- Start: 10.11.2021 - 20:14 Uhr
- Ende: 10.11.2021 - 20:34 Uhr
Irgendwann war Marina auf Lonnies Arm eingeschlafen. Er trug sie schon eine ganze Weile durch die Wildnis am Rand der Hölle, als er bemerkte, dass sie leise schnarchte. Ihre Flügel hingen schlaff herunter, doch eine Hand umklammerte noch immer das Band seiner Krawatte nah am Hals.
Er blieb einen Moment stehen, um sie wieder hochzuziehen, und atmete tief durch. Wie war er nur hier gelandet? Die schlafende Tochter zweier Engel auf dem Arm, verfolgt von wahnsinnigen Mitgliedern eines Kults, über den er wenig mehr wusste als dass er existierte.
Er setzte sich wieder in Bewegung, denn es war kalt. Als das Dörfchen und schließlich seine kleine Hütte in Sicht kamen, beschleunigte er ein letztes Mal. Drinnen würde es warm sein, oder jedenfalls konnte er den Ofen befeuern und Decken holen. Sich hinsetzen. Etwas essen. Zwei ganze Tage war er jetzt herumgerannt. Er war verprügelt und verschleppt worden, hatte klettern müssen und gemeinsam mit Marina eine weite Ebene überqueren müssen.
Er freute sich so sehr auf eine Pause, dass er die offene Tür erst bemerkte, als er bereits davorstand.
Wieso war seine Tür offen? Er schloss immer ab.
Vorsichtig trat Lonnie ein. Er hörte keine verdächtigen Geräusche. Ein Blick ins Innere zeigte ihm jedoch, dass jemand hier gewesen war. Seine Schränke waren durchwühlt. Der Aktenschrank mit den Aufzeichnungen früherer Fälle aufgebrochen. Kleidung und Dokumente verteilten sich auf dem Fußboden.
Lonnie suchte alle Zimmer ab, bevor Marinas Finger vorsichtig von seiner Krawatte löste und sie auf das Bett legte. Sie fröstelte leise im Schlaf. Lonnie zog eine Decke über sie, doch ein Feuer wollte er nicht entzünden. Auch die Tür ließ er offen.
Er konnte nicht sicher sein, dass das Haus nicht beobachtet wurde.
Während er über das Chaos stieg, gab er sich Mühe, keine Spuren zu verwischen. Er erkannte Hufabdrücke auf dem Boden - Minotauren - und entdeckte im Vorgarten die tiefen Furchen von den Klauen der Sphinx. Auf den ersten Blick schien nichts zu fehlen. Seine Akten enthielten ja auch keine Informationen über die Mythika. Er war einfach in dieses Chaos hineingeschlittert.
Vielleicht hätte er in der Bibliothek nachsehen sollen, ob das Buch mit seinem Namen noch dort war. Die Mythika hatten eindeutig herausgefunden, in welchem Beichtstuhl Sonja um Hilfe gebeten hatte. Lonnie war den Mythika nur deshalb entkommen, weil er direkt zur Bibliothek gelaufen war.
Sie hatten nicht begriffen, dass er der Beichtvater war, der Sonja kannte. Vermutlich lebte er deswegen noch.
Aber das würde ihn nicht ewig schützen. Er musste hier weg. Und Marina ebenso.
Lonnie seufzte. Dann begann er, einen Beutel zu packen. Eine Decke kam hinein, Wasser, Zigaretten und etwas Brot und Trockenfleisch. Und Kekse, für Marina, obwohl dafür eigentlich gar kein Platz war. Er zog seinen Mantel über und setzte den Hut auf, und dann suchte er dicke Socken, die Marina als Ersatz für Schuhe dienen konnten. Er besaß keine Kleidung in ihrer Größe, aber ohne etwas um die Füßchen würde sie frieden. Einen Schal nahm er ebenfalls.
Als er ins Schlafzimmer trat, setzte sich das kleine Engelmädchen soeben verschlafen auf.
"Wo sind wir?"
"In einer verlassenen Hütte", sagte er. "Aber wir gehen jetzt weiter." Er kniete sich vor sie und band ihr den roten Schal um, dann streifte er ihr die Socken über.
"Ich will nicht mehr laufen."
Ich auch nicht, Kind. "Ich kann dich tragen."
Sie nickte, immer noch nicht begeistert. Dann musterte sie ihn. "Du hast einen neuen Hut!"
"Ja. Dort, wo wir hinwegen, sollte man meine Hörner nicht sehen."
Er setzte sie wieder auf seine Hüfte, schwang sich den Beutel über die freie Schulter und trat durch die Türöffnung.
In seiner Wohnung hatte nichts gefehlt. Ganz im Gegenteil. Er hatte den Geruch von Zigaretten wahrgenommen, dabei rauchte er nie im Haus.
Der Gestank lag noch wahrnehmbar in der Luft und Lonnie folgte ihm zum Waldrand. Auf dem Boden sah er erneut Hufabdrücke.
Er hatte die Spur der Mythika gefunden. Es wurde Zeit, dass er nicht nur auf ihre Angriffe reagierte, sondern selbst aktiv wurde. Und dazu würde er das tun, was er am besten konnte: Ermitteln.