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- Start: 01.09.2019 - 18:00 Uhr
- Ende: 01.09.2019 - 18:28 Uhr
Er strich dem blonden Mädchen über das Haar. "Lass' uns ein Spiel spielen."
Mit ihren großen, unglaublich klaren, blauen Augen sah sie zu ihm auf. Diese Augen. Wie Teiche im Sonnenlicht, Spiegel aus reinster Unschuld. Engelsaugen.
Er riss sich zusammen. Die Mission durfte er nicht vergessen.
"Ein Spiel?", piepste das Kind. Ihr Blick wurde getrübt durch Unsicherheit. Angst.
"Ja, meine Kleine. Ein ganz einfaches Spiel, ja?"
Sie sah zu ihm auf. Ihr Atem ging schnell und flach. Sie schluckte. Ihre kleine Hand umfasste seine Finger, klammerte sich fest. Dann nickte sie. Mit einem Gesichtsausdruck wie jemand, der den Weg zum Galgen antritt.
Er drückte das kleine Mädchen an sich, um ihr Trost zu spenden. "Gut. Wir spielen 'Ich sehe was, was du nicht siehst.' Ich fange an. Bereit?"
Sie drückte sich mit dem ganzen Körper gegen sein Bein und nickte. Das Gesicht vergrub sie in seiner Jacke.
"Ich sehe was, was du nicht siehst, und das ist ... gelb."
Er wartete. Nach einer Weile senkte er den Blick. "Wenn wir spielen wollen, musst du dich auch umgucken und suchen!"
Sie sah zu ihm auf. Tränen schimmerten in ihren Augen. Sie presste die Lippen aufeinander, schüttelte den Kopf und schlug den Kopf wieder gegen seine Hüfte.
Er löste sie sanft von sich. Das Mädchen schrie und zappelte.
"Hey, es wird alles gut. Ich verspreche es dir. Willst du wirklich nicht suchen?"
Sie schüttelte den Kopf noch heftiger. Er kniete jetzt vor ihr.
"Wie heißt du?"
Ein unverständliches Murmeln. Hatte sie überhaupt geantwortet? Es war ihm egal. Er schloss die Augen und streckte die Gedankenfühler aus. Grub zwischen dem Entsetzen in ihrem kleinen, erschütterten Geist, bis er fündig wurde.
"Marina?"
Das Kind blickte auf. Geschockt.
"Es wird alles gut, Marina. Ich verspreche es dir. Du musst mir vertrauen, ja? Tu mir den Gefallen und such für mich etwas Gelbes, ja?"
Marina schluckte. Dann straffte sie die kleinen Schultern. Mutig wandte sie den Blick von seinem Gesicht ab und sah sich um. Mehrmals sah er sie zusammenzucken. Doch er hielt den Blick auf ihre Augen gerichtet, und die Hände auf ihren Schultern. Er wollte ihr alle Kraft geben, die er übrig hatte. Viel war es nicht mehr.
"Gelb", flüsterte er ihr zu. "Etwas gelbes."
Endlich hob sie die Lider. Ihre Augen erstrahlten. "Das Licht! Die Sonne!"
"Ja, richtig!" Er zog das Kind überglücklich an sich, drückte sie an seine Brust. Vor Freude traten ihm Tränen in die Augen.
Nein, es war zu früh, sich zu freuen. Ein leises, konstantes Zischen sagte ihm, dass ihnen die Zeit davonlief.
"Jetzt bist du dran. Was siehst du?"
"Ich ... ich ... ich sehe was, was du nicht siehst ... und das ist rot!"
"Pscht." Er drückte das nun heftig schluchzende Kind an sich. "Alles gut. Ich weiß. Ich weiß es."
Sie drückte sich an ihn. Er spürte ihre Tränen durch den Stoff der Jacke.
"Ich bin wieder dran, ja?", fragte er behutsam.
Marina nickte tapfer.
"Also gut ..." Er überlegte. Für einen Moment war er versucht, wieder ihren Geist zu berühren, doch sie würde es fühlen. Und selbst, wenn sie es nicht spürte, würde es Einfluss auf sie haben.
Hätte er doch im Schrein besser aufgepasst!
"Ich sehe was, was du nicht siehst ... und das ist ... transparent?", riet er.
"Trans ... was?"
"Transparent. Durchsichtig. Ähm ... wie ... wie Glas vielleicht. Buntes Glas."
Marina sah ihn stirnrunzelnd an. Für einen Moment wirkte sie, als wolle sie ihn belehren. Dann erhaschten ihre Augen eine Bewegung hinter ihm. Selbstvergessen kicherte sie. "Der Elefant!"
"Ein Elefant?", fragte er.
"Ja, der lustige, geringelte Elefant!" Sie deutete mit dem kleinen Zeigefinger. Er umschloss schnell ihre Hand und zog den Arm nach unten. Als er sich umdrehte, war nichts hinter ihm. Marina aber lachte wieder. "Er macht Kunststücke!"
Vor Erleichterung hätte er jubeln können. Stattdessen beugte er sich zu dem Kind. "Kannst du zu ihm gehen?"
Sie sah ihn verwirrt an, dann tapste sie barfuß vorwärts, bis sie stehen blieb. Sie streckte die Hand aus und tätschelte die Luft. Wieder lachte sie, glockenhell. Die kleinen Stummelflügel auf ihrem Rücken flatterten aufgeregt.
Dann machte sie: "Uuups! Hey!" und lachte weiter. Er konnte erstaunt beobachten, wie das kleine Mädchen im weißen Kleid in die Luft gehoben wurde. Dann blieb sie scheinbar im Nichts sitzen.
Es musste ein recht kleiner Elefant sein, denn das Engelskind schwebte kaum anderthalb Meter über dem Boden. Vielleicht war es auch ein anderes Geisterwesen, das nur entfernt Ähnlichkeit mit einem Elefanten hatte. Kinder waren da manchmal etwas freizügig mit den Begriffen.
Er lächelte trotzdem. "Marina? Ich sehe was, was du nicht siehst. Und es liegt oben, im Sonnenlicht. Es ist hellbraun und sehr, sehr lang. Glaubst du, du kannst es finden?"
Sie verschränkte die Arme und schmollte. "Ich bin aber dran!"
"Du darfst dafür zweimal, okay? Wenn du meines gefunden hast. Oder ..." Er atmete tief durch. Er wollte das jetzt nicht machen! Aber Marina guckte so böse, und er musste sie schnell überzeugen. "Oder siehst du hier unten etwas, das du mich unbedingt abfragen willst?"
Sie sah sich um. Zuckte zusammen. Ihre Unterlippe bebte.
"Oben. Sehr lang", wiederholte er. "Na, findest du es?"
Sie war ein Naturtalent. Plötzlich schwebte sie hoch, als das Geisterwesen sie trug. Immer höher, dem kleinen Loch in der Höhlendecke entgegen, durch das Licht in die gewaltige Höhle fiel. Auf die Leichenteile. Auf den See aus Blut. Bis zu den Knien sank er ein, als er zu einem aus dem Wasser ragenden Felsen nah unter dem Loch watete. Seine Schritte hallten in der Höhle wieder. Das Zischen des einströmenden Gases wurde lauter.
"Das Seil!" Dumpf erklang Marinas Stimme.
"Ja, sehr gut!" Seine eigene Stimme hallte rau und verloren wider. "Der Elefant soll ein Ende festhalten. Wirf das andere herunter."
Er wartete. Er hielt die Luft an. Das Gas konnte er bereits schmecken, seine Sicht verschwamm.
Dann fiel das Ende des Seils nach unten. Er packte es, und mit seinen kräftigen Krallen an Händen und Füßen hangelte er sich hinauf. Sein Rücken schmerzte, wo man ihm die ledernen, roten Schwingen abgeschnitten hatte. Sie fehlten ihm, denn er war es nicht gewohnt, ohne sie das Gleichgewicht zu halten. Kurz vor dem Ausgang bekam er keine Luft mehr. Seine Hände verloren den Halt am Seil. Er rutschte ab, fiel - mit den Widerhaken am Schwanz konnte er sich festhalten und baumelte nun kopfüber über der Hölle. Sein Blick verschwamm. Er hörte Schreie, hörte ihre Stimme rufen, um Hilfe flehen ... Jessica. Tränen füllten seine Augen und Blut lief in seinen Kopf. Jessica!
Ein spitzer Schrei von Marina holte ihn zurück ins Jetzt.
"Geht es dir gut?" Panik schwang in der Stimme der Waise mit. Er drehte sich mühsam, fand Halt am Seil, kämpfte sich hinauf. Oben blieb er keuchend auf dem Rücken liegen.
"Ich dachte, du wärst auch tot!" Marina warf sich auf seinen Bauch.
"Nein ... keine Angst ... ich war nur ... müde." Er legte einen Arm um das zarte Mädchen. "Ich hab doch ... gesagt, ... alles wird gut. ... Ich passe ... auf dich auf."
Marina setzte sich auf. "Du bist aber kein Engel! Nur Engel passen auf."
"Teufel auch ... manchmal." Er stützte sich auf die Ellbogen. Ob der Geisterelefant noch hier war?
"Du bist dran", ermutigte er das Kind. Das Spiel würde sie hoffentlich von dem Trauma ablenken.
"Ich sehe was, was du nicht siehst ... und das ist Pink!"
Er ließ den Blick über die Umgebung schweifen. Blumen. Bäume. Ein Bachlauf. Schöneres hatte er nie gesehen. Doch es war eine trostlose Ödnis, keine Siedlung im Umkreis vieler tausend Meilen. Eine tödliche Reise lag vor ihnen.
Später. Für's Erste waren sie den Sirenen entkommen.
"Die Blume da hinten."
"Faaalsch!" Marina kicherte.
Und da traf es den Privatdetektiv wie ein Vorschlaghammer: Es war keine gute Idee, 'Ich sehe was, was du nicht siehst' mit einem Kind zu spielen, das die siebenfache Menge an Astralebenen sehen konnte!