- Start: 13.11.2021 - 21:07 Uhr
- Ende: 13.11.2021 - 21:52 Uhr
Es rumpelte, als der Behemoth sich erhob. Es war ein riesiges, wurmähnliches Wesen. Schwarze Haut, durchsetzt mit gelblichen Sprenkeln, überzog die Kreatur. Aus rundlichen, regelmäßigen Öffnungen entlang seiner Seite drang ein beständiger Strom an übelriechendem Sekret. Das runde Maul, zahnbewehrt, erinnerte an einen riesigen Erdwurm, doch dahinter setzte ein breiter Schädel mit gerundeten Hörnern und säugetierähnlichen Ohren an. Die Augen waren in der Dunkelheit nicht zu sehen.
Aus dem klaffenden Maul drangen statt einer Zunge mehrere dünne, rote Tentakel und reckten sich Lonnie, Conny und Marina entgegen. Die Engelsfrau riss an ihren Ketten und starrte Lonnie an.
Er spürte, dass die Mythika ihn beobachteten. Ihre Blicke prickelten auf seinem Rücken. Sie hatten Waffen. Sobald er eine falsche Bewegung machte, würden sie auf ihn, Marina und Conny feuern.
Einer der Tentakel hob sich, um sie zu ergreifen.
Lonnie zögerte nicht eine Sekunde. Er stieß Marina gegen ihre Mutter, sodass beide fielen, und warf sich auf die andere Seite. Der Tentakel durchschlug das Holzgerüst. Lonnie und Conny schlugen beide auf der Oberkante der Mauern auf, doch Marina purzelte über ihre Mutter und stürzte von der Mauer.
"Nein!", brüllte die Engelsfrau auf und wand sich in den schweren Ketten. "Marina!"
"Verräter!", kreischte die Sirene in Lonnies Rücken, während er sich aufrichtete.
Behemoth erhob sich weiter. Sein Tentakel tastete suchend über die Mauer, und jede Berührung ließ Gestein bersten.
"Hier bin ich, du Mistkerl!", rief Lonnie und rannte los, fort von Conny. Wie erhofft konzentrierte sich der Fluch von Babylon auf ihn und Tentakel, dick wie ein Mann, jagten ihm nach. Lonnie rannte über die leicht gekrümmte, unebene Mauer, als zwei weitere Tentakel nach unten schlugen, dicht vor und dicht hinter ihm.
Es blieb eine dünne Felsnadel, deren Fundament tief unter Lonnie bröckelte. Schwankend streckte er die Arme aus, um sein Gleichgewicht zu halten, und wünschte sich nicht zum ersten Mal seine Flügel zurück. Einen Moment balancierte er auf dem kippenden Mauerstück - dann fiel er rückwärts.
Er brüllte auf und wedelte wild mit den Armen. Der Sturz war gar nicht mal so kurz. Es blieb genug Zeit, sich auszumalen, wie der Aufprall wohl werden würde.
Dann rauschte etwas Helles von der Seite heran. Lonnie erkannte Marina, die flog ... aber seltsam, die Arme vor der Brust und die Flügel angelegt. Dann prallte er auf etwas Weiches, das er nicht sehen konnte.
"Ich hab dich, Onkel", krähte Marina über die Schulter.
Lonnie ächzte und zog die Luft wieder ein, die ihm aus den Lungen gepresst worden war. Unter sich fühlte er Fell oder Federn, doch er sah nur die Tiefe unter sich. Als er den Kopf nach vorne drehte, stellte er fest, dass Marina nicht flog, sie lag. Sie lag auf einem unsichtbaren Untergrund.
Ein Geistwesen! Irgendeine große Kreatur der höheren Astralebenen.
Wie auch immer sie den Geist so rasch überzeugt hatte, ihr zu helfen. Normalerweise waren die Astralwesen weniger freundlich gesinnt.
Er tastete mit rasendem Herz über den Rücken des Tiers. Der Blick nach unten hatte ihm den Magen umgedreht. Er würgte trocken, aber außer einem trockenen Keks, den Marina nicht gemocht hatte, hatte er den ganzen Tag noch nichts gegessen.
"Kannst du das Vieh steuern?", fragte er sie.
Etwas klatschte ihm gegen die Wange.
"Du sollst sie nicht so nennen", belehrte Marina ihn. "Sonst wirft sie dich ab, und das möchte ich nicht."
"In Ordnung." Lonnie rieb sich über das Gesicht. "Kannst du ihr sagen, dass sie rausfliegen soll?"
Marina sah nach vorne. Dann nickte sie. "Aber nicht ohne Mama."
"Marina, das ist zu ..."
"Sei still, ich kann sie gar nicht verstehen."
Lonnie klappte den Mund zu. Das Engelsmädchen war eindeutig in seinem Element. Er atmete tief durch, suchte tastend nach Halt und richtete sich vorsichtig auf dem Rücken des unsichtbaren Flugwesens auf. Er zog seine Pistole aus dem Halfter unter dem Arm und den Hut etwas tiefer ins Gesicht, während sein Mantel hinter ihm flatterte.
Auf eine irrwitzige Art hatte er mit einem Mal Spaß an der ganzen Sache. War vermutlich der Schock. Da sauste er auf einem unsichtbaren Wesen durch eine riesige Höhle, über einem in der Erde versunken, von Gott höchstselbst verfluchten Land, geradewegs auf den Turm in der Mitte zu und das schwarze, gähnende Loch in seiner Mitte, und auf Conny, die noch immer gefesselt und wehrlos über dem Rand hing.
Er könnte jetzt auch in einem Beichtstuhl hocken und sich zum tausendsten Mal die gleichen Rechtfertigungen der Sünder anhören!
Marina lenkte das Geistwesen tiefer und streckte die Hand nach ihrer Mutter aus. "Nimm sie mit, hörst du?"
Doch vor ihnen wuchs mit einem Mal Behemoth aus dem Turm herauf.
Er war riesig. Obwohl sie so schnell auf ihn zuflogen, schien es, als würden sie in der Luft anhalten, während der Koloss sich immer weiter aufbäumte und zu einem Berg anwuchs. An seiner Unterseite offenbarten sich zwei große Pranken, und eine holte aus, um nach ihnen zu schlagen.
"Marina! Dreh um!"
"Nein! Wir müssen zu Mama!"
"Marina!" Lonnie sprang.
Der Geist war tief geflogen, sodass er unbeschadet über den Boden rollte. Er landete nicht zu weit von der Sirene entfernt, die manisch lachte. Ächzend stemmte er sich hoch, dann streckte er seine geistigen Fühler aus und konzentrierte all seine klägliche Macht auf den Riesen vor sich.
"Hier bin ich!", rief er, so laut er konnte. "Hier unten! Komm, und hol mich!"
Behemoth stockte auch tatsächlich im Schlag. Hinter Lonnies Stirn pochte es. Er spürte ein Ziehen in der Nase. Doch er hatte die Aufmerksamkeit des Kolosses, seine Wut, auf sich gelenkt.
Mit einem erleichterten Seufzen ließ er seine telepathischen Bande los, als Behemoth erneut ausholte. Quälend langsam, aber unaufhaltsam. Lonnies Blick begegnete Marinas gefesselter Mutter, die noch immer auf der Mauer hing. Wo war Marina? Doch das war egal. Er hob die Pistole, richtete sie auf Conny, und schoss.
Dann landete etwas neben ihm und rollte ächzend über den Stein.
Lonnie drehte sich um. "Marina!"
Das Engelskind sah auf. "Au."
"Was machst du hier?!"
"Ich komme mit dir." Verwundert sah sie ihn an. "Du passt doch auf mich auf. Ich soll bei dir bleiben."
"Nein, Kind." Ihm blieb keine Zeit. Die Pranke kam näher. Lonnie warf sich über das Engelskind.
Die große Pranke von Behemoth schlug auf dem Boden auf. Das Donnern ließ die Gebäude in der großen Höhle erbeben. Dann herrschte eine Stille, die ohrenbetäubend erschien.
Für einen Moment schien alle Welt den Atem anzuhalten. Ein Lächeln kroch auf das Gesicht der Sirene. Die Minotauren schnauften.
Dann brüllte Behemoth. Ein Schmerzensschrei, der Tropfsteine von der Decke regnen ließ. Die Pranke, die Lonnie zerquetscht hatte, verwandelte sich plötzlich in Feuer.
"Ich taufe dich auf den Namen Schmerz", erhob sich eine Stimme über den Lärm. Machtvoll dröhnte sie durch die Höhle, übertönte selbst den Schrei des Giganten, der die Mythika zu Boden geworfen hatte. "Ich nehme dich auf in die Kirche des Todes. Ich gebe dir das Brot der Trauer zu speisen." Es war die Stimme einer Frau, die das unheilige Sakrament rezitierte. "Ich sehe deine Sünden und bekenne dich für schuldig. Ich vermähle dich mit der Finsternis, aus der du stammst, Behemoth. Ich weihe dich dem Tode. Kraft der Macht, die mir durch das Opfer eines Schuldigen gegeben wurde, schenke ich dir das Öl der letzten Salbung!"
Das Feuer flammte auf und erfasste den gesamten Riesen, als wäre er wahrlich mit Öl übergossen wurde. Kreischend wurde auch die Sirene verzehrt, als Hitze durch die gesamte, unterirdische Stadt spülte und etwas wie schwarze Schatten vom Boden der alten Straßen verzehrte. Die Minotauren flohen in die Gänge, doch nicht alle schafften es. Der Rest würde nie wieder nach Babylon zurückkehren.
Als das Feuer sich legte, war Behemoth fort. Eine goldene Blase aus Licht kristallisierte sich aus Flamme und Rauch, und schließlich sah man dort, wo die Pranke gewesen war, eine Frau stehen, groß und breit, mit kurzem Haar. Conny hatte die Flügel schützend ausgebreitet und Licht erglühte in ihren Augen, das wie das heilige Feuer langsam verblasste.
Ihre Ketten waren gesprengt worden von einer Kugel.
"Mama?"
Langsam drehte Conny sich um. Marina erhob sich stolpernd vom Boden. Sie hatte innerhalb der Blase gesessen, die sich nun auflöste, geschützt vor der Zerstörung.
"Geht es ihm gut?"
Marina sah zu Lonnie. Der Teufel lag auf dem Rücken, ebenfalls in jenem Kreis, der sie beschützt hatte. Vorsichtig nickte sie. "Ich sehe seinen Geist noch."
Wie auf dieses Stichwort stöhnte der Privatdetektiv und schlug flatternd die Lider auf. Er stützte sich auf die Ellbogen.
"Onkel Lonnie!" Marina warf sich auf ihn. Hustend ging der Teufel wieder zu Boden.
"Auf, auf, Mister Dorraine." Conny trat zu ihnen, erschöpft, aber glücklich. "Heute ist kein Tag zum Sterben."
"Es sieht mir so aus, als wäre das für Viele anders", brummte Lonnie mit Blick auf die Zerstörung ringsum. "Was ist passiert? Wieso lebe ich noch?"
"Mama kann diesen Schutzzauber!", erklärte Marina stolz. "Der macht, dass alles wieder gut wird."
"Ja, mein Spatz." Conny wuschelte ihr durch das Haar. "Und zufällig kenne ich mich mit alten Riten aus."
"Das war ... das unheilige Sakrament." Lonnie staunte. "Du hast den Fluch nicht gebrochen, du hast ihn vernichtet!"
"Das ging nur deinetwegen. Das unheilige Sakrament funktioniert nur dann richtig, wenn ein - nichts für ungut - wenn ein böses Wesen sein Leben für ein unschuldiges geben will."
"Weil ich ein Teufel bin, heißt das", brummte Lonnie.
"Und weil du mich mit deinem letzten Schuss befreit hast und ich rechtzeitig hier war, um Schlimmeres zu verhindern." Conny reichte ihm die Hand und der Detektiv ließ sich auf die Füße ziehen.
"Haben wir die Mythika besiegt?"
"Für den Moment sicherlich. Die Sirene ist tot, sie war eine der Anführerinnen." Conny sah zu Marina und seufzte. "Du musstest heute viel mit ansehen, was, Kind?"
Marina sah ihrer Mutter nur fragend an.
Conny strich ihr über den Kopf und richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf Lonnie. "Jedenfalls danke ich dir. Du hast meine Tochter und mich gerettet. Aber dieser Kampf ist noch nicht vorbei, und es wird gefährlich. Du solltest deine Sachen packen und so weit wie möglich fortziehen. Vielleicht finden sie dich dort nicht."
"Wo denkst du hin? Ich bin Detektiv. Ich habe einen Auftrag bekommen."
"Geht es dir um das Geld?"
"Nichts liegt mir ferner." Er grinste. "Aber ich komme mit euch. Wenn ich das richtig verstanden habe, wusste nur Sonja wirklich, was sie da aufgeweckt hat."
"Ich war immer mehr die Frau für's Grobe und für alte Flüche", murmelte Conny bestätigend.
"Dann ... könntet ihr einen Privatdetektiv gebrauchen, wo auch immer ihr hingeht." Lonnie reichte ihr die Hand. "Dorraine. Lonnie Dorraine."
"Conramiel Shart." Conny reichte ihm die Hand. "Du kannst Conny oder Rami sagen."
"Onkel Lonnie kommt mit!", krähte Marina begeistert.
Lonnie sicherte seine Pistole und steckte sie ein. "Natürlich tut er das, Kindchen. Dann zeigen wir diesen Mythikanern mal, dass sie sich mit den falschen angelegt haben!"