- Start: 12.11.2021 - 23:52 Uhr
- Ende: 13.11.2021 - 00:17 Uhr
Das Geräusch einer Schrotflinte, die scharfgemacht wurde, ließ ihn erstarren. Ganz langsam richtete Lonnie sich auf.
"Hände dorthin, wo ich sie sehen kann", sagte eine weibliche Stimme hinter ihm.
"Das ist ... etwas schwierig", gab Lonnie zu. Er starrte geradeaus auf den Flur, der in dunkles Zwielicht gehüllt war. Wohin der unterirdische Gang führte, wusste er nicht. Er hatte die wenigen abzweigenden Höhlen, an denen er bisher vorbeigekommen war, auch eigentlich untersucht. Irgendwie musste er die Frau in seinem Rücken übersehen haben.
"Lass die Spielchen!"
"Ich spiele nicht", beteuerte er. "Ich habe ein Kind auf dem Arm."
Marina schlief, den Kopf gegen seine Schulter gelehnt. Lonnie legte die Hand schützend auf ihren blonden Kopf und nahm allen Mut zusammen, um sich ganz langsam umzudrehen.
"Hey!", sagte die Frau, und Lonnie hielt inne. "Ich sagte, keine Spielchen, Teufel!"
Lonnie spürte, wie Marinas Flügel zuckten. Verschlafen hob sie den Kopf. "Mama?"
"Marina?!", entfuhr es der Frau hinter Lonnie ungläubig. "Was hast du mit meiner Tochter hier zu suchen?"
"Mama!" Marina zappelte auf Lonnies Arm. Er setzte sie herunter und drehte sich nun doch um, während das Kind an ihm vorbei zu ihrer Mutter rannte.
"Du bist also Conny", sagte er möglichst freundlich zu der Engelsdame. Sie hatte kurze Haare und eine stämmige, fast männliche Figur. Ihre Flügel verdeckten ihm die Sicht auf den Gang hinter ihr. Ohne die Schrotflinte zu senken, streichelte sie über Marinas Kopf. Ihr Blick war misstrauisch, ihre Stimme liebevoll und sanft, als sie ihre Tochter ansprach: "Hey, mein Schatz! Wie geht es dir?"
"Prima! Lonnie hat mit mir gespielt!", erklärte das Kind glücklich. "Aber dann sind wir nur noch gewandert, das war öde."
"Wolltest du denn mit ihm gehen?"
Lonnie schwieg bewusst. Er konnte nur hoffen, dass Marina das richtige sagen würde.
"Er hat mich einfach mitgenommen!" Lonnie schloss die Augen. Verdammt! "Da waren ganz viele böse Menschen, einer hatte ein Messer. Dann kam Lonnie und hat mich mitgenommen. Aber die alte Frau hat uns einschlafen lassen und dann waren wir in dieser großen Höhle ..." Marina erschauderte bei der Erinnerung. "Aber Lonnie hat mit mir gespielt und wir sind rausgeklettert! Dann kam Mami vorbei und meinte, alles sei gut."
"Sonja? Ihr habt sie getroffen?", unterbrach Conny sie.
"Ja! Mami kann jetzt schweben."
Conny runzelte die Stirn.
"Es war ihr Geist", erklärte Lonnie leise. "Mein herzliches Beileid."
"Und dann wollte Onkel Lonnie mich in einem Kindergarten lassen, aber dann kamen so Kühe auf zwei Beinen und Hundis, und dann sind wir doch gewandert!", fasste Marina ihre Abenteuer zusammen.
Conny senkte zögerlich die Schrotflinte. "Du hast ihr geholfen. Danke, Teufel."
"Ich bin Lonnie Dorraine", stellte er sich vor. "Deine Frau hatte mich um Hilfe gebeten. Allerdings konnte sie mir nicht sehr viel verraten. Es geht wohl um irgendeinen Artikel und um die Mythika ...?"
"Dass du nichts weißt, wird dir auch nichts bringen", sagte Conny mit harter Stimme. "Sie werden dich jagen und töten."
"Mama!", schimpfte Marina und stampfte mit dem Füßchen auf. "Sag doch nicht so was! Das ist böse!"
"Tut mir leid, Schätzchen." Conny nahm ihr Kind auf den Arm. Dann sah sie Lonnie an. "Wie viel weißt du?"
"Ich habe gehört, dass sie offenbar Babylon wiederentdeckt haben", fasste Lonnie zusammen. "Und ich weiß inzwischen, dass die Mythika echt überall sind."
"Das kann man so sagen." Conny lachte trocken.
"Sie haben die Bibliothek der Namen überfallen und alle Dokumente von euch ausgelöscht." Lonnie seufzte.
"Wie hast du bis hierher überhaupt überlebt?"
"Ich bin Privatdetektiv." Er grinste schief. "Und ich hatte eine wunderbare Assistentin."
Marina strahlte ihn an.
Conny drückte das Mädchen, dann setzte sie sich in Bewegung, die Schrotflinte über der freien Schulter. Sie folgte dem Gang und Lonnie setzte sich an ihrer Seite.
"Nun, sie haben Babylon wirklich entdeckt. Das hier ist einer der Tunnel, der dorthin führt, und in das Hauptlager der Mythika. Du bist ihren Spuren gefolgt, nicht wahr?"
"Ja. Hast du uns etwa schon draußen beobachtet?"
"Mehr oder weniger", gab Conny zu. "Ich lag in der Nähe auf der Lauer, aber versteckt. Weder sehen noch gesehen werden, so nach dem Motto. Also habe ich zuerst nur deine Schritte gehört, und dann warst du auch schon im Tunnel."
"Verstehe. Und wenn es hier nach Babylon geht ... ist das dann verfluchtes Land?"
"Im Tunnel selbst noch nicht. Aber ja, auf Babylon liegt noch immer der göttliche Fluch. Er ist abgeschwächt durch die Jahrhunderte, aber er bringt immer noch Unglück und macht krank."
"Wieso haben die Mythika dann ihr Lager dort aufgeschlagen?"
"Sie haben einen Weg gefunden, den Flucht ... nun, nicht zu brechen, ihn zu übertragen."
"Das heißt?"
"Sie brauchen Opfer, denen sie den Fluch auferlegen können. Und sie haben meine Frau dafür ausgewählt, Sonja, weil sie dahintergekommen ist." Connys Stimme war hart. "Aber offenbar ist sie ihnen irgendwie entkommen oder auch nicht. Und Marina ebenfalls. Jetzt suchen sie jemand anderen für ihr Ritual."
Lonnie überlegte. "Es braucht ein Ritual, um den Fluch zu übertragen? Dann hat Sonja sich dem entzogen, als sie ..." Er zögerte. "Sie ... sie hat dafür gesorgt, dass es kein rituelles Opfer geben würde."
Und aus einem ganz ähnlichen Ritus hatte er Marina befreit, unter dem Blutmond, unter dem wohl eigentlich Sonja hatte sterben sollen.
Somit waren den Mythika gleich zwei Opfer entkommen. Dann war der Blutmond vorbeigewesen - das hatten die Minotauren gesagt, bevor sie ihn ins Loch geworfen hatten.
Nun ergab alles einen Sinn.
"Statt verfluchtet Erde wollen sie also verfluchtes Blut", murmelte er leise. "Das ist dunkle Magie, Conny. Gefährliche Magie."
"Ja. Aber selbst davor schrecken die Mythika nicht zurück." Sie lächelte schief. Marina spielte mit einer von Connys kurzen Locken.
"Wohin gehen wir, Mama?"
"Das frage ich mich allerdings auch", gab Lonnie zu. "Ich wollte dich finden. Wieso gehen wir auf die Gefahr zu?"
"Das konnte ich nicht sagen, ehe ihr mich fragtet", sagte Conny. Ein Lächeln lag auf ihrem Gesicht. "Der Bann hat es verhindert. Aber wir gehen heim."
"Das ist nicht Zuhause", sagte Marina, während ein eisiger Schauer über Lonnies Rücken kroch. Ein Bann? Das bedeutete ...
"Babylon ist jetzt unser Zuhause, Spätzchen. Bald wirst du auch spüren, wie es dich ruft."
"Mythika haben dich bereits erwischt!", erkannte Lonnie und griff nach Marina. "Conny, halt an! Wehr dich dagegen!"
"Aber wieso? Heute Nacht ist der Mond ebenfalls noch voll. Es ist nicht perfekt, aber es wird reichen."
"Conny, nein!" Er konnte sie nicht aufhalten. "Bitte, bleib stehen. Bitte!"
Ihr Lächeln war verträumt, entrückt. "Es ruft mich heim ... Marina ... kannst du es hören? Mein Blut zieht mich dorthin."
Hinter ihrem Lächeln, in den Augen, sah er die echte Conny stumm um Hilfe flehen. Lonnie hielt ihre Schultern mit aller Kraft fest, doch Conny ging trotzdem einfach weiter, fast, als wäre er nicht da, nur etwas ausgebremst.
"Hörst du das Lied unserer Heimat, Marina?"