- Start: 13.11.2021 - 00:28 Uhr
- Ende: 13.11.2021 - 00:52 Uhr
Mit aller Kraft stemmte sich Lonnie gegen Marinas Mutter, doch Conny marschierte stur weiter, schob ihn vor sich her, so als wäre er gar nicht da. Er ächzte. Marina sah ihn mit großen, angstvollen Augen an.
"He! Wer ist da?"
Langsam drehte Lonnie sich um. Die Stimme hatte rau geklungen, kehlig und nach einem breiten Maul, mit dem sich nicht gut artikulieren ließ.
Sein Verdacht täuschte ihn nicht. Am Ende des Ganges stand ein Minotaurus, eine Art Lanze im Anschlag, die sicherlich eine tödliche, magische Waffe war.
Conny ging einfach weiter, unbeirrt. "Ich bin heimgekommen", sagte sie wie im Traum.
Marina zappelte und versuchte, sich aus Connys Griff zu befreien. "Lass mich los! Mama! Du machst mir Angst!"
Lonnie blieben nur Sekunden, um zu entscheiden. Er machte zwei schnelle Schritte und ergriff Marina. "Hör endlich auf, dich zu wehren."
Fragend sah sie ihn an, während Lonnie und Conny ins Licht traten.
"Hallo!", grüßte Lonnie den Minotauren. "Ich bringe euch das Mädchen. Das wolltet ihr doch?"
"Lonnie ...", hauchte Marina mit brechender Stimme. "Aber ... was ...?" Das Engelskind war erstarrt. Tränen schimmerten in ihren Augen.
Der Minotaurus musterte Lonnie von Kopf bis Fuß. "Und wer bist du?"
"Lonnie Dorraine. Privatdetektiv." Er verneigte sich förmlich. Wenigstens war auch Conny stehengeblieben. "Und ein Bewunderer eurer Arbeit, von der ich leider erst kürzlich erfuhr."
"Bist du nicht der Kerl, der das Mädchen überhaupt erst gestohlen hat?", grunzte der Minotaurus. "Und aus der Grube bist du auch geflohen!"
"In der Tat, aber zu diesem Zeitpunkt wusste ich auch noch nichts über eure Arbeit. Ihr müsst verstehen, ich wurde entführt, sah dieses junge Mädchen in Bedrängnis und wurde dann noch einmal in eine tödliche Grube geworfen. Aber das Ziel ... meine Herren, das Ziel ist es wert!" Er sah strahlend zum Minotaurus zu. "Bitte, darf ich mich anschließen? Darf ich die Wunder Babylons sehen, und sei es dann auch mein letzter Tag auf Erden? Lasst mich euch beweisen, dass ihr mir vertrauen könnt!"
Der Minotaurus wirkte mit so viel Optimismus überfordert. Hilflos sah er von Lonnie zur Höhle, zu der sich der Gang hinter ihm öffnete.
"Ich habe euch das Kind gebracht", behauptete Lonnie.
"Du hast gesagt, du bringst mich in Sicherheit!", heulte Marina auf. Lonnie sah nicht einmal zu ihr, und das schien den Stierköpfigen endlich zu überzeugen.
"Geht", grunzte er. "Du könntest ja eh nirgendwohin fliehen."
Conny ging weiter. Die Arme ließ sie sinken, als sie aus dem Tunnel trat und den Blick bewundernd hob. Marina landete auf dem Boden und sprintete zum Tunnel, doch Lonnie sprang vor und schnappte sich das Mädchen. Er warf das zappelnde und schreiende Engelskind über seine Schulter und folgte Conny.
Die Höhle war von einem goldenen Licht erfüllt. Der Tunnel führte auf einen von Wegen durchzogenen Hang, der sich zu einem gewaltigen Tal öffnete, das etwas niedriger lag als die Tunnelzugänge zur Höhle, die wie die Löcher eines Termitenbaus überall in den Wänden lagen. Die Wände waren lehmbraun, der Boden dagegen mit grauem Stein alter Straßen gepflastert. Lonnie marschierte hinter Conny hier, doch auch er wurde langsamer, als er die vielen alten Gebäude sah, die bunten Fassaden, die verzierten Türen und Fenster. Es war eine unterirdische Stadt, beleuchtet vom Schein unzähliger Fackeln, die sich auf Gold spiegelten. In ihrer Mitte, auf einem Berg, erhoben sich die Fundamente eines riesigen, runden Turms, breit wie hundert Häuser nebeneinander. In den Ruinen hinter den dicken Mauern schien nun ein Krater zu klaffen.
"Babylon!", hauchte Lonnie.
Marinas Schreie hallten von den Wänden wider. Aus verschiedenen Tunnelöffnungen erschienen weitere Minotauren und beobachteten, wie Conny, Marina und Lonnie sich ihren Weg über die alten Straßen bahnten. Es mussten tausende Mythika sein. Viele wimmelten auch in den Ruinen, obwohl der Boden hier verflucht war. Vor dem Turmfundament sah Lonnie die große Sphinx, und dort entdeckte er schließlich auch die Sirene, die sich erhob, als ihre Opfer näherkamen.
Auch sie runzelte die Stirn, als sie Lonnie mit dem Engel sah.
Conny war ein ganzes Stück vor ihnen, da sie bergauf nicht außer Atem geriet. In der riesigen Höhle war die Luft zu stickig für Lonnie, und dabei war er die Hölle gewohnt. Conny schien jedoch keine Erschöpfung zu spüren. Die Sirene übergab sie an zwei Minotauren, die die willenlose Engelsfrau in schwere Ketten legten und auf einer Holzbrücke über den klaffenden Krater führten. Es sah aus wie ein Pirat, der über die Planke gehen sollte, nur dass unter ihr kein Meer wartete.
Lonnie drückte Marina an sich. Gerne würde er sie beruhigend, doch er fürchtete sich. Die Sirene beobachtete ihn scharf. Vielleicht könnte sie seine Lippen lesen. Vielleicht würden seine Worte von den Höhlenwänden verstärkt zurückgeworfen und jeder würde seinen verzweifelten Plan hören.
In diesem Moment ließ ein Rumpeln die Höhle erbeben. Einige der Häuser stürzten ein, und die Tropfsteine wackelten. Marina schrie auf.
"Was war das?", fragte Lonnie, als er bei der Sirene war.
"Der Fluch", antwortete diese. "Er hat Hunger."
Damit deutete sie auf das geborstene Fundament des Turms und Lonnie erahnte mit einem Mal die Bewegung eines riesigen Wesens in dem Tiefen des Kraters.
"Der Flucht ist ein lebendes Wesen?"
"Ja." Die Sirene sah ihn unverwandt an. "Zwar wird die Mutter ihn besänftigen, aber es ist gut, dass du uns auch das Kind bringst." Ihr Blick musterte ihn scharf, suchte nach dem Zeichen der Schwäche. "Bring es ihm."
Es war eine Probe. Ein Test, ob er wirklich treu war.
Lonnie trat mit weichen Knien auf den Holzvorbau. Er spürte die Blicke der Mythika in seinem Nacken.
Unten regte sich eine Art riesiger, schwarzer Wurm. Er sah Hörner und riesige Krallen.
"Behemoth", murmelte er leise. "Das ist der Behemoth."
Marina klammerte sich an sein Hemd, starr vor Angst.
Als er zu Conny trat, sah sie ihn an. Ihr Blick war wieder klar, der Bann gebrochen. Aber sie trug Ketten.
"Was tust du da?", fragte sie ihn. "Warum gehorchst du ihnen?"
Lonnie warf ihr einen Blick zu, wagte nicht, zu reden.
"Hast du einen Plan?", fragte sie.
Er schüttelte kaum merklich den Kopf. Alle seine Pläne hatten ihn verlassen. Gegen den Behemoth gab es keine Hoffnung auf Überleben.