Kapitel 17 – Andere Bitte
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Als Alan am nächsten Morgen zum Dienst fuhr, hätte er sich am liebsten krankgemeldet. Die ganze Nacht hatte er wach gelegen, weil ihm Paul und dessen Worte nicht mehr aus dem Kopf gingen. Ihm war durchaus bewusst, dass Paul es nicht böse gemeint hatte, es nur nicht besser wusste, aber der Vorwurf schmerzte trotzdem. Eben stieg Alan aus dem Auto, da packte ihn jemand mit kräftiger Hand und stieß ihn schmerzhaft hart zurück gegen den Wagen.
„Was hast du angestellt?!“, fauchte André ihn erbost an.
„Gar nichts!“, rief Alan erschrocken und schüttelte die kräftigen Hände seines Freundes mit Leichtigkeit ab. André war kein Schwächling, aber gegen Alan hatte er in Bezug auf Kraft trotzdem schlechte Karten.
„Wieso klingelt Paul dann bitte Ricky noch vor acht aus dem Bett, weil er mit ihm ‚reden‘ muss?!“
‚Verdammt!‘
Alan rieb sich über die müden Augen und seufzte. Das hätte er sich eigentlich denken können. Aber mit seiner Denkleistung sah es derzeit nicht sonderlich rosig aus – schon gar nicht heute Morgen. Und letzte Nacht erst recht nicht, da hatte ja nur noch der Fluchtinstinkt in ihm zugeschlagen. Das hieß aber lange nicht, dass er sich von André hier herumschubsen ließ. Trotzig drückte er diesen ein Stück weiter von sich weg.
„Ich war nicht dabei, wie du sicherlich weißt. Ich kann dir entsprechend nicht sagen, was Paul von Rick will.“
André schnaubte, trat dennoch einen Schritt zurück. „Ricky sagt mir nicht, worum es ging. Nach unserem kleinen Gespräch gestern dürfte aber wohl klar sein, dass du verbohrter Trottel mal wieder vorschnell irgendeinen Mist gebaut hast!“
Die Müdigkeit machte Alan zu schaffen. Mit André wollte er in diesem Zustand sicher nicht streiten. Um genau zu sein, hatte er grundsätzlich keine Lust, sich mit dem Kerl verbal anzulegen. Denn das endete im Gegensatz zu körperlichen Auseinandersetzungen meistens damit, dass Alan verlor und André ihm das bis in alle Ewigkeiten auf die Nase band.
„Was ist los, Alan? Ich dachte, das zwischen euch funktioniert.“
Andrés Stimme war wieder ruhig, fast traurig und fürsorglich. Erinnerte nur zu sehr an längst vergangene Zeiten, denen ganz sicher keiner von ihnen beiden wirklich nachtrauerte. Aber Alan zuckte nur schweigend mit den Schultern.
„Was ist gestern noch passiert? Hast du mit Paul gesprochen?“
Alan seufzte und sah zu Boden. „Ich hab’s versucht“, antwortete er irgendwann ausweichend. „Aber … es war der falsche Zeitpunkt.“
„Und dann?“
„Hab ich Paul in sein Zimmer zurückgebracht“, presste er hastig heraus.
Vorsorglich vermied Alan es, André anzusehen. Was genau dort passiert war, würde er lieber nicht sagen. So sehr er André als seinen Freund schätzte, es gab Dinge, die sollte auch dieser besser nicht erfahren.
Als keine weitere Frage folgte, wagte Alan für einen Moment zu hoffen, dass das Gespräch damit zu Ende war. Doch André machte ebenso wenig Anstalten zu verschwinden, sah ihn nur schweigend und mit herausforderndem Blick an.
Wie so oft, wenn er nervös wurde, wanderte Alans Hand wieder einmal zu seiner linken Wange und rieb darüber. Dabei fielen ihm die Haare weiter ins Gesicht und sofort erinnerte ihm das an Pauls Kommentar dazu. Ein Zittern lief durch seinen Körper, das André nicht entging. Langsam trat der an Alan heran und legte seinen Arm um dessen Schultern. Als der sich nicht wehrte, zog er schließlich ihn fester an sich.
„Was ist passiert?“, fragte André flüsternd.
„Er wollte wissen, warum meine Haare so lang sind“, flüsterte Alan, darum bemüht nicht so weinerlich zu klingen, wie er sich fühlte. Immerhin war er ein Mann und ganz sicher kein Weichei! Typen wie er klangen nicht dermaßen jämmerlich!
André hingegen zog zischend den Atem ein und ahnte Schlimmes. „Was hast du ihm gesagt?“
„Nichts …“
Keine Antwort, aber die Umarmung löste André ebenfalls nicht.
„Er hat das Gefühl, ich verstecke mich hinter ihnen.“
Ein Seufzen neben seinem Ohr, während die Arme um fester gezogen wurden.
„Ach, Alan, verdammt noch mal …“
Ein Teil von ihm wollte André wegstoßen. Das hier war erbärmlich, geradezu jämmerlich. Er sollte sich so aufführen. Aber das war auch diese andere Seite, die die nur zu gern akzeptierte, dass dieser Mann ihn viel zu gut kannte. Dass er genau wusste, was passiert war und weshalb Paul bei der ersten sich bietenden Gelegenheit bei Rick durchgeklingelt hatte.
„Wieso erklärst du es ihm nicht einfach?“
Alan schüttelte heftig den Kopf. Seine Stimme war rau von aufsteigenden Emotionen: „Ich will nicht, dass Paul mich wie alle anderen ansieht. Nicht er …“
„Er kann dich gar nicht sehen!“, fuhr André ihn schneidend an, hielt Alan aber noch immer an sich gepresst. „Jedenfalls bisher nicht. Im Übrigen sehe ich dich auch nicht so an. Und Ricky genauso wenig.“
„Erzähl mir keinen Scheiß, André!“, zischte Alan, als die Wut nun doch schlagartig in ihm hochkochte.
Er stemmte sich gegen André, schaffte es am Ende aber dennoch nicht, sich selbst davon zu überzeugen, das er sich aus der zu vertrauten Umarmung lösen musste.
Alans Stimme war leise, der Vorwurf allerdings nicht zu überhören: „Willst du behaupten, du hast nicht mit Rick vor unserer ersten Begegnung darüber gesprochen?“
Für eine Sekunde zogen sich Andrés Arme zunächst fester, bevor sich dessen Griff lockerte und er sich von Alan löste.
Mit beiden Händen umfasst André Alans Gesicht und zwang diesen dazu, ihm in die Augen zu sehen. „Du weißt, dass ich Ricky nichts sagen würde, was ihn nichts angeht.“
Alan schwieg. Ja, er wusste, dass André sein Vertrauen nicht so gründlich missbrauchen würde. Trotzdem war er sich sicher, dass irgendein Gespräch vor ihrem Treffen stattgefunden hatte. Und die Tatsache, dass André es nicht leugnete, schien Bestätigung genug. Im Moment war Alan aber zu müde, um diese Diskussion zu führen. Und vor allem war er zu erschöpft für die beschissenen Gefühle, die es schon wieder in ihm hochkochen ließ.
„Ich dachte, du hättest das hinter dir, Alan“, flüsterte André leise, während er sich über den Nacken fuhr.
Sofort senkte Alan erneut den Kopf, starrte auf einen Fleck im Asphalt, weil er den Blick in den Augen seines alten Freundes nicht ertragen konnte: „Er wird die Operation machen lassen.“
„Hat Paul das gesagt?“
Kopfschüttelnd fuhr Alan fort: „Nein, aber ich weiß, dass er es will. Und er wird sich diese Chance nicht entgehen lassen.“
Andrés Gesicht verfinsterte sich und seine Stimme war kühl, als er fragte: „Und dann?“
Achselzuckend wich Alan weiterhin dem Blick seines alten Studienfreundes aus. Er hatte keine Ahnung, was passieren würde, er wusste nur, wovor er Angst hatte.
„Wenn dir tatsächlich so viel an Paul liegt, lässt du ihn das ja wohl nicht alleine durchstehen.“
Alan schüttelte den Kopf. Was für ein absurder Gedanke.
„Falls nicht, sag es ihm vorher.“
Ein Schnauben entkam Alan, als er erneut mit den Schultern zuckte. „Was soll das, André? Du weißt, dass ich ihn nicht alleine lassen werde. Darüber würde ich nicht einmal nachdenken.“
Mit einem breiten Lächeln nahm André seinen Kopf in beide Hände und drückte ihm einen kurzen Kuss auf die Stirn. „Dann hör auf Probleme zu sehen, wo keine sind. Du weißt, dass du immer zu mir kommen kannst, wenn du jemanden brauchst, der dir deinen Sturkopf zurechtrückt.“
Alan lachte bitter auf und nickte. Ja, das wusste er nur zu gut.
„Und jetzt sieh zu, dass du zum Dienst kommst, ich habe dich lange genug aufgehalten“, fuhr André, fort als er Alan Richtung Klinik schubste. „Und rede mit Paul! Sag ihm endlich, was du wirklich für ihn empfindest. Ich habe keine Lust, in Zukunft öfters so früh rausgeklingelt zu werden, weil der Kleine meinen Mann als Sorgenhotline benutzt!“
Erneut lachte Alan, diesmal allerdings deutlich verhaltener. Wie sollte er das anfangen? Er müsste doch Pauls Stütze sein in dieser Zeit. Wenn er Paul alles erzählte, würde er dem aber nur noch mehr Probleme aufhalsen.
Trotzdem nickte Alan stumm, während er sich wie befohlen auf den Weg zur Arbeit machte. Die Sorgen blieben, aber vielleicht fand sich ja doch ein Weg, wie er Andrés Rat beherzigen konnte. Schließlich hatte dieser Alan schon einmal zurück auf den rechten Pfad geholfen.
Nachdenklich drehte er sich um und sah zum Parkplatz. André war jedoch verschwunden, vermutlich inzwischen auf dem Weg zur Arbeit – oder zurück zu Ricky. Einen Moment lang überlegte Alan, was er sich selbst raten würde, wenn er ein Patient wäre. Was würde der Therapeut in ihm vorschlagen? Die Antwort kam schnell und schaffte es, ein weiteres Lächeln auf seine Lippen zu treiben.
Ja. Es war Zeit.
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Das Gespräch mit Ricky hatte Paul nicht weitergebracht. Vor allem war dieser erst einmal stinksauer gewesen, dass er ‚so früh‘ geweckt worden war. Aber zum Glück hatte er Paul nicht zum Teufel gejagt, sondern trotzdem mit diesem geredet. Leider war Ricky nicht bereit, über Alan mit ihm zu reden – jedenfalls nicht bezüglich der Fragen, die Paul zur Verzweiflung brachte. Wenigstens Ricky ihm versichert, dass er sich nicht so viele Sorgen machen, sondern sie lieber erst einmal reden sollten. Trotz allem war Paul mehr denn je verunsichert. Wieso war Alan gestern förmlich vor ihm geflohen? Nur wegen diesem blöden Kommentar über seine Haare? Das würde einen gestandenen Mann wie Alan doch wohl kaum derartig aus der Bahn werfen.
Aber was war es dann?
Paul seufzte und ließ sich auf sein Bett zurückfallen. Mit einer Hand tastete er nach dem Wecker, um sich die Uhrzeit sagen zu lassen. Neun Uhr, er hatte über eine Stunde mit Ricky gesprochen und rein gar nichts erfahren. Immer wieder hatte der Paul versichert, dass mit Alan alles in Ordnung war und er sicher kein entstelltes Monstrum war. Bei allem Weiteren hielt Rick sich jedoch zurück.
Das hatte Paul sich aber eh schon gedacht. Das, was er sich unter einem ‚Monster‘ vorstellt, hätten seine Hände bei Gelegenheiten wie letzter Nacht längst gespürt. Außerdem ging es ihm darum sowieso nicht. Es war ihm egal, wie Alan aussah. Okay, nicht völlig egal, aber da war garantiert keine irgendwie geartete Makel, die Paul ernsthaft abschrecken würde. Denn die wäre seinen tastenden Händen längst aufgefallen. Seine Finger glitten über die glatte Oberfläche des Handys. Er war versucht Alan anrufen, aber der war inzwischen garantiert in der Tagesklinik. Es widerstrebte Paul, seinen Freund bei der Arbeit zu stören.
Alan arbeitete ohnehin nicht Vollzeit, damit er öfter bei Paul sein konnte. Falls er ihn jetzt womöglich mitten in einem Therapiegespräch störte, dann würde sein Freund am Ende den Ärger bekommen. Erst recht wenn es aus einem so banalen, privaten Grund war.
Deshalb legte Paul das Handy beiseite und stand auf. Alan hatte vor ein paar Wochen mit der Heimleitung vereinbart, dass Paul alleine aufstehen und zum Frühstück gehen durfte. Aus diesem Grund hatte Alan ihm diesen Wecker besorgt, der bei Bedarf die Uhrzeit ansagen konnte.
Ein weiteres Mal drückte Paul die Taste. Überrascht stellte er fest, dass schon fast eine halbe Stunde vergangen war. Wenn er sich jetzt nicht langsam auf dem Weg zum Frühstück machte, würde doch jemand kommen um nach ihm zu schauen. Also schlurfte Paul schnell zum Bad und wusch sich den Schweiß der letzten Nacht runter. Die Abläufe waren ihm inzwischen so in Fleisch und Blut übergegangen, dass er schon zehn Minuten später fertig angezogen aus der Tür trat und sich auf in Richtung Speisesaal machte.
Er hatte Glück und bekam gerade noch etwas, bevor das Essen endgültig abgeräumt wurde. Gelangweilt saß Paul vor seinem Teller und kaute auf dem inzwischen pappig gewordenen Toast herum. Das Essen hier schien mit jedem Tag schlechter zu werden. Vielleicht lag es heute aber nur an der fehlenden Gesellschaft.
Paul grinste, als er daran dachte, wie er vor inzwischen über einem halben Jahr hier zum ersten Mal mit Alan gesessen und der ihm förmlich ein Ohr abgekaut hatte mit seinem Gelaber. Mit einem Mal schien das so unendlich lange her zu sein. Dabei waren es doch nur ein paar Monate. Mit einem Seufzen schob Paul den Teller mit den Resten von sich weg. In Kürze würde jemand kommen und ihn wegschaffen, in die Küche, ihn reinigen und spätestens zum Abendessen etwas Neues darauflegen.
Alles Routine, alles normal, alles jeden Tag gleich. Und trotzdem bestand Pauls einziger Anteil an diesem Kreislauf darin, dass er da war und das Essen, das jemand für ihn gekocht hatte, den er nicht mal kannte, in sich reinschaufeln würde.
„Herr Feldmann?“, sprach ihn plötzlich eine Frau an. Er erkannte ihre Stimme. Sie arbeitete hier, aber er konnte ihr spontan keinen Namen zuordnen. „Sind Sie fertig?“ Er nickte und die hörte, wie die Frau seinen Teller nahm und ihn in den Kreislauf zur Küche zurückbrachte.
Paul selbst blieb sitzen und wusste nicht so recht, was er mit sich anfangen sollte. An manchen Tagen hatte er Therapiesitzungen - inzwischen nicht nur für seine Psyche und nach Alans Kündigung keine einzige mehr bei diesem. Seit Kurzem kam einmal die Woche eine Frau vorbei, die versucht hatte, ihm die Blindenschrift beizubringen. Doch heute stand nichts auf Pauls Programm. Das waren die Tage, die er am meisten hasste – an denen er dieses Heim verabscheute.
Letztendlich ließ Paul sich hier aber trotzdem freiwillig einsperren. Weil er zu feige war einzusehen, dass diese verdammte Dunkelheit nie wieder weggehen würde. Und ja, er konnte das nicht akzeptieren. Erst recht nicht jetzt, wo es eine Chance gab, das zu ändern. Paul hatte es letzte Nacht Alan nicht gesagt, aber vermutlich konnte der sich inzwischen denken, dass er sich längst für die Operation entschieden hatte.
Er konnte nicht anders. Dreißig Prozent Chance, dass er zumindest ein klein wenig mehr von seiner Umwelt erkennen konnte, dass er Alan würde sehen würde. Vielleicht würde es so keine merkwürdigen Missverständnissen mehr geben, wie vergangene Nacht. Und womöglich würde Paul damit endlich über seinen Schatten springen und diesen einen letzten Schritt wagen, den er bis dato vermieden hatte.
Bis zum Nachmittag verbrachte Paul seinen Tag mit den sich immer wieder im Kreis drehenden Gedanken. Unterbrochen wurde er nur einmal von einer älteren Dame, die jemanden brauchte, der ihren etwas abstrusen Geschichten zuhörte. Da ihre Stimme nicht unangenehm war und Paul ja ohnehin nichts Besseres zu tun hatte, lauschte er ihren Erzählungen bis zum Mittagessen.
Danach war die alte Dame verschwunden und Paul wusste nicht so recht, was er mit sich anfangen sollte. Es war vermutlich noch immer zu früh, um Alan anzurufen. Deshalb stand er auf und tastete sich schlurfend zurück in den Korridor zu seinem Zimmer. Als er dort angekommen war, fühlte Paul sich aber nicht besser. Er schnappte sich seine Jacke aus dem Schrank und lief weiter den Gang entlang bis zu der großen Freifläche vor den Aufzügen.
Der Weg über diese Fläche ließ ihn jedes Mal zögern, weil er keine Orientierungspunkte hatte. Aber er wusste inzwischen, dass es genau zehn Schritte von der Ecke des Korridors bis hinüber zu den Fahrstühlen waren. Als er die Knöpfe vom Aufzug problemlos fand und es bis ins Foyer im Erdgeschoss schaffte, kam Paul nicht umhin etwas stolz auf sich selbst zu sein.
Wirklich zufrieden war er allerdings erst, als er einige Minuten später im Garten des Heimes saß und die Sonne auf seinem Gesicht spürte. Der Wind war zwar kühl geworden, aber bei Sonnenschein fühlte es sich an, als wäre es eine Ewigkeit hin bis zum Winter. Dabei war inzwischen schon Ende Oktober. In Kürze stand sein 21. Geburtstag an und es sah so aus, als ob der Wintereinbruch sich dieses Jahr extra Zeit lassen würde.
Paul hätte nicht sagen können, wie lange er im Garten saß, aber irgendwann legte sich ein Schatten auf ihn, als sich jemand neben ihn auf die Bank setzte. Ein Lächeln huschte über Pauls Lippen und er ließ sich zur Seite fallen, bis sein Kopf gegen den Oberarm seines Sitznachbarn stieß.
„Was, wenn ich irgendein alter perverser Sack wäre, der dir nur an die Wäsche will?“
Paul lachte und griff als Antwort nach dem kräftigen Bizeps, an dem er lehnte. „Bist du das etwa nicht?“
Alans Lachen war beruhigend und ersetzte die unbestimmte Traurigkeit, die Paul den ganzen Tag begleitet hatte sofort mit einem glücklichen Kribbeln. „Ich bin gerade mal 27, also ‚alt‘ finde ich das nicht.“
Erneut lachte Paul und drückte den Arm unter seiner Hand fester. „Aus meiner Sicht …“ Er beendete den Satz bewusst nicht und erntete dafür ein entrüstetes Schnauben seines Freundes. „Immerhin leugnest du den Perversen, der mir nur an die Wäsche will nicht.“
„Nein, den würde ich nie leugnen“, antwortete Alan.
Da war eine Leichtigkeit in der Stimme, die sein merkwürdiges Verhalten von letzter Nacht noch ungewöhnlicher erscheinen ließ. Eine Weile schwiegen sie. Nach einigen Minuten griff Alan jedoch nach Pauls Hand, die auf seinem Bizeps gelegen hatte.
„Du wirst die OP machen lassen.“
Es war keine Frage, sondern eine Feststellung und zunächst wusste Paul nicht, was er dazu sagen sollte. Alan holte tief Luft.
Erst nach gefühlt endlosen weiteren Sekunden fuhr er fort: „Ich möchte, dass du weißt, dass ich immer für dich da sein werde, so lange du mich haben willst.“
„Wie … meinst du das?“, fragte Paul verunsichert nach.
„Ich meine, dass ich …“, Alan stockte. Als er schließlich fortfuhr, war es allerdings Paul, dem es die Sprache verschlug. „Ich denke, ich habe mich in dich verliebt, Paul. Und ich kann den Gedanken nicht ertragen, dass irgendwas schiefgeht dabei …“
Der versuchte zu widersprechen, doch Alans Zeigefinger an seinem Mund bedeutete ihm still zu sein.
„Aber ich weiß auch, dass du das brauchst, Paul. Und dass du niemals wirklich glücklich sein kannst, wenn du diese Möglichkeit jetzt nicht ergreifst. Also … werde ich alles tun, was ich kann, damit deine Chancen so groß wie möglich sind.“
Nervös hob Paul seine rechte Hand und suchte nach Alans Gesicht. „Du bist nicht sauer?“
Der lachte, schüttelte den Kopf. „Natürlich nicht. Und … es tut mir leid, dass ich gestern einfach abgehauen bin, Paul. Ich … habe aber eine Bitte an dich. Würdest du zumindest drüber nachdenken?“
Paul war sich nicht sicher, was jetzt kommen würde. Trotzdem nickte er. Er konnte hören, wie Alan tief Luft holte, als hätte er Angst seine Bitte auszusprechen.
„Ich ... Würdest du zu mir ziehen?“, stammelte die sonst so selbstsichere Stimme neben ihm.
„Was?“
Alan ergriff Pauls Hände und drückte sie sanft. „Nichts gegen dein Zimmer, aber das Bett ist so verflucht klein und ich darf eigentlich nicht mal hier sein. Und … Ach verdammt, ich möchte einfach jeden Abend neben dir einschlafen können. Erst recht, ohne jedes Mal Angst haben zu müssen, dass ich mich dafür bei der Heimleitung rechtfertigen muss.“
Es war nicht nur die Überraschung, die Paul davon abhielt, zu antworten. Bisher hatte er sich bewusst dafür entschieden, im Pflegeheim zu bleiben. Er wollte Alan nicht zur Last fallen. Nur zu gut hallten ihm die Worte seines Exfreundes nach. Es war inzwischen schon fast ein Jahr her, dass Jannik Paul gesagt hatte, er könnte nicht mit einem Blinden zusammenleben, das wäre zu eine zu große Belastung. Für Alan war es scheinbar nicht zu viel verlangt. Der hatte ihn hier im Heim lange genug betreut, um genau zu wissen, auf was er sich einlassen würde. Und trotzdem wollte er das auf sich nehmen. Paul wusste in dem Moment einfach nicht mehr, was er sagen sollte, so viele Emotionen wallten plötzlich in ihm auf.
„Denk bitte drüber nach, okay?“, bat Alan erneut, nachdem Paul nicht antwortete.
Die Enttäuschung war jedoch auch in der leisen Stimme kaum zu überhören.
„Du könntest hier weiterhin in die Tagesklinik gehen, wenn du die alten Leutchen andernfalls zu arg vermisst.“
Jetzt konnte Paul doch nicht mehr an sich halten und fiel Alan lachend um den Hals. Der drückte ihn fest an sich, so als könnte er allein dadurch sicherstellen, dass Paul nichts passieren würde. Dieser wiederum klammerte sich mindestens ebenso fest an seinen Freund und genoss das Gefühl, den Weg, für den er sich entschieden hatte, nicht allein bestreiten zu müssen.
„Bist du sicher, dass du das willst?“, fragte Paul weiterhin unentschlossen, ob er diese Bürde jemandem auferlegen durfte.
„Natürlich! Sonst hätte ich es wohl kaum vorgeschlagen.“
Da packte Paul Alans Hinterkopf und wie von allein fanden seine Lippen in der Dunkelheit die seines Freundes. „Dann würde ich auch sehr gern in Zukunft jeden Abend neben dir einschlafen wollen“, brachte Paul heiser flüsternd heraus, bevor Alan als Antwort erneut seine Lippen suchte.
Gerade wollte der ihren Kuss vertiefen, da hob Paul schwer atmend und etwas irritiert seinen Kopf. Seine Hände wanderten tastend über Alans Haarschopf und hielten an dessen Wangen an.
„Du hast dir die Haare geschnitten“, stellte er verwundert fest. „Warum?“
Er konnte das Lächeln an Alans Mundwinkel fühlen, als der den Blick senkte und stattdessen Paul auf seinen Schoß manövrierte, wo er ihn deutlich besser an sich ziehen konnte. „Weil du recht hattest“, gab er leise zu.
„Ich verstehe nicht.“
Alan seufzte, als er seine Stirn gegen Pauls Schulter lehnte. „Wenn du diese Operation machen lässt und danach wieder sehen kannst … Ich will, dass du dann mich siehst.“
Paul verstand es noch immer nicht, aber er nickte trotzdem. Denn er hoffte, dass er es verstehen würde, wenn er Alan endlich sehen konnte. Bis dahin würde er warten – und offensichtlich einen Umzug planen.