Teil 2: Düsteres Verlangen
Kapitel 5 – Unangemessene Gedanken
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„Du bist ja schon wach ... wie schade.“
Alan war sich ziemlich sicher, dass es ihm nicht gelang, seine Enttäuschung aus der Stimme heraus zu halten. So ungern er es zugab, aber der Moment, wenn er es schaffte, seinen Schützling aus einem tiefen Schlummer zu holen waren eindeutig die besseren Tage.
Dabei ging es weniger darum, den armen Paul aus dem Schlaf reißen zu können. Eine sadistische Veranlagung hätte Alan sich zumindest selbst nicht bescheinigt. Nein, es war vielmehr die Tatsache, dass es noch immer zu viele Nächte gab, in denen Paul nicht schlafen konnte. Der Grund war stets der gleiche. Obwohl er junge Mann vor ihm das genug zugab.
„Habe nicht so gut geschlafen“, antwortete Paul lapidar und richtete sich auf.
Eine unerwartete Bestätigung dessen, was Alan bereits befürchtet hatte. Zögerlich glitt sein Blick über den nackten Oberkörper des jungen Mannes vor ihm. Paul war sportlich. Obwohl er behauptete, nie in einem Verein gewesen zu sein. Selbst nach all den Monaten ohne große Bewegung war er noch immer schlank. ‚Zierlich‘ hätte man ihn sicherlich nicht nennen können, aber den anhaltenden Müßiggang konnte man Paul dennoch nicht ansehen.
Leider war auch das etwas, das Alans Schützling weder akzeptieren noch verstehen wollte. Entgegen allen Versicherungen war Paul weiterhin überzeugt, dass er einen grauenhaften Anblick darstellen würde, entstellt wäre. In Alans Augen war da nichts auf diesen nicht ganz 1,80 Meter, das irgendjemand wirklich abschreckend finden könnte. Ein trauriges Lächeln huschte über seine Lippen, bei diesem Gedanken.
Wenn Paul nicht sein Patient wäre, würden sie womöglich andere Gespräche führen. Unter Umständen würden sie auch gar nicht reden, sondern ganz andere Dinge tun. Dinge, über die Alan aber lieber nicht nachdachte. Um Paul aus seinem Schneckenhaus zu locken, war er bereits mehrmals an Grenzen gegangen, die man ihm ausgesprochen negativ hätte auslegen können. Überschreiten sollte er die besser nicht auch noch. Die Gnade des Heimleiters dürfte Grenzen haben.
Alan schloss für einen Moment die Augen. Als er sie wieder öffnete, war die Professionalität zurück. „Albträume?“, fragte er leise.
Eine Antwort bekam Alan allerdings nicht. Wenigstens vorerst nicht. Stattdessen saß Paul einfach nur da. Als hätten sie in den letzten drei Monaten, in denen Alan offiziell der Psychotherapeut dieses jungen Mannes war, keinerlei Fortschritte gemacht.
Nun, das stimmte nicht ganz. Immerhin hatte er Paul inzwischen dazu gebracht, ihm etwas zu vertrauen. Nicht viel, aber mehr als seine Vorgänger geschafft hatten. Wenigstens redete er ab und zu mit Alan. Kleine Fortschritte, dennoch Schritte in die richtige Richtung. Bei Fällen wie Paul waren die das Einzige, was zählte.
Zwar war Alan die selbst gewählte Isolation in gewisser Weise verständlich, aber weder als Pauls Arzt noch als sein Vertrauter, begriff er, warum der sich so beharrlich gegen ein neues Leben wehrte. Die Möglichkeiten waren da. Der Heimleiter hatte deutlich gemacht, was er sich von Alan erhoffte. Er wollte, dass Paul zurück ins Leben kam, wieder selbstständig wurde, irgendwann aus diesem Heim entlassen werden konnte. Etwas, was die meisten, die hierher kamen, nie schaffen würden. Bei Paul hatte der Heimleiter noch Hoffnung.
Langsam trat Alan auf seinen Schützling zu. Gerade wollte er ansetzen, um Paul erneut zu fragen, da stockte Alan. Die zusammengepressten Lippen, die gerunzelte Stirn – da würde er heute keine Antwort bekommen.
Die fehlenden Sozialkontakte waren das eine. Im Grund genommen machte Paul aber den ganzen Tag nichts, außer sinnlos im Aufenthaltsraum zu sitzen. Das stoische Ertragen der Langeweile schien so gar nicht zu dem jungen Mann zu passen. Trotz allem weigerte dieser sich, irgendetwas Weitreichenderes an der Situation zu ändern.
Was Paul bräuchte, wäre Gesellschaft, davon war Alan fest überzeugt. Dass wenigstens er selbst als eine solche inzwischen akzeptiert wurde, war ein Fortschritt. Was Paul am allermeisten brauchte, war dennoch ein Mensch, dem er wirklich vertraute und der ihn aus seinem Kokon herausholte.
So gern Alan das für Paul wäre, musste er sich selbst immer öfter fragen, ob dieser Wunsch seiner professionellen Meinung als Arzt oder nicht vielmehr einem persönlichen Empfinden entsprang. Denn eines hatte Alan sich inzwischen eingestehen müssen. Pauls Schicksal ließ ihn nicht so ungerührt, wie er sein sollte.
‚Nur ein Patient.‘
Das waren die Worte geworden, die Alan sich täglich mehrmals vorbeten musste. Dabei waren es genau diejenigen, die er nicht denken wollte. Wenn Paul nur irgendein Patient wäre, dann dürfte Alan gar nicht hier sein. Weder zum Wecken noch zum ins Bett bringen. Das waren schließlich Dinge, die in den Aufgabenbereich eines Pflegers fielen.
Etwas, was er nicht war, auch wenn Alan in den letzten Monaten quasi täglich so getan hatte. Neben seiner eigentlichen Arbeit hier im Heim. Die bestand, obwohl Paul das manchmal mit einem schüchternen Grinsen sagte, nun einmal nicht aus der Betreuung nur eines einzelnen Patienten.
Nachdenklich beobachtete Alan, wie Paul sich endlich vom Bett nach oben drückte. Er schwankte kurz, streckte aber den Arm nicht aus. Also hielt sich Alan schweigend zurück. Rieb sich stattdessen über die müden Augen. Die langen Tage fingen allmählich an, Spuren zu hinterlassen. Körperlich, wie seelisch. Das war nicht gut. Als Arzt musste er neutral bleiben, auf Abstand.
Als Alan den gesenkten Lockenkopf seines Schützlings sah, war genau das aber mal wieder reichlich schwer.
Augenscheinlich hielt Paul weiterhin instinktiv an seiner alten Körpersprache fest. Sobald der junge Mann nervös wurde oder ihm irgendetwas peinlich war, sah er automatisch zur Seite weg. Und er sah zu Boden, wenn er bedrückt war. Am liebsten hätte Alan Paul in den Arm genommen, ihm über den Kopf gestrichen und gesagt, dass alles gut werden würde, dass die Albträume irgendwann verschwanden.
Das wäre allerdings falsch. Vor allem wäre es eine Lüge, denn Alan konnte Paul nicht versprechen, dass die bösen Träume eines Tages vorbei waren – egal wie er es diesem wünschte. Abgesehen davon, wäre das ein weiterer Schritt an den Rand dessen, was andere als „unprofessionell“ bezeichnet hätten. Vermutlich nicht ganz zu Unrecht. Eine Umarmung war mehr als grenzwertig. Ebenso wie manche der Blicke, die Alan ehrlichweise nach einem langen Arbeitstag eben doch bereits riskiert hatte. Die sah schließlich zum Glück niemand, erst recht nicht Paul selbst.
‚Abstand wahren!‘, ermahnte Alan sich und drehte sich zur Seite.
Egal wie schwer ihm das manchmal fiel. Wenn er sich zu sehr an Paul band, würde Alan mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht mehr von ihm loskommen. Er kannte sich selbst nur zu gut, wusste, dass er sich viel zu oft schon zu schnell in Dinge verrannt hatte.
‚Es geht um Paul‘, ermahnte Alan sich ein weiteres Mal.
Trotzdem fragte er sich nicht zum ersten Mal, ob er schon zu nah war. Seit drei Monaten betreute er Paul. Die Fortschritte waren überschaubar. Vielleicht war Alan am Ende eben doch der falsche für diesen Fall. Womöglich wäre es besser, ihn abzugeben.
„Alan?“
Die verhaltene Stimme riss ihn zurück in die Realität, zurück zu der Tatsache, dass er eben doch wenigstens eines erreicht hatte. Paul vertraute ihm, verließ sich auf ihn. Den Fall abzugeben, würde all das zerstören. Er hatte Paul ein vorschnelles Versprechen gegeben, als er dessen Therapie begann. Das würde Alan um keinen Preis brechen. Es ging um Pauls Leben. Irgendwie würde er selbst schon klarkommen.
„Ich bin hier.“
Also vergrub Alan die Ansätze von dem, was ohnehin nicht sein durfte, wieder tief in sich drinnen. Eine alte Gewohnheit aus den Tagen, an denen er sich noch keine Gedanken um berufliche Professionalität machen musste.
‚Es geht nur darum, dass er irgendwann wieder ins Leben zurückfindet.‘
Aktuell ging es allerdings eher darum, dass Paul endlich ins Bad kam. Also ergriff Alan den ihm entgegengestreckten Arm und führte seinen Schützling in Richtung Bad.
„Willst du es mir nicht sagen oder kannst du dich nicht erinnern?“
Ein Schulterzucken während Paul langsam neben ihm her schlurfte. „Ich kann mich nicht mehr erinnern“, meinte er lapidar.
Eine weitere Lüge. Diesen gehetzten Ausdruck hatte er schon oft in dem für Pauls Alter oft zu ernsten Gesicht gesehen. Beinahe jeden Morgen, um exakt zu sein. Selten war er jedoch so klar wie heute. Es war nicht schwer, sich vorzustellen, welche Albträume den jungen Mann plagten.
Alan beobachtete seinen Patienten kritisch, während sie das Bad betraten. Inzwischen würde Paul den Weg ohne Hilfe finden, aber bei jedem Schritt, bei dem er nicht die Hand oder den Arm eines anderen hielt, wurde er nervös und fing an zu straucheln.
Im Augenblick wirkte Paul eher bedrückt und niedergeschlagen. Zu dem Zeitpunkt, als Alan ihn vor drei Monaten zum ersten Mal kennengelernt hatte, war Paul ebenfalls in sich gekehrt gewesen. Doch zwischenzeitlich hatte sich seine Laune gebessert. Man konnte ihn mancher Tage als gut gelaunt, phasenweise beinahe ‚fröhlich‘ bezeichnen. Etwas, das man Paul heute Morgen nicht zutrauen würde.
Wie jeden Tag führte Alan seinen Schützling bis zum Waschbecken und überließ ihn dort sich selbst. Doch diesmal blieb Paul zögernd stehen.
Alan hatte sich auf die Toilette gesetzt und beobachtete seinen Patienten. Wenn es Probleme gab, musste er jederzeit eingreifen können, damit Paul sich nicht verletzte. Ein Zugeständnis, dass Alan dem Heimleiter dafür gegeben hatte, dass er diese Aufgabe übernahm, anstatt Paul einem weiteren quasi anonymen Pfleger zu überlassen.
Alans Argumenten hatte der Heimleiter nichts entgegenzusetzen gehabt. Der hatte ihn in diesem Fall hinzugezogen, weil er besorgt um Pauls seelischen Zustand war, ihn für depressiv und selbstzerstörerisch veranlagt hielt. Zwei Dinge, die der Arzt in Alan so nicht einmal ansatzweise unterschrieben hätte. Ja, Paul hatte sicherlich depressive Tendenzen, aber im Grunde war er nur einsam – und verbittert. Vor allem Letzteres.
Natürlich war der Heimleiter trotzdem dagegen gewesen. Alan war Therapeut, kein Pfleger. Und die zusätzlichen Aufgaben nahmen nicht nur einen gewissen Teil seiner Arbeitszeit ein, sie überschritten diese massiv. Deshalb machte Alan das hier auch nicht als Angestellter, sondern quasi ehrenamtlich. Die Bitte hatte der Heimleiter ihm nicht abgeschlagen.
‚Unprofessionell‘, hörte Alan in seinem Kopf die kleine hämische Stimme, die in letzter Zeit immer lauter zu werden schien.
Vielleicht sollte er mit dem Heimleiter reden und eine neue Regelung finden. Paul bräuchte im Grunde nicht mehr bei jedem Handgriff Hilfe. Würde er das ab und an zeigen, wäre es auch nicht notwendig, so viel Zeit mit ihm zu verbringen.
Ausgerechnet heute wirkte Paul allerdings ausgesprochen verhalten – zurückgezogen. Nicht so schlimm, wie vor drei Monaten, aber er war zu still und in sich gekehrt. Da waren sie in den letzten Wochen schon wesentlich weiter gewesen.
Alan seufzte innerlich, achtete jedoch einmal mehr darauf, dass sein Patient davon nichts mitbekam. Er hatte schon mehrmals versucht, Paul außerhalb der Gespräche Fragen zu stellen. Aber meistens blockte dieser ab. Und anstatt besser schien das in den letzten Tagen zunehmend schlimmer zu werden. Im Augenblick machte Paul nicht einmal Anstalten, den Lappen zu nehmen und sich zu waschen.
Eben setzte Alan an, um fragen, ob alles in Ordnung war, als Paul ihm zuvorkam: „Könn ... Könntest du rausgehen? Bitte?“
Alan runzelte die Stirn. Das hatte sein Schützling bisher nie gefragt.
„Es ist mir peinlich.“
„Peinlich?“, fragte Alan verwundert nach.
Das war neu. Bisher hatte Paul eher den Eindruck gemacht, als wäre es ihm egal, ob jemand da war. Woher plötzlich dieser Sinneswandel?
Aber Paul antwortete nicht. Wieder war der Lockenkopf gesenkt, als würde er auf das still im Waschbecken ruhende Wasser schauen.
„Okay.“
Alan stand auf und trat aus dem Bad. Er lief zum Bett und setzte sich auf dessen Ecke. Von hier aus konnte er Paul trotzdem sehen.
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Der bekam das allerdings nicht mit und fühlte sich entsprechend unbeobachtet. Erleichtert griff Paul in die Richtung, in der er den Waschlappen vermutete.
Das Gefühl, Alan würde ihn permanent beobachten, machte Paul zunehmend nervös. Es war nicht per se unangenehm, aber seit ein paar Tagen fing er an sich zu wohl zu fühlen, bei dem Gedanken, dass Alan ihn jeden Tag auf diese Weise sehen konnte. Und er ihn nicht.
‚So … nackt und …‘
Endlich hatte Paul den Waschlappen gefunden und tauchte ihn ins Wasser. Langsam fuhr er mit dem Lappen über seine linke Seite. Schlagartig rann ihm ein unangenehmer Schauer den Rücken hinab und seine Hand hielt inne. Obwohl er früher das Gefühl beobachtet zu werden durchaus erotisch gefunden hätte, wollte Paul nicht, dass Alan ihn so sah, dass er sie sah. Die Narben von den Einschnitten der Glassplitter.
Paul spürte sie deutlich, jedes Mal, wenn er mit der Hand darüberfuhr. Obwohl er sie nicht sah, hatte er eine sehr klare Vorstellung davon wie sich das feine Muster über seine linke Seite, das Bein, den Arm bis hoch ins Gesicht zog. Wahrscheinlich standen sie feuerrot hervor. Seine Haut war schon immer recht hell. Und da er sich seit dem Unfall letzten Herbst im Krankenhaus und im Heim verkrochen hatte, konnte man die Narben auf der blassen Haut garantiert noch besser erkennen.
Es machte Paul Angst, dass Alan das alles sah und diesen Anblick trotzdem stoisch ertrug. Weil es sein Job war. Und nur deshalb. Im Grunde wollte Paul tief in sich drinnen, dass ihn irgendjemand wieder ganz anders ansah.
‚Nicht nur irgendjemand‘, flüsterte es leise in seinem Kopf.
Nur zu gern hätte Paul widersprochen, aber allmählich ließ es sich nicht mehr leugnen. Alan war der einzige Mensch, zu dem er wirklich Kontakt hatte. Er war nett, freundlich und ein Teil von Paul wollte, dass Alan ihn und seinen Anblick nicht nur aus reinem Pflichtbewusstsein ertrug. Dass das alles nicht gespielt war, sondern da wenigstens ein Funken echte Zuneigung sein könnte.
Mit einem leichten Zittern ließ Paul den Lappen erneut, diesmal mit der anderen Hand, in das kalte Wasser gleiten. Es wirkte kühl und betäubend auf seine Haut. Die Unsicherheit schien aus ihm zu fließen, je länger er den Lappen hin und her bewegte. Als er ihn heraus nahm, fielen laute Tropfen zurück ins Becken.
Paul hörte das Klatschen, als sie auf die Wasseroberfläche trafen, spürte, wie das Wasser aus seiner Faust herausfloss. Er löste die zweite Hand vom Beckenrand und drückte den Lappen aus. Als er ihn kurz darauf erneut auf seine Brust legte, durchdrang die Kälte seine Haut, die Muskeln, drang bis zum Herz vor.
Das Gegenteil von dem, was er empfand, wenn Alan ihm eine Hand auf die Schulter legte oder seinen Arm hielt.
Für einen Moment beschleunigte sich Pauls Herzschlag, um dann wieder auf sein reguläres Niveau zurückzufallen. Der Galopp seines Pulses, den der Gedanke an diese Berührungen ausgelöst hatte, verschwand endlich. Langsam fuhr Paul sich mit dem Lappen weiter über den Oberkörper. Von Zeit zu Zeit tauchte er den Waschlappen erneut in das Wasser, drückte ihn aus, und kühlte damit immer wieder seine scheinbar brennende Haut ab. Mit jeder verstreichenden Minute kehrte die Routine und Gelassenheit zurück.
Als Paul sich die Hose seines Schlafanzugs auszog, hielt er sich am Waschbecken fest, um nicht umzufallen. Mit einer Hand immer am Beckenrand, wusch Paul den Rest seines Körpers. Der Gedanke an den Mann draußen vor dem Bad war verschwunden.
Mit einem Platschen ließ er den Lappen schließlich ins Wasser fallen. Fast erwartete Paul, dass Alan im nächsten Moment an seiner Seite sein würde. Aber da war keine große Hand auf seiner Schulter, kein warmer Atem neben seinem Ohr. Vielleicht auch besser so. Immerhin stand er hier splitterfasernackt.
Bei dem Gedanken wurde Paul schon wieder ganz anders. Vorsichtig schob er einen Fuß nach dem anderen nach vorn, tastete sich vom Waschbecken an der Wand entlang, bis er eines der Handtücher fand. Nach kurzer Prüfung befand er es als groß genug und band es sich um die Hüften.
Erst als Paul sich weiter an der Wand entlang in Richtung Tür tastete, wurde ihm klar, dass das Handtuch ziemlicher Blödsinn war. Alan hatte ihn oft genug nackt gesehen. Das brachte jedoch auch den Gedanken an die eigenen Narben zurück, den Anblick, den er abgeben musste.
Paul verzog den Mund und senkte den Kopf. Manchmal wünschte er sich, Alan wäre nicht so nett, sondern nur ein weiterer Arzt. Einer, den er ignorieren konnte, der ihn nicht davon träumen ließ, dass es womöglich irgendwann mal wieder jemanden geben könnte, der mehr als das Unfallopfer in ihm sah.
Es war so verdammt lange her, dass Paul sich irgendjemandem so nahe hatte fühlen können.
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Alans Blick hing wie gebannt an Paul. Der hatte mitten in der Bewegung innegehalten. Gerade hatte es so ausgesehen, als würde er sich alleine aus dem Bad auf den Weg zurück ins Zimmer machen. Jetzt stand Paul doch wieder wie angewurzelt da. Als wäre der Funken Mut zur Selbstständigkeit mit einem Schlag erneut erloschen.
‚So nah dran ...‘
„Alan?“, fragte Paul plötzlich und riss eben jenen damit aus seinen Gedanken. „Rasieren, ist wohl mal wieder notwendig?“
Sofort trat er zu seinem Schützling hinüber. „Natürlich. Ich bin da.“
Vorsichtig drehte er Paul herum und setzte ihn auf die Toilette. Nach kurzem Kramen hatte er den Rasierer und Rasierschaum gefunden. Routiniert rieb Alan Paul den Schaum ins Gesicht und fing vorsichtig an, den Rasierer über die ansonsten glatte Haut zu ziehen.
Alan Herz schlug bis zum Hals. Es kostete ihn einiges an Beherrschung, damit seine Hand nicht anfing zu zittern. Das waren die Situationen, in denen Alan wirklich bewusst wurde, wie fehl am Platz er hier war. Er war kein Pfleger, das hier wäre eigentlich nicht seine Aufgabe.
Jemanden zu rasieren war schon ungewohnt genug. Aber dass er das auch noch mit einer scharfen Klinge tat und dabei einen halb nackten Kerl vor sich sitzen hatte, machte es nicht unbedingt einfacher.
Es wäre besser, sie würden endlich auf einen elektrischen Rasierer wechseln. Den könnte Paul sogar alleine benutzen und die Gefahr sich zu verletzten wäre nach einer kurzen Trainingsphase kaum vorhanden. Aber der Sturkopf weigert sich. Er bestand darauf, dass Alan dies übernahm. Warum auch immer.
Kaum dass er fertig war, wischte Alan den restlichen Schaum von Pauls hübschem Gesicht und rieb das Aftershave, das er ihm besorgt hatte darauf. Ein kurzes Zusammenzucken, doch kein Laut war zu hören. Stattdessen wartete Paul geduldig, während Alan alles wieder wegräumte.
Der sah aus dem Augenwinkel zu seinem Schützling. Weiterhin keine Anstalten, wenigstens alleine aufzustehen und ins Zimmer zurückzukehren. Den Weg kannte Paul ganz sicher. Wenn er müsste, könnte er ihn gehen. Für einen Moment war Alan versucht, es zu erzwingen. Aber Paul wirkte heute Morgen noch bedrückter als in den letzten Tagen.
Also führte Alan seinen Patienten zurück zum Bett und holte anschließend dessen Sachen aus dem Schrank. Das Anziehen übernahm Paul wenigstens selbst.
‚Immerhin. Ein weiterer Fortschritt‘, versuchte Alan sich zu motivieren.
Er war inzwischen gut eine halb Stunde hier drinnen. Nicht mehr lange bis zu seinem ersten Termin mit einem der anderen Patienten. Das würde er Paul aber natürlich nicht sagen. Kein Druck, keinen Stress aufbauen. Jeder noch so kleine Fortschritt war gut, musste gefördert werden.
Wenn Paul es schaffte, in mehr Bereichen so selbstständig zu werden, wie er es beim Anziehen war, dann könnte er irgendwann in eine Blindenwohngruppe entlassen werden. Zumindest war das die mögliche Zukunft, die der Heimleiter Alan gegenüber erwähnt hatte. Aber der Weg bis dahin schien noch unendlich weit zu sein.
‚Dafür braucht es nicht nur die tägliche Routine.‘
Die kleinen Erfolge bei der reichten einfach nicht. Was Pauls Seele betraf, hatte Alan leider noch immer den Eindruck, als wäre er keinen einzigen Schritt vorwärtsgekommen. Jedenfalls keinen entscheidenden.
Paul vertraute Alan zwar inzwischen so weit, dass er in ihren offiziellen Therapiesitzungen mit ihm sprach, ansonsten schottete er sich aber weiterhin komplett von seiner Umwelt ab.
„Magst du nach dem Mittagessen heute noch etwas rausgehen?“, fragte Alan.
Es war inzwischen Mai geworden und schönes Wetter. Die frische Luft würde sicherlich guttun.
„Da ist ein Park, nicht weit weg ...“
Paul verkrampfte sich sofort. Seine eben zwar langsamen, aber dennoch flüssigen Bewegungen kamen zu einem abrupten Halt.
„Nein.“
Alan verzog den Mund und verdrehte die Augen. Könnte Paul sehen, würde er es natürlich nicht so offen zeigen. Insofern war dessen Blindheit mitunter ein Segen. Es ersparte Alan, sich jede Sekunde ihres Zusammenseins zusammenreißen zu müssen.
Eben noch hatte Paul dazu angesetzt, sich das T-Shirt über den Kopf zu ziehen, jetzt senkte er es wieder und hielt es in Alans Richtung.
„Etwas Langärmliges, bitte.“
Alan ließ Paul einen Moment warten, bevor er antwortete: „Es ist warm und wenn du eh nicht raus willst, reich das T-Shirt.“
„Langarm.“
Kopfschüttelnd trat Alan zum Schrank hinüber. Würde Paul es jemals akzeptieren? Dieses angeblich entstellte Etwas existierte nicht. Wie oft hatte Alan ihm schon gesagt, dass da nichts war, was auf andere abschreckend wirken würde?
Ja, man sah die Narben, speziell die am Oberarm und auf Pauls Rumpf zeichneten sich deutlich gegen die blasse Haut ab. Aber selbst wenn er ein T-Shirt trug, würde man nichts davon sehen. Alles, was dann blieb, waren die kleine Narbe an der Schläfe und die an Pauls Hand.
‚Und das Auge‘, korrigierte Alan sich. Aber selbst das würde man nur als Prothese erkennen, wenn man genau hinsah.
Er reichte Paul schließlich das gewünschte Shirt, legte das andere wieder zusammen und räumte es zurück in den Kleiderschrank. Zögerlich ließ Alan seine Finger über das Hemd gleiten, das er Paul vor drei Monaten beinahe gewaltsam angezogen hatte, um ihn aus seiner Lethargie zu reißen.
Schon mehrmals hatte Alan überlegt, seinen Schützling erneut ins Rush-Inn zu bringen. Wäre doch möglich, dass Paul dort jemanden kennenlernte, der Interesse für ihn zeigte. Und ihm dabei klarmachte, dass er weiterhin begehrenswert war, dass die Narben ihn keinesfalls entstellten.
Gedankenverloren rieb sich Alan über seine linke Wange, während er den Kopf drehte, um erneut zu beobachten, wie Paul sich fertig anzog.
‚Er braucht keinen One-Night-Stand.‘
Eine Beziehung. Eine, in der Paul nicht einfach nur ein abhängiger Pflegefall oder eine Krankenakte war. Jemand, den Paul nicht nur kennenlernte oder mit dem er ausging. Sondern einen Mann, in den er sich verlieben könnte.
‚Jemanden, der dich ersetzt.‘
Erschrocken über seine eigenen Gedanken, wand Alan sich ab. Es ging hier nur um Paul. Wenn der sein Leben endlich wieder alleine bestreiten konnte, wäre Alans Job beendet. Und das war gut so!