- Start: 29.10.2019 - 11:57 Uhr
- Ende: 29.10.2019 - 12:41 Uhr
Dabei hatte der Tag so vielversprechend begonnen ...
Lonnie Dorraine war nur nebenberuflich Privatdetektiv. Hauptberuflich arbeitete der Teufel in der Hölle, Sektor 7b, als Beichtvater. Das hieß, er saß in einer in zwei Hälften getrennten, abgedunkelten Kiste und hoffte, dass sich jemand auf dem langen Marsch in die Hauptstadt nicht nur zum Ausruhen in die zweite Hälfte setzte, sondern um Lonnie auch etwas zu erzählen. Fragen stellen durfte Lonnie in seinem Beruf nicht. Die Sünder mussten alles von sich aus offenbaren. Doch wer seine Verfehlungen zugab und ehrlich bereute, dem stellte Lonnie ohne dessen Wissen ein Ticket aus und schickte es an die Zentrale. Bei der Gerichtsverhandlung bekam die Seele des Geständigen dann Strafnachlass je nach Stärke der Reue. Es war ein guter Job. Lonnie tat das, was er gedacht hatte, zu Lebzeiten zu tun: Er half Menschen.
Dann, am Morgen, hatte es so ausgesehen, als würden seine beiden Jobs erstmalig zusammenfallen. Wie so oft war jemand in den Beichtstuhl getreten und hatte sich gesetzt. Dieser verschnaufte nicht, sondern begann sofort, zu sprechen:
"Ich bin ein Engel. Man hat mich entführt und wird vermutlich versuchen, mich durch ein unfaires Urteil hierzuhalten. Irgendjemand muss davon erfahren, wenigstens meine Frau, Conny."
Die Stimme nebenan war ebenfalls weiblich. Lonnie hörte keinen Ansatz einer Lüge heraus und drückte vor Schreck seinen Zigarillo aus.
"Aha. Du hörst mich", flüsterte die Engelin. "Bitte hilf mir."
Dann hatte irgendjemand von außen gegen den Beichtstuhl geschlagen und Lonnies Gast war aufgesprungen und geflohen. Der Beichtteufel blieb wie erstarrt sitzen, den leicht qualmenden Zigarillo noch in der Hand.
Ein Justizirrtum. Vielleicht hatte irgendein Mensch den Engel zur Hölle gewünscht. So etwas kam vor.
Lonnie war jedenfalls froh gewesen, dass etwas Interessantes geschah. Zudem zahlten Engel immer und meistens auch gut.
Er hatte seinen Beichtstuhl verlassen - es war nicht ungewöhnlich, dass die Beichtstühle entlang der Straße der Qualen leer standen - und hatte sich aufgemacht zur Bibliothek der Namen. Dort hatte er zuerst die Engelin Conny gesucht. Leider konnte er sie aus der Hölle nicht anrufen, die einzige Direktverbindung zum Himmel hatte Luzifer. Doch er fand heraus, dass die zu unrecht verurteilte Engelin Sonja hieß und sogar noch eine Tochter namens Marina hatte. Lonnie interessierte sich jedoch erst einmal nur für den zuständigen Sachbearbeiter, der Sonja zur Hölle gejagt hatte.
Bevor seine Recherchen so weit voranschreiten konnten, erschütterte eine Explosion das Gebäude. Lonnie drückte das Buch mit den Einträgen instinktiv an die Brust und flüchtete hinter ein Regal, als er Schritte heraufdonnern hörte. Muffiger Moschusgeruch stieg ihm in die Nase. Er hörte ein lautes Schnauben und Hufklappern ... Minotauren!
Zum Entsetzen des Privatdetektives kamen die Mythenwesen in seine Richtung und blieben sogar direkt auf der anderen Seite des Regals stehen.
"S wie Sonja. Es muss hier sein", knurrte eine dumpfe Stimme.
Lonnie hielt den Atem an. Was zur - nun ja, Hölle - suchten Minotauren in der Hölle?! Und warum suchten sie ausgerechnet nach Sonja, die ihn um Hilfe angefleht hatte?
"Das Buch ist noch nicht lange weg."
Schwere Schritte ließen die Holzdielen beben. Lonnie drückte das Buch fester an sich und suchte einen Fluchtweg. Mit dem Dornenschwanz könnte er sich an ein Regal klammern, sich hinaufziehen und ...
Das Regal wurde umgestoßen und begrub den Detektiv unter sich. Er hörte tiefes Grollen und dann eine wunderschöne, weibliche Stimme, die hässliche Worte sprach: "Was treibt ihr Trottel hier so lange? Wir müssen hier weg, bevor Zerberus die Sphinx riecht."
"Bitte, lasst mich gehen!" Das war Sonjas Stimme. "Ich veröffentliche nicht, ich verspreche es. Nur bitte, lass mich gehen. Ich habe eine Tochter."
"Und wer ist der Kasper da?"
Eine sandgelbe Pranke hob das Regal an und Lonnie krabbelte darunter hervor. Er kam nicht weit, denn ein muskelbepackter, behaarter Minotaurusarm umschlang ihn und hob ihn in die Luft.
Zitternd fand Lonnie sich einer Sirene, der Sphinx mit einer zappelnden Engelin im Maul und fünf Minotauren gegenüber - der sechste hielt ihn gerade fest.
"Er hat gelauscht!", blökte ein Minotaurus.
"Offensichtlich", versetzte die Sirene spöttisch. "Durchsuchen, fesseln, Sack über den Kopf, mitnehmen."
Als die Minotauren den Befehl mit groben Pranken ausführten, beglückwünschte sich Lonnie heimlich zu dem Geistesblitz, das Buch über Sonja einfach zwischen die anderen, aus dem Regal gefallenen Bücher zu quetschen. Erst, als man ihm einen groben Sack über den Kopf zog und er auf eine Minotaurusschulter geworfen wurde, fiel ihm ein, dass der Plan doch nicht ganz so gut gewesen war. Man würde die Regale einfach wieder aufbauen und Sonjas Buch würde nicht fehlen - das wäre der einzige Hinweis für mögliche andere Ermittler gewesen, was der Aufruhr hier zu bedeuten gehabt hatte.
Lonnie atmete flach durch den dicken Stoff, während die Panik in ihm aufstieg. Er konnte Rauch riechen und hörte ferne Schreie, bevor die Minotauren in einen unregelmäßigen Galopp verfielen und die Bibliothek offenbar hinter sich zurückließen. Lonnie und Sonja wurden entführt - und vermutlich würde man ihr Fehlen nicht einmal bemerken!
Dann stieß sein Kopf gegen irgendetwas Hartes und er wurde ohnmächtig.
Kaltes Wasser, das ihm ins Gesicht gekippt wurde, weckte ihn wieder auf. Lonnie hustete, spuckte und robbte orientierungslos nach hinten, um der Flut zu entkommen.
"Vorsicht! Bleib stehen!"
Seine eine Hand griff ins Nichts und er stürzte mit den Schultern auf eine harte Kante. Er drehte den Kopf zur Seite und sah in einen schwindelerregend tiefen Abgrund. Sein Magen drehte sich um.
Jemand zog ihn fort vom Sturz in den sicheren Tod. Als Lonnie das Wasser aus den Augen blinzelte, erkannte er Sonja. Ihre Flügel waren mit mehreren Seilen fest an ihren Körper gekettet. Dann erkannte er, dass sie beide in einem Kerker saßen.
"Wo ... was ...?"
"Wir sind in Babylon." Sonja lachte trocken. "Nach all der Zeit des Suchens hätte ich nicht geglaubt, dass ich sie noch zu sehen bekomme."
"B-Babylon?"
"Die verlorene Stadt? Sitz der Mythika?" Sonja musterte ihn. "Du kennst die Geschichten von Babylon nicht?"
"Also, ich weiß, dass die Stadt vernichtet wurde ..."
"Und Jahrhunderte später neu aufgebaut, an einem versteckten Ort, den niemand je finden würde. Tja, wir aber doch."
"Ist das nicht nur ein Märchen der Eng-" Lonnie klappte den Mund zu.
Sonja schnaubte leise. "Offenbar nicht. Hör zu, ich weiß nicht, wer du bist oder wie du hierher gekommen bist. Aber da hinten ist ein Abfluss und da passt nur du rein. Du hast keine Flügel. Aber wir müssen uns beeilen. Sie kommen bald, um uns hinzurichten, dann solltest du weit weg sein. Suche meine Frau, Conny, und unser Mädchen. Als nächstes werden die Mythika versuchen, sie zu erwischen, weil sie vermuten, dass ich ihnen alles erzählt habe. Und das stimmt. Conny weiß Bescheid und sie muss alles veröffentlichen, sag ihr das."
"Ich bin der, bei dem du gebeichtet hast ..." Lonnie war immer noch benommen von dem Schlag auf den Kopf. "Sie werden dich töten? Ich kann dich nicht einfach hier zurücklassen."
"Doch, du kannst."
Er überlegte kurz. "Du hast recht", gestand er. "Es tut mir leid, Sonja. Ich habe viel zu viel Angst vor dem Nichts, um bei dir zu bleiben."
"Das ist in Ordnung." Der Engel weinte leicht. "Du musst meine Familie retten, bitte. Das ist alles, was zählt. Selbst der Artikel ist nicht so wichtig."
"Welcher Artikel?"
Irgendwo rumste es. Dann näherten sich Schritte.
Sonja zerrte ihn auf die Beine und zu einem schmalen, mit Algen und Unrat verschmiertem Abfluss. Lonnie wurde endgültig wach, als der Engel ihn der Länge nach in das kalte Wasser warf.
"Oh fuck, ich hab Klaustrophobie."
"Geh!", zischte Sonja ihm zu. "Oder willst du sterben?"
Mit einem leisen Stöhnen robbte Lonnie vorwärts, in den Kanal hinein. Tief einatmen könnte er hier nicht. Angesichts des Gestanks war das aber vielleicht auch besser.
Hoffentlich wurde es später nicht noch enger!
"Sonja?", fragte er gedämpft.
"Was?"
"Ich ... ich werde ihnen helfen. Und es tut mir leid, dass ..."
"Geh schon, Teufel. Mach dir keine Gedanken um mich."
Er krabbelte weiter. Ein unsichtbares Band schien sich um seine Brust zu schließen, während er sich mit Händen und Füßen durch den weichen Schlamm schob. Er war mühsame fünf Meter weit gekommen, als er hörte, wie hinter ihm eine Tür geöffnet wurde.
"Sonja Haray! Du wirst uns zur Anhörung begleiten, wo ... NEIN, HOLT SIE VOM ABGRUND WEG! SCHNELL! SCHEISSE!"
Lonnie schloss die Augen und spürte heiße Tränen über seine Wangen rollen.
"Wo ist der verdammte Teufel? Los, durchsucht die Leichen unten. Findet ihn!"