, offenbar von unsichtbaren Armen getragen. Langsam glitt sie zu Lonnie herunter.
"Sag ihm das doch selbst!", sagte das Mädchen patzig zu einem unsichtbaren Wesen.
"Marina ...?", versuchte Lonnie es sachte.
"Oooohh, wirklich?" Marina machte große Augen. Dann sah sie Lonnie an. "Du kannst Mama echt nicht sehen?"
Mama. Lonnies Herz krampfte sich zusammen. Er konnte nichts sagen, nur den Kopf schütteln.
"Na, sie sagt jedenfalls danke, dass du mir hilfst!", plapperte Marina sorglos weiter.
"Sonja?", fragte Lonnie in die Luft.
"Natürlich", quiekte Marina und kicherte.
Mit einem Mal war der Privatdetektiv wieder im Tunnel und floh, während hinter ihm das zornige Gebrüll der Wachen davon kündete, dass der Engel sich in den Tod gestürzt hatte.
Marina neigte sich in der Luft.
"Mama sagt, sie muss jetzt gehen", erklärte das Kind.
Lonnie nahm den kleinen Engel aus der Luft entgegen.
"Ich werde sie beschützen", versprach er leise, doch er meinte es absolut ernst. "Ich passe auf sie auf."
"Sie ist doch schon weg!", piepste Marina. "Aber du hast mich wirklich zu Mama gebracht!"
"Ja", murmelte Lonnie abgelenkt. "Und jetzt bringen wir dich zu deiner anderen Mama."
Wo auch immer er da anfangen sollte, zu suchen ...