Kritisch wanderte sein Blick über die groß gewachsene Gestalt vor ihm. Als er diesen merkwürdigen Doktor Koch vor einem Monat eingestellt hatte, war dem alternden Direktor durchaus klargewesen, dass er sich da nicht nur einen sehr jungen, sondern einen ebenso unkonventionellen Arzt in seine Einrichtung holte.
Doktor Kochs bisherigen Erfolge sprachen durchaus für sich. Zumal die Empfehlung für den jungen Mann von einem alten Studienkollegen kam, dessen Meinung er sehr zu schätzen wusste. Dass die Auswahl an sonstigen Kandidaten nicht sonderlich groß gewesen war, hatte die Entscheidung zusätzlich beschleunigt.
Langsam glitt sein Blick über die Akte vor ihm auf dem Schreibtisch. Sie war der eigentliche Grund, warum besagter Doktor Koch jetzt hier in seinem Büro saß.
Als Heimleiter müsste er sich nicht um diese Sachen persönlich kümmern. Er könnte sie einfach einem seiner Ärzte überlassen und hoffen, dass der es regelte. Irgendwann. Aber dieser Bewohner war etwas Besonderes.
Weil er selbst ihm als Direktor nahe ging. Er wollte, dass diese Akte nicht einfach nur einen weiteren Patienten darstellte. Sondern dass da zur Abwechslung der Mensch dahinter wichtiger war. Ein Junge, über dessen Leben er hier womöglich entschied.
Trotzdem waren da Zweifel. Letztendlich würde es auf zwei Möglichkeiten hinauslaufen. Entweder es war die einzig richtige Entscheidung oder er würde das Leben dieses Patienten ein für alle Mal aufs Abstellgleis befördern.
„Doktor Koch ...“, setzte der Heimleiter vorsichtig an und warf zögerlich einen Blick zu dem Mann auf der anderen Seite des Schreibtisches.
Der lächelte freundlich und betont gut gelaunt zurück. Irgendwie schien er chronisch gute Stimmung zu verbreiten. Womöglich hatten die Patienten, für die Doktor Koch bisher verantwortlich gewesen war, ihn deshalb so gern.
„Ich hätte hier einen weiteren Fall für Sie.“
„Sehr gut!“, schoss es sofort aus diesem zurück.
Ein Energiebündel on top, dachte der Heimleiter bei sich und hob bereits beschwichtigend die Hand. „Mir ist klar, dass Sie bisher eher gelangweilt sein dürften, von Ihrer Arbeit hier nach Ihrer Zeit in München.“
„Oh, nein! Nein! Sicher nicht. Etwas ... Routine schadet niemandem. Außerdem ist es nett, zur Abwechslung mit erwachsenen Patienten zu tun zu haben“, fügte Doktor Koch feixend und mit einem weiteren Lächeln hinzu.
„Ich wollte eigentlich jemanden von außen hinzuziehen, aber ... Na ja, in Ihrem letzten Arbeitszeugnis wurde sehr deutlich darauf hingewiesen, dass Sie gerade mit etwas ... nennen wir es ‚schwierigeren‘ Fällen unter Jugendlichen ausgesprochen gute Erfolge erzielt haben.“
Weiterhin war da dieses Lächeln, das sich permanent in dem Gesicht des jungen Arztes festgesetzt zu haben schien. Trotzdem wirkte es mit einem Mal wie festgefroren.
„Doktor Riemeyer war sehr zufrieden mit meiner Arbeit.“
Der Heimleiter nickte und rieb sich über die Augen. „Ich weiß ... Er hat aber auch nicht vergessen, zu erwähnen, dass Sie dazu tendieren etwas ... ‚unkonventionelle‘ Ansätze zu gehen.“
Diesmal verschwand das Lächeln und stattdessen rutschte der junge Mann auf seinem Stuhl hin und her. Die Art und Weise, wie er dabei nicht mehr so recht zu wissen schien, wo er mit seinen Händen hinsollte, wirkte merkwürdig belustigend. Denn diese Nervosität passte nicht zu dem Bild des großen und kräftigen Kerls, der da in seinem Besucherstuhl hockte.
„Manchmal ... brauchen Patienten etwas mehr als das 08/15 Therapiegespräch“, presste Doktor Koch schlussendlich heraus. „Wenn alle Probleme einer kaputten Seele so einfach zu lösen wären, gäbe es keine ‚schwierigen Fälle‘ mehr. Oder?“
Der Heimleiter nickte und spielte erneut mit der Akte auf seinem Schreibtisch. Ein wahres Wort. Genau deshalb hatte er Doktor Koch ja hierher rufen lassen. Weil seine anderen Ärzte nicht mehr weiterkamen mit diesem einen Patienten. Und er selbst nicht bereit war, den Jungen aufzugeben.
Auch wenn der Kollege Riemeyer in den höchsten Tönen von Doktor Koch geschwärmt hatte, waren dessen Methoden – so erfolgreich sie zu sein schienen – nicht immer nachvollziehbar. Aber sie funktionierten offensichtlich. Für den Patienten in Zimmer 403 war das womöglich das Einzige, was zählte.
Er hob die Akte und hielt sie Doktor Koch hin. „Dann sehen Sie doch bitte, was Sie für diese kaputte Seele tun können.“