- Start: 25.01.2020 - 10:40 Uhr
- Ende: 25.01.2020 - 11:11 Uhr
"Wie lange noch?"
Das Mädchen sah auf den Timer. "Sieben Minuten." Ihre Unterlippe bebte.
"Das reicht locker!", sagte er so entspannt, wie er es nur konnte. Er sah sich in der großen Höhle um.
"Es zählt runter!", vermeldete das Kind panisch. "6:47 ... 46 ..."
"Ja, das ist der Sinn eines Countdowns." Er sprach absichtlich gedehnt, obwohl es ihm in der Seele wehtat, sie so anzuschnauzen. Falls er eine Seele hätte, würde es ihm jedenfalls wehtun. Doch er wollte klingen, als würde die gesamte Situation ihn langweilen.
"6:39 ..."
"Hör mal, wir kommen hier raus. Vertrau mir einfach." Er lächelte sie an. "Aber wenn du es so eilig hast: Da muss irgendwo ein kleiner Schalter an der Seite sein. Such ihn. Aber pass auf, dass du keinen der Drähte kaputt machst."
Das Mädchen beugte sich nickend über die Bombe. Lonnie drehte ihr den Rücken zu, damit sie seine zitternden Hände nicht bemerkte.
Also gut ... noch sechseinhalb Minuten.
Die Höhle war schnell durchschritten. Es handelte sich um einen großen Kegel aus schwarzem Vulkangestein. Oben gab es ein Loch in der Decke, dort, wo der Griff bei einer dieser metallischen Abdeckungen für teures Essen gewesen wäre. Lonnie und das Mädchen befanden sich auf dem Teller, der teils von Sand und teils von flachem Wasser bedeckt war. Regenwasser, das sich hier gesammelt hatte.
Einen Ausgang gab es nicht. Dafür erhob sich relativ nah an der Mitte ein kleiner Schotterberg aus Gerümpel.
"Ich finde keinen Schalter!", rief das Kind weinerlich.
Lonnie Dorraine sah zum Countdown. Keine sechs Minuten mehr.
"Guck noch mal genauer nach." Er kletterte den Schuttberg hinauf. "Und in Ruhe! Wir haben Zeit."
Seine Stimme hallte in der gewaltigen Höhle wider. Genauso das Rumpeln, als ein Teil des Schutts unter seinen Schritten ins Rutschen kam. Ein großer Tisch stieß gegen einen Aktenkoffer. Dessen Kante schlug gegen Lonnies Schläfe. Die Welt verwandelte sich in ein schwankendes Schiff in weißlichem Nebel. Lonnie suchte nach Halt, traf auf einige halbvermoderte Akten und stürzte rücklinks in den Sand. Ein Müllsack schlug auf ihn. Lonnie konnte nichts mehr sehen, doch er hörte Rumpeln, mit dem weitere Möbel sich der Lawine anschlossen. Blind riss er die Arme über den Kopf und hoffte, dass kein Schrank auf ihn kippen würde.
Es wurde still und Lonnie lebte noch. Er atmete durch.
"Maaamaaaaaaaaa!"
Mit einem Ruck setzte sich der Privatdetektiv wieder auf. Der prallgefüllte Müllsack erwies sich als schwer. Was war da drin, Kartoffeln? Er fühlte. Dann riss er die Hand zurück.
Leiche.
Weitere Leichen waren durch die Lawine freigelegt worden. Kein besonders angenehmer Anblick. Es war nicht verwunderlich, dass das Kind hysterisch geworden war. Lonnie eilte zu dem Mädchen und zog sie in seine Arme, obwohl sie sich wehrte.
"Ist gut, ist gut. Sieh nicht hin, ja? Das sind nur Puppen."
Er warf einen Blick auf den Timer. 4:38.
Das kleine Mädchen hatte die Flügel um den Körper gefaltet, sodass sie in einem weißen Kokon aus Federn verschwand. Lonnie hörte sie schluchzen. Er selbst musste von dem Gestank würgen, der sich nun erhob. Sie waren in einem Mülleimer gelandet. Die Bombe würde die Müllverbrennungsanlage sein. Er sah sich suchend um. Hier musste es doch irgendwas geben! Eine Schere, um die Drähte zu durchschneiden. Oder konnte man die Bombe vielleicht mit Wasser tränken, sodass sie sich nicht entzündete?
Er verwarf die Gedanken wieder. Die Mythika waren gründlich. Sogar übergründlich. Es würde nichts von ihnen übrig bleiben, wenn die Bombe einmal explodiert war.
Noch drei Minuten. Lonnie stand auf und klopfte vorsichtig auf die Flügel. "Ich muss noch ein bisschen was tun. Willst du hier stehen bleiben oder mitkommen?"
Schluchzen. Eine Hand wühlte sich aus dem weißen Flaum und tastete nach Lonnie, um sich vorne an sein Hemd zu klammern.
Sanft löste Lonnie die Finger und ergriff die Hand des Kindes. "Dann komm. Vorsichtig, einmal die Füße hoch ..."
Blind tapste das Kind hinter ihm her. Lonnie würde sie hochwerfen müssen. Das Engelsmädchen konnte nach draußen fliegen und entkommen.
'Aber die Mythika werden sie jagen', flüsterte eine Stimme in seinem Kopf. 'Sie ist nur ein Küken. Da draußen überlebt sie auch nicht viel länger.'
Nicht ohne Hilfe jedenfalls.
Dann sah er etwas im Müllberg. Vorsichtig ließ er die Hand des Kindes los.
"Hör mal ... ich stelle dich kurz hier an die Wand." Er nahm ein Metallstück vom Boden, die Wand eines zerbrochenen Tresors, und lehnte diese wie ein Zelt über das Mädchen. Diese Tresore waren meist feuersicher. Allerdings kämen die Flammen vermutlich um die Kanten herum. Oder die Druckwelle würde ...
"Es wird alles gut", sagte Lonnie, als das Kind lauter weinte und sich wieder an ihm festhalten wollte. Er entzog sich ihrem Griff, packte den langstieligen Hammer, den er gesehen hatte - die Spuren deuteten auf eine entsorgte Mordwaffe hin - und lief zu der Bombe. Er wappnete sich für eine helle Explosion, schwang die Waffe über dem Kopf und ließ sie auf das Ziffernblatt hinunterfallen.
Die Bombe explodierte nicht. Lonnie ließ den angehaltenem Atem zischend entweichen. Es hallte in der gesamten Höhle wider.
2:03. Der Countdown war eingefroren. Lonnie ließ den Hammer in den Sand fallen. Seine Hände zitterten.
Etwas zischte. Es war nicht sein Echo.
Lonnie fuhr in die Höhe. Er erinnerte sich an etwas, das einer der Handlanger gebrummt hatte, bevor man sie in dieses Loch geworfen hatte. Zu dem Zeitpunkt war er noch immer nicht wieder vollständig bei Bewusstsein gewesen, das hatte das Wasser erledigt, in dem er mit dem Gesicht gelandet war.
Was hatte der Kerl noch gleich gemeint? "Wird Zeit, dass wir da unten mal alles ausräuchern, diese komischen Viecher würden einem Dämon Albträume machen!"
Er rannte zurück zu dem Mädchen. Das Zischen wurde aggressiver und dann leiser, als er sich neben das Kind kniete. Offenbar hatte er die Dinger geweckt - und sie reagierten auf schnelle Bewegungen.
"Hey. Ich bin's."
Das Kind ließ sich vertrauensselig in den Arm nehmen, als er sie berührte.
"Hast du Lust auf ein Spiel?", fragte er sie, während seine Gedanken noch rasten.