- Start: 08.11.2020 - 22:40 Uhr
- Ende: 08.11.2020 - 23:18 Uhr
Der Kanal endete in einem Hang.
Lonnie schluchzte vor Erleichterung auf, als er das schwache Dämmerlicht sah und eine frische Brise auf seinem Gesicht spürte.
Er war völlig erschöpft. Sein Hemd war schweißdurchtränkt, nachdem er bestimmt eine halbe Stunde durch den engen Tunnel gekrochen war. Die Angst, dass man ihm irgendeinen kleinen Dämon hinterherschicken würde, oder Feuer durch den Tunnel jagte, war zeitweise alles gewesen, was den Klaustrophobiker weiter angetrieben hatte.
Doch offenbar hatte niemand bisher erschlossen, dass er durch den Tunnel gekrochen war. Eigentlich kein Wunder - die meisten Teufel hatten ein Trauma vom Licht am Ende des Tunnels, also würden sie nur unter extremen Umständen durch einen Kanal kriechen.
Lonnie hoffte auch, dass er das nie wieder tun musste. Aber Sonjas verzweifelte Bitte, ihre Familie zu retten, hatte ihn zu diesem Schritt getrieben.
Langsam und zitternd zog er sich aus dem Tunnel und rollte durch hohes, feuchtes Gras. Dann stand er vorsichtig auf und sah sich um.
Über ihm, auf einem Hügel, dräute ein steinernes, altes Gemäuer, eine Burg der Menschen, instandgehalten, aber vom Alter gezeichnet.
Unter ihm befand sich eine Wiese und vereinzelte Haine, die Ruinen ehemaliger Menschendörfer und Wege zwischen gebirgigen Hügeln.
Lonnie erkannte die Gegend. Transsilvanien. Nicht weit von der Hölle.
Er stieg hinunter, noch immer betäubt von Sonjas Tod und den Erlebnissen der letzten ... waren es Stunden? Er musste unbedingt herausfinden, wer oder was diese Mythika waren. Sie hatten Babylon gefunden? Das bedeutete, sie hatten verfluchten Boden entdeckt, und das nicht gemeldet. Das konnte zu einer Katastrophe führen.
~*~
In Gedanken versunken stolperte Lonnie über ein Schlagloch und fiel der Länge nach auf die Erde.
Dann bemerkte er die Fackeln. Eine dünne Linie aus Lichtpunkten wand sich um den Fuß des Hügels.
Lonnie blieb liegen und sah hinunter. Er erkannte verhüllte Gestalten in roten Mänteln mit Kapuzen, die die Fackeln trugen. Sie gingen in einen der Wälder, wo sie sich offenbar versammelten, soweit er erkennen konnte.
Nachdem der letzte der Reihe vorüber war, drückte Lonnie sich hoch und huschte geduckt hinterher.
Niemand der Verhüllten sah zurück. Der Privatdetektiv huschte durch das Gras und dann in der Deckung der Bäume von Stamm zu Stamm.
Die Fackelspur führte ihn an einen Platz mit einer Art Schrein. Auf einer niedrigen Pyramide aus moosbewachsenen Steinen stand einer der Verhüllten und breitete die Arme aus. Lonnie hörte einen monotonen Singsang und kauerte sich hinter einen Strauch.
Was genau trieben die da?
Er zuckte zusammen, als er die Antwort erhielt. Einer der Verhüllten zog ein Mädchen nach vorne. Sie war ein Engel, jedoch keine fünf Jahre alt. Weinend stemmte sie sich gegen den Griff des Mannes.
"Nein! Ich will nicht!"
Ein anderer Kultist hob einen gezackten Dolch.
Lonnie dachte gar nicht nach. Er streckte die mentalen Finger aus, berührte ihren Geist und flüsterte ihr zu, nach vorne zu springen.
Das Gesicht des Mädchens wurde ausdruckslos und sie sprang vor, begleitet von einem Schlag der Flügel.
Überrascht stolperte der Verhüllte, als er sich nicht mehr gegen sie stemmen musste. Er fiel, sein Griff löste sich, und das Kind flog in den Himmel. Sie flatterte ungeschickt in Lonnies Richtung und stürzte kurz vor ihm ab.
Das Engelsmädchen rollte über den Boden. Lonnie sprang vor und packte sie. Er lud das Kind auf seine Arme und rannte.
Wütendes Geschrei verfolgte ihn, als er rannte, blindlings in den Wald hinein. Seine Augen waren noch geblendet vom Feuerschein, deswegen taumelte er in Äste und über den unebenen Boden. Er schützte den Kopf des kleinen Engels mit der Hand, während das Kind sich an ihn klammerte.
Dann gewöhnten sich seine Augen an die Dunkelheit, während die Verfolger mit ihren Fackeln nichts außerhalb des Feuerscheins sehen konnten.
Lonnie fasste Mut. Er rannte noch schneller, während das Kind weinte. Dann änderte er die Richtung, schlug sich ins Unterholz und legte sich zuletzt in einen Graben.
Kaum einen Steinwurf entfernt zogen die Verhüllten vorüber. Lonnie hielt den Atem an. Das Kind in seinen Armen schluchzte lautlos.
Als die Kultisten vorüber waren, stand Lonnie auf.
"Es wird alles gut", flüsterte er. "Es wird alles gut, ich passe auf dich auf."
Er wanderte langsam zurück. Die Kultisten befanden sich jetzt zwischen ihm und dem Weg zur Hölle. Er musste dringend aus diesem Wald heraus.
Der ganze Tag erschien ihm mehr und mehr wie ein Alptraum. Hätte er den Beichtstuhl bloß heute morgen nicht betreten! In was war er da hineingeschlittert?
~*~
Nach mehreren Stunden Wanderung bemerkte er vor sich einen Lichtschein. Vorsichtig näherte sich Lonnie und erkannte ein Fenster, durch das blasses Licht schimmerte.
Ein Haus. Ein bewohntes Haus.
Lonnie setzte das Kind ab, das sich an seine Hand klammerte. Vorsichtig schlich er zum Fenster und spähte hinein.
Eine alte Frau saß an einem Spinnrad und nähte, im Licht einer Kerze der hereingebrochenen Nacht trotzend.
Lonnie ging zur Tür und klopfte. "Verzeihung?"
Die Tür ging auf. Die alte Frau blinzelte ihn durch die große Brille an. "Ah. Ein Teufel."
Lonnie stutzte. Menschen sahen ihresgleichen normalerweise immer in irgendeiner unauffälligen, menschlichen Gestalt. Nicht als das, was sie waren.
"Ich bin ein Großmütterchen", erklärte die Frau und trat beiseite. "Komm nur herein, es ist noch Tee warm."
"Äh ... danke." Lonnie zog das Kind mit herein.
"Ohhh! Herzchen! Wer bist du denn?" Das Großmütterchen war ganz entzückt von dem Mädchen. Doch das Kind versteckte sich sofort hinter Lonnie.
"Sie hatte ... einen langen Tag." Lonnie drückte die Hand des Kindes. "Keine Angst. Großmütterchen sind aus dem Reich der Märchen. Sie tut dir nichts."
"Willst du einen Keks, Liebes?", fragte die Großmutter.
Zögerlich nickte das Mädchen.
Lonnie und das Kind wurden an einen Tisch gesetzt und das Großmütterchen schenkte ihnen Tee ein.
"Sagt, was macht ihr beiden Wanderer so spät hier im Wald?", fragte sie.
Lonnie nahm einen Schluck Tee. Das Engelskind knabberte an seinem Keks.
"Da draußen laufen Verrückte herum", murmelte Lonnie und runzelte die Stirn. "Sie planen etwas Großes. Wir müssen unbedingt jemandem Bescheid sagen und ... der Tee schmeckt merkwürdig."
"Ist das so?", fragte das Großmütterchen lächelnd. Ihr Lächeln war etwas zu breit und etwas zu zahnlastig.
Lonnie sah in die Tasse. Neben ihm fiel der Kopf des Engels mit leisem Knall auf die Tischplatte.
"Was hast du ...?" Lonnies Zunge wurde schwer. Die Welt verschwamm vor seinem Blick.
Dann wurde es schwarz.
~*~
Als Lonnie wach wurde, zerrte ihn jemand unsanft über den Boden.
Er blinzelte. Etwas Kräftiges, das leicht nach Moschus duftete, hielt seine Füße umklammert. Ein Minotaur, ganz klar.
Er wollte sich bewegen, doch um ihn herum drehte sich noch immer alles. Jede Bewegung war langsam, wie unter Wasser. Ihm war kotzübel.
"Ah, da seid ihr ja", grunzte jemand. Ein weiterer Minotaurus.
"Wir haben sie. Aber was machen wir mit ihnen? Der Blutmond ist vorbei", fragte der, der Lonnie zog.
Wir haben sie. Plural. Das Engelsmädchen war ebenfalls gefangen.
Lonnie kämpfte um sein Bewusstsein.
"Wir werfen sie in die Grube. Zusammen mit diesem Schmuckstück."
Lonnies Entführer pfiff. "Eine Bombe!"
Lonnie spürte Panik in sich aufsteigen. Panik und Adrenalin.
Der andere Minotaur lachte. "Ganz genau. Wird Zeit, dass wir da unten mal alles ausräuchern, diese komischen Viecher würden einem Dämon Alpträume machen!"
Dann fühlte Lonnie, wie er fiel.
Er landete auf etwas Weichem.
Körperteile. Altes Blut im Brackwasser.
Er wälzte sich auf die Seite.
Neben ihm landete ein Kasten. Mit einer Anzeige, auf der Zahlen blinkten.
Herunterzählten.
Und dahinter lag das kleine, blonde Engelsmädchen im weißen Kleid.
9:48 ... 9:47 ... 9:46 ...
Der Countdown lief.