Kapitel 10 – Unangemessene Berührung
Kaum hatten Alans Lippen die seinen berührt, hob Paul seine freie Hand und tastete sich zu Alans Bauch vor. Von dort glitt sie höher bis zur Brust. Durch das Hemd hindurch konnte er deutlich die kräftigen Muskeln darunter fühlen. Ein kurzes ungeduldiges Beben lief durch Pauls Körper. Mit einem leisen Stöhnen öffnete er die Lippen und ließen Alans Zunge endlich ein.
Er hatte nicht wirklich gehofft, dass seine Bitte auf Zustimmung treffen würde. Die Sekunden, in denen Alan nicht reagiert hatte, waren ihm wie Stunden vorgekommen. Zerrissen zwischen geradezu kindischer Freude und der Angst, was er da gefordert hatte, krallte Paul sich in Alans Hemd, spürte erneut die Muskeln darunter. Dass er selbst dagegen eher schwach und zierlich wirken musste, war nichts, worüber Paul gerade nachgedenken wollte. Viel drängender wurde mit jeder verstreichenden Sekunde das Verlangen danach, mehr über Alan herauszufinden, ihn tatsächlich zu berühren, die Haut unter dem dünnen Stoff des Hemdes mit seinen tastenden Händen zu erkunden.
Doch statt genau das zuzulassen, löste Alan sich von Pauls Lippen und schob diesen zunächst weiter von sich weg nach hinten. Sofort setzte Paul zu einem Protest an, als er an seinen Beinen das Bett spürte. Eine einfache Liege, nicht breiter als ein Einzelbett, lediglich höher, sodass er die Liegefläche nicht am Unterschenkel, sondern knapp unter dem Po merkte.
Der Druck in Pauls Brustkorb wurde größer – sowohl der, der nach außen strebte als auch der durch Alans Hand, auf seiner Brust, die noch immer gegen ihn drückte. In seinem Inneren tobten Wut und Enttäuschung. Während Alan ihn plötzlich geküsst hatte, war das ein Gefühl von Freiheit gewesen, das Paul schon so lange nicht mehr gespürt hatte. Ein Funken Hoffnung, ein Fetzen Normalität in seiner so kaputten Realität. Doch es schien, als wäre ihm nicht einmal das vergönnt.
Willenlos ließ Paul sich weiter zurückdrängen, bis er auf dem Bett saß. Es war zu viel gewesen, um darauf hoffen zu können. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, wollte erneut um wenigstens eine Nacht, ein paar Stunden, irgendetwas bitten, aber die Worte kamen nicht heraus. Wie jämmerlich musste er auf Alan wirken. Ein entstellter Krüppel, der nicht einmal mehr für eine schnelle, bedeutungslose Nummer interessant war.
Doch kaum hatte der Selbsthass begonnen, sich durch Pauls Bauch zu fressen, da glitt Alans Hand plötzlich weiter. Eine zweite kam dazu, auf der anderen Seite. Der überraschende Kontakt ließ Paul zusammenzucken. Feuerspuren, die über seine nackte Brust abwärts geführt wurden – nur um kurz darauf den Knopf der Hose zu öffnen. Jede noch so winzige Berührung entfachte weiteres Verlangen in ihm. Pauls Atem wurde schneller, das Hämmern in seiner Brust kräftiger. Als wolle sein Herz förmlich aus ihm herausspringen.
Derweil strich Alan mit seinen großen, eigentlich sonst so rau wirkenden Händen, unerwartet zärtlich weiter über Pauls nackten Oberkörper. Den Bauch, selbst die Arme. Doch kaum wurde diesem das bewusst, erstarrte er förmlich. Ein kalter Schauer ließ ihn erzittern.
‚Die Narben!‘ Alan sah sie garantiert nur zu deutlich.
Er kannte sie schon, hatte sich vermutlich an den furchtbaren Anblick gewöhnt. Ihm konnte davon nicht mehr schlecht werden. Oder? Erneut streichelten Alans Fingerspitzen sanft über eben diese Narben an der linken Seite von Pauls Rumpf.
„Nicht“, flüsterte der mit zitternder Stimme und schob hastig Alans Finger beiseite. „Nicht da!“
Die Berührung hörte auf, die Hände verschwanden. Mit ihnen die Wärme, stattdessen nur die kalte Angst, dass sein Anblick Alan zuwider sein musste. Trotzdem war der noch da, stand weiterhin vor Paul, ohne sich zu bewegen. Er brauchte nicht sehen können, um das zu wissen. Stoßweiser Atem, das Pochen eines Herzschlags, das realistisch betrachtet nur sein eigener sein konnte. Trotzdem hatte Paul das Gefühl, als wäre das alles ein eindeutiger Beweis, das Alan noch immer dort vor ihm stand.
Paul biss sich auf die Lippe. Er sollte etwas sagen. Klar machen, dass er nicht hier aufhören wollt – dass es schlichte Feigheit war, die ihn davon abhielt, selbst die Initiative zu ergreifen. Wenn Alan die Augen schloss, würde er sie nicht mehr sehen können, dann wären die Narben nicht so abschreckend. Aber das waren alles Worte, die Paul nicht aussprechen konnte.
Er kam ohnehin nicht dazu, etwas zu sagen. Denn mit einem Mal war Alans Hand zurück. Direkt neben einer der längeren Narben, ließ Alan die Finger über Pauls Haut gleiten. Weiter nach oben, zur Mitte. Als schließlich eine große, tatsächlich raue Handfläche mitten auf Pauls Brust lag, war der sich sicher, dass man das Hämmern seines Herzens durch die Rippen hindurch spüren musste.
„Mach weiter“, flüsterte Paul mit gebrochener Stimme.
Alan zögerte nur einen kleinen Moment, bevor er auch diesem Wunsch folgte. Er schlang einen Arm um Pauls Hüfte und hob dessen Po an, um ihm Hose samt Unterhose herunterzuziehen. Kaum hatte er Paul wieder heruntergelassen, ließ sich Alan auf seine Knie hinunter und öffnete die Schuhe. Wortlos zog er diese zusammen mit den Socken und der Hose herunter. Ein leises Poltern, als die Schuhe scheinbar achtlos fallen gelassen wurden.
Während Alan mit seinen Händen Pauls Waden entlang nach oben fuhr, konnte er garantiert das Zucken und Beben in dessen Körper spüren. Die Bewegungen wurden langsamer, zaghafter. Dennoch fanden Alans Hände kurz darauf über Pauls Hüften hinweg, den Weg zurück zu dessen Brust. Von den Narben blieben sie jedoch wie gewünscht fern.
„Rede mit mir, Paul“, forderte Alan ihn flüsternd auf.
„Mehr“, flüsterte der, darum bemüht seine Stimme neutral zu halten. Denn weitere Worte brachte sein Hirn gerade nicht zustande.
Wieder kam zunächst keine Reaktion. Ein Beben wanderte durch Paul. Allerdings nicht aus Vorfreude oder gar Erregung, sondern eher aus Sorge, weil er nicht sicher war, ob Alan ihm hier Zeit geben wollte, um ‚Nein‘ zu sagen – oder ob er nicht womöglich doch zu viel verlangte. Dass Alan überhaupt zusagen würde, hatte Paul ehrlicherweise kaum zu hoffen gewagt. Aber er wollte auch nicht darüber nachdenken, was letztendlich den Ausschlag gegeben haben mochte.
Bevor Paul dafür weitere Chancen bekommen konnte, ließ ihn eine Berührung an seinem Bauch zusammenzuckten. Er hob die Hand vor den Mund, um das Keuchen zu unterdrücken, als ihm klar wurde, dass es Alans Lippen sein mussten. Ein Kuss – mitten auf Pauls Bauch, maximal zwei Handbreit von den verdammten Narben entfernt.
Ein zweiter Kuss, diesmal weiter an der Seite. Dazu Finger, die über Pauls Hüfte hinab in Richtung Oberschenkel geführt wurden. Erneut zuckte er zusammen, konnte diesmal das Lachen aber nicht unterdrücken.
„Das kitzelt“, keuchte Paul schließlich.
Vorsichtig tastete er mit der Rechten zum eigenen Bauch hinab und fand dort Alans Kopf. Seine Finger fuhren über die kurzen Stoppeln auf dessen Wange. So hart, wie sie sich anfühlten, konnte die Rasur nicht so lange her sein. Paul ließ die Hände weiter nach oben wandern. Überrascht stellte er fest, dass Alans Haare diesem vorn deutlich ins Gesicht hingen – obwohl sie hinten wesentlich kürzer zu sein schienen, wie Paul nach weiterem Tasten feststellte.
Er hatte sich Alan immer mit einer Kurzhaarfrisur vorgestellt. Vielleicht ein paar Locken. Oder raspelkurz rasiert. Umso faszinierter ließ Paul die glatten Strähnen durch seine Finger gleiten. Es fiel ihm schwer, einzuschätzen wie lang sie in Wirklichkeit waren. Aber es fühlte sich so an, als reichten sie fast bis zum Kinn hinab.
Während Alans Finger erneut über Pauls Brust fuhren, zuckte der zusammen. Zu unerwartet! Und dennoch so erregend. Die Tatsache, nicht zu wissen, wo Alan ihn als Nächstes berühren würde, versetzte Paul zunehmend in Ekstase.
Jeder noch so flüchtige Kontakt schien ein Kritzeln gepaart mit einem Kribbeln in ihm auszulösen, das nicht nur einmal kreuz und quer durch seinen Körper wanderte, sondern Pauls Erregung immer mehr anfeuerte. Selbst wenn er sehen könnte, hätte sein Hirn spätestens dann abgeschaltet, als Alan ihn weiter aufs Bett schob. Pauls ganzes Denken ertrank in einer Blase aus Verlangen und Begierde, so groß, dass ihn nicht einmal mehr interessierte, was Alans Augen womöglich sahen.
Sie waren zusammen hier. Das war es, was Paul brauchte. Was er wollte. Wenigstens für diese eine Nacht. Eine Illusion dessen, was er vermutlich nie wieder haben würde. Alles andere war für den Augenblick in den Hintergrund getreten.
Paul keuchte, nachdem er Alans deutlich schwereren Körper endlich auf sich spürte, die Lippen an seinem Hals, die Hände an seinen Hüften, der Brust, scheinbar überall gleichzeitig flogen sie über ihn hinweg. Es war so verdammt lange her, dass ihn jemand auf diese Weise berührt hatte. Paul wollte nicht daran denken, doch das Bild seines Exfreundes drängte sich ihm förmlich ins Gedächtnis. So intensiv wie heute hatten sich dessen Berührungen damals nie angefühlt. Aber womöglich war es schlicht viel zu lange her.
Krampfhaft kämpfte Paul darum, irgendetwas zu finden, was er tun konnte, um nicht nur teilnahmslos herum zu liegen. So war er früher doch auch nie gewesen. Alles, was sein suchendes Tasten fand, war jedoch der Stoff von Alans Hemd. Mit fahrigen und viel zu hektischen Händen versuchte er, die Knöpfe zu öffnen, aber immer wieder glitten die ihm aus den vor Aufregung zittrigen Fingern.
So willkommen Alans Berührungen, sein Mund, einfach alles war, es reichte nicht. Paul wollte mehr. Und wenn er es schon nicht sah, dann wenigstens spüren. Überall! Alles! Immer wieder hob er seine Hüften, um Alan entgegenzukommen, und jedes Mal presste der ihn zurück aufs Bett.
Schließlich knurrte Paul frustriert und setzte an, um deutlicher zu protestieren. Doch Alan ließ ihm keine Zeit, sondern packte Paul mit beiden Händen unter den Achseln und schob ihn so weit aufs Bett, bis er mit dem Kopf gegen die Wand an der Stirnseite stieß. Sein Kissen und die Decke wurde Paul unter dem nackten Po weggezogen und stattdessen hinter seinen Rücken gedrückt, sodass er hab liegend, halb sitzend gegen das Kopfteil gelehnt wieder zur Ruhe kam.
Wobei ‚Ruhe‘ ein relativer Begriff war, wenn man bedachte, dass Alans Hände erneut über Pauls viel zu erregten Körper geführt wurden. Der stöhnte sofort, wand sich unter der Berührung und versuchte weiter herunterzurutschen und sich zur Seite zu drehen.
Doch Alan hielt ihn fest, drängte Paul mit einem fordernden Kuss zurück in das Kissen. Hastig hob Letzterer seine Hände hoch, damit Alan ihm nicht schon wieder entwischen konnte. Er brauchte endlich mehr Hautkontakt.
„Scheiß Knöpfe ...!“, fluchte Paul, nachdem seine Finger erneut an eben diesen bei dem Versuch Alans Hemd zu öffnen scheiterten.
Ebendieser lachte verhalten, sein Gewicht war aber kurz darauf von Paul verschwunden.
Keine Lippen mehr auf den seinen, keine Hände, die über seine Haut huschten, keine Hitze eines Körpers, der auf ihm kniete. Paul wollte schreien vor Frust, rufen nach Alan, doch er unterdrückte den Wunsch und zwang sich, in der Dunkelheit Vertrauen zu fassen.
Er würde nicht gehen, nicht einfach verschwinden, ohne etwas zu sagen. Das hatte Alan ihm versprochen und bis heute hatte er dieses Versprechen gehalten. Tag für Tag, von morgens bis abends. Wem sollte Paul sonst vertrauen?
Da hörte er einen Reißverschluss, Schuhe, die mit großer Hast ausgezogen wurden und über den Boden holperten. Paul lächelte und richtete sich auf, um die Geräusche besser orten zu können. Fast augenblicklich wurde er aber von einem erneuten Kuss überrascht und gegen das Kissen in seinem Rücken zurückgeworfen.
Als Alans Bartstoppeln ihn am Kinn kitzelten, konnte Paul ein weiteres Lachen nicht unterdrücken. Genauso wenig wie das Keuchen, als die Lippen sich am Hals entlang zum Schlüsselbein bewegten. Er versuchte, sich aufzurichten, wurde aber umgehend mit einer kräftigen Hand auf seiner Brust zurückgedrängt. Lippen auf den seinen lenkten Paul erneut davon ab, dass er sich nur zu gern mehr beteiligt hätte – wanderten kurz darauf ein weiteres Mal zur Halsbeuge.
Mit zunächst fahrig durch die Luft irrenden Händen, suchte Paul nach dem Körper, der zweifellos über ihm kniete. Nachdem er ihn endlich fand, schickte die Berührung der erhitzten Haut einen weiteren Schauer durch ihn.
‚So verdammt lange her!‘
Pauls Herz schlug immer heftiger in der Brust, während er nun seinerseits anfing, eine ‚Inventur‘ des Körpers vorzunehmen, von dem er bisher so gar keine wirkliche Vorstellung hatte. Das Erste, was er bemerkte, war, dass Ricks Bemerkung über Alans ‚tierische Seite‘ als Katze, Löwe, Tiger – was auch immer – sich definitiv nicht auf die Körperbehaarung bezogen hatte.
Während Paul seine Finger mit leichtem Druck weiter in Richtung Hüfte wandern ließ, zuckte Alan kurz zusammen und ein verhaltenes Glucksen entrann ihm, das beinahe ein Lachen hätte sein können.
‚Kitzlig, hm?‘, vermerkte Paul geistig mit einem eigenen Grinsen.
Er suche die Stelle erneut, nur um wiederum ein unterdrücktes Lachen an seinem Hals dafür zu ernten.
Doch das war Paul nicht genug. Er wollte mehr Haut, mehr Wärme, mehr von allem, was Alan offenbar zumindest heute Nacht bereit war zu geben. War schließlich nicht damit zu rechnen, dass sich diese Chance wiederholen würde.
Deshalb richtete Paul sich, so gut er konnte weiter auf und zog Alan zu sich herunter. Er wollte alles spüren, jeden noch so winzigen, glühenden Millimeter von dieses Körpers. Mit einem Stöhnen stemmte er sich ein weiteres Mal gegen Alan und schaffte es diesmal, diesen seitwärts zu drehen.
Das Bett war zu klein, aber da es auf Alans Seite an der Wand stand, würde der nicht herausrollen. Und Paul selbst fühlte sich in dessen Armen sicher genug, sodass er keinerlei Angst davor verspürte, jede Sekunde herunterzufallen. Alles in ihm bebte vor Erregung, während er mit den Fingern immer hektischer diesen zu unbekannten Körper neben sich abtastete. Zusammen mit einem leisen Stöhnen erreichte Paul so schließlich Alans Hüften.
Das Herz schlug ihm bis zum Hals, als er seine Hand vorsichtig weiter führte, immer damit rechnend, dass sie jeden Moment gestoppt werden würde. Doch nichts dergleichen passierte. Alan ließ ihn gewähren, sagte kein Wort, rührte sich auch nicht. Nicht als Paul mit zittriger Hand feststellte, dass da kein Jeansstoff mehr über dem straffen und festen Po lag. Diese Kehrseite hatte Paul sich im Übrigen genau so vorgestellt – wenigstens erhofft, dass er so sein würde.
~
„Sch… Langsam“, flüsterte Alan und hauchte einen weiteren Kuss auf Pauls Wange, während seine Hände über dessen Rücken glitten.
Selbst wenn das hier für Paul nicht mehr als simples Verlangen, die Befriedigung eines Grundbedürfnisses und ein Ventil, um seine aufgestaute sexuelle Frustration loszuwerden, war, würde er weitermachen. Alan hatte nicht vor es für sich selbst zu einer dieser Stunden bedeutungslosem Sex verkommen zu lassen, die er üblicherweise bevorzugte.
Zum ersten Mal seit Jahren fühlte es sich nach mehr an, mit einem anderen Mann im Bett zu liegen. So verdammt viel mehr, als da sein dürfte. Aber die Entscheidung, zu der André ihn hatte drängen wollen, war längst getroffen. Erst als Paul ihn um das hier gebeten hatte, war Alan klar geworden, dass sich die Frage gar nicht mehr hätte stellen dürfen. So war mit fortschreitender Stunde wohl eher die Angst, dass es am Ende die einzige Nacht mit Paul sein würde, die Alan dazu drängte, jede Sekunde davon hinauszuzögern.
‚Das hier ist dämlich. Du lässt dich nur wieder einmal benutzen.‘
Alans Magen krampfte sich zusammen. Ja, er wusste nur zu gut, dass es eine bescheuerte Idee war, die eigenen Gefühle so ungehindert laufen zu lassen. Und erst recht, dafür seine gesamte berufliche Zukunft aufs Spiel zu setzen, wenn das hier jemals herauskam. Trotzdem machte Alan weiter.
Obwohl er ahnte, dass es bitter enden würde für ihn, war er schlicht nicht bereit, deshalb jetzt aufzuhören. Nicht nachdem Paul ihn förmlich darum angefleht hatte. Wenn der das hier brauchte, würde Alan es ihm geben. Selbst auf die Gefahr hin, dass es am nächsten Morgen eine Mauer zwischen ihnen errichtete, die er nur schwer wieder würde einreißen könnten. Denn was am Ende dieser Nacht passieren musste, stand für Alan in diesem Augenblick wie in Stein gemeißelt fest.
Sanft ließ er die Hände über Pauls linke Seite gleiten. Er spürte sofort, wie dieser zusammenzuckte. Doch diesmal hörte Alan nicht damit auf. Er hob seinen Kopf und küsste sich die rechte Seite entlang bis zu dessen Ohr hinauf.
„Man sieht sie fast gar nicht. Ich schwöre. Da ist nichts Hässliches an dir, Paul. Bitte hör auf, dir was anderes einzureden“, flüsterte Alan mit belegter Stimme.
Ja, die Narben waren da und aus der Entfernung, in der er sie gerade betrachtete, konnte man sie schlicht nicht übersehen. Aber sie waren gut verheilt, glatt, hoben sich nach über einem halben Jahr farblich kaum noch von der übrigen Haut ab. Es gab keinen Grund, sich wegen ihnen zu schämen.
In Alans Augen war da rein gar nichts, was Paul entstellte. Er schlang die Arme um den wesentlich schmaleren Körper, der vor lauter widersprüchlicher Emotionen förmlich unter ihm zu erzittern schien. Angst gehörte allerdings nicht dazu, da war Alan sich sicher.
„Sag mir, was du brauchst“, forderte er Paul auf. „Was du willst.“
Doch der brachte keinen Ton heraus. Stattdessen vergrub er die rechte Hand in Alans Haaren, während sich Pauls Beine um seine Hüften schlangen. Ein weiteres Zittern. War das noch immer der Kampf darum, die eigenen Emotionen unter Kontrolle zu halten? Alan wollte daran glauben, aber leise Zweifel begannen bereits zu keimen.
Wo bleib seine Antwort? Warum sagte Paul nichts? War es doch ein Fehler?
‚Natürlich ist es das!‘, schrie etwas in Alan.
Er schloss die Augen und biss die Zähne zusammen. Dass das hier nicht ohne Konsequenzen bleiben würde, war eine Sache. Trotzdem war es kein Fehler. Es war das, was Paul wollte. Er hatte danach gefragt, weil er mehr Nähe brauchte, jemandem, dem er vertrauen konnte. Alan schluckte. In seinen Ohren rauschte das Blut immer lauter. Konnte er Pauls Antwort deshalb nicht hören?
In diesem Moment ließ Paul sich wieder nach hinten fallen. Der Zug kam so plötzlich, dass Alan nicht rechtzeitig reagieren konnte. Und so lag er kurz darauf mit seinem ganzen Gewicht auf dem zu zerbrechlich erscheinendem Körper unter ihm. Als Alan versuchte, sich nach oben zu stemmen, zog Paul ihn jedoch erneut runter, klammerte sich förmlich an ihn.
„Pau...“, setzte Alan an, doch da raubte Paul ihm mit einem eigenen Kuss mit einem Mal jedes Wort, das er hätte sagen wollen.
Im folgenden Moment rammte sich Pauls Ellenbogen in Alans Armbeuge. Der ächzte und stöhnte, als der Arm unter ihm zur Seite gedrückt wurde. Erneut lag er auf Paul, hätte schwören können, dass er dessen Herz gegen seine eigenen Rippen schlagen fühlen konnte. Oder war das seines?
„Nicht ... aufhören!“, ächzte Paul neben Alans Ohr und jagte diesem einen Schauer über den Rücken.
Schon war Alan versucht, den Kopf zu schütteln, einen Moment zum Durchatmen zu finden, damit er sich erst einmal selbst sammeln konnte. Gerade noch rechtzeitig stoppte er sich. Paul würde es als Ablehnung sehen, denken, dass Alan aufhörte, seine Bitte doch ablehnte. Also stemmte er lediglich seine Hand wieder neben Pauls Schulter und drückte sich nach oben.
~
Kaum löste sich Alan von ihm, verstärkte sich Pauls Klammergriff erneut, kämpfte darum, die Verbindung nicht zu verlieren.
Es fühlte sich so verdammt gut an. Das alles! Jede noch so kleine Berührung, das Gefühl von Alans warmer Haut auf seiner. Das Gewicht, das ihn nach unten drückte und ihm versicherte, dass da jemand war, der ihm nicht einfach nur Halt geben würde. Wie gern wollte Paul den Worten glauben. Daran, dass Alan die Wahrheit sagte, dass der ihn ansehen konnte, ohne die Entstellungen zu sehen.
Als er den weichen Stoff von Alans Unterhose an seinem eigenen Schritt spürte, kam die Ablenkung sehr gelegen und sofort verkündete Pauls Libido, dass er hier noch lange nicht fertig war. So eine Chance würde er, nach dieser Nacht womöglich nicht wieder bekommen. Die würde er sich entsprechend nicht entgehen lassen.
Also schob Paul seine Linke zwischen ihre Körper und fand schnell, was er suchte. Die menschliche Anatomie war offenbar blind genauso leicht abzuschätzen, wie sehend. Alans Stöhnen klang schon eher wie ein Schnurren und sofort kamen Paul Rickys Worte darüber, dass Alan mehr ein Schmusekater als ein Schoßhund wäre in den Sinn.
Er konnte das leise Prusten nicht ganz unterdrücken. Sofort merkte Paul, wie sich der Kopf unter seiner Rechten hob. Vermutlich sah ihn Alan gerade etwas verwundert an, aber Paul hatte nicht vor sich zu erklären. Stattdessen zog er Alans Kopf näher zu sich herab.
‚So erstaunlich unkompliziert‘, registrierte Paul erneut, als seine Lippen beim ersten Versuch ihr Ziel fanden. Hierfür brauchte er seine Augen nicht. Im Gegenteil.
„Ist mir egal wie aber mach weiter“, flüsterte Paul erneut fordernd gegen Alans Lippen und verstärkte gleichzeitig den Griff seiner Linken.
„Nicht so hektisch …“, murmelte der und drückte ihn erneut nach unten. „Geduld ist eine Tugend.“
Alan zog Pauls Hand aus seiner Unterhose und kurz darauf die andere von seinem Hinterkopf. Bevor Paul protestieren konnte, verschränkte Alan ihre Finger, während er dessen Arme über dem Kopf ins Kissen drückte.
Paul presste die Lippen aufeinander. Diese Warterei war unerträglich! Allmählich hielt er das nicht mehr aus. Und es war schließlich nicht zu übersehen gewesen, dass Alan an dieser Sache auch Gefallen fand. Also schlang Paul seine Beine erneut um die Hüften über ihn und zog sie zu sich herunter.
„Geduld ist was für alte Leute. Bist du schon so alt?“, knurrte Paul und grinste – nicht nur in sich hinein.
Alans Reaktion konnte er nicht sehen. Doch den Gedanken schob Paul rasch beiseite. Er war hier eindeutig der körperlich Unterlegene. Wenn Alan es sich anders überlegte, sollte er verflucht noch einmal verschwinden.
‚Nein!‘
Weiterhin keine Reaktion. Kein Wort, keine Hand, die erneut über Pauls Brust strich. Aber Alan war noch immer da. Also stemmte Paul sein Becken die paar Millimeter, die er Platz hatte nach oben, rieb sich erneut gegen Alans Schritt.
„Mach schon weiter, alter Mann!“
„Auch noch frech werden“, wisperte Alan mit einem Mal neben Pauls Ohr, jagte damit ein Beben durch dessen Körper.
Da war sie endlich wieder – die Hand, die über Pauls Haut strich. Mit Hornhaut überzogene Fingerspitzen, die auf dem Weg in Richtung Hüfte einen kratze Spur auf ihm hinterließen.
Erneut suchte Alan Pauls Lippen. Rang kurz darauf nach Atem, während er die Stirn an Pauls Schulter vergrub. Diesmal wollte ebendieser jedoch keine weitere Verzögerung dulden. Kurzentschlossen drückte er mit beiden Händen gegen Alans Brust, bis er diesen auf die Wandseite gedrückt hatte.
Mit einem etwas ungelenk anmutendem Ruckeln schafften sie es, die Plätze zu tauschen, sodass Paul danach auf Alan lag und die Erkundung, die bisher seine Finger übernommen hatten, stattdessen seinen Lippen überließ.
„Langsam“, mahnte Alan.
Doch das zufriedene Stöhnen, das kurz darauf folgte, trieb Paul eher in die entgegengesetzte Richtung. Er hatte lange genug gewartet. ‚Langsam‘ war im Augenblick für ihn nicht mehr drinnen.
Bevor er Alans Gürtellinie erreichte, hielt dieser Paul jedoch auf. Die Hand an seinem Hinterkopf war zu kräftig, als dass Paul sie hätte ignorieren können. Statt nach unten führte Alan seinen Kopf wieder in die andere Richtung.
Mit einem frustrierten Schnauben vergrub Paul sein Gesicht an Alans Schulter und versuchte, wenigstens einen Teil seiner Selbstbeherrschung wiederzufinden. Aber nach so langer Wartezeit fiel ihm das schlicht zu schwer.
Plötzlich bemerkte Paul, dass er aus Gewohnheit seine Augen noch immer beide offen hatte. Ein Schauer rann ihm über den Rücken, während ihm klar wurde, dass Alan direkt in das verhasste Glasauge gesehen haben musste, als der Paul vorhin sagte, er wäre nicht entstellt. Sein Innerstes zog sich zusammen, während der Verstand versuchte, diese beiden Fakten in Einklang zu bringen.
Bevor Paul weiter darüber nachdenken konnte, wurde er von einer kräftigen Hand abgelenkt, die seinen Po näher zu Alans Schritt heranzog. Erneutes Stöhnen und diesmal schloss Paul seine Augen, während er ein weiteres Mal darum kämpfte die Empfindungen, die all das hier in ihm auslöste zu ordnen, damit sie ihn nicht völlig überrannten.
Irrsinnigerweise hätte Paul in diesem Moment schwören können, dass schwarze und weiße Punkte vor seinen zusammengekniffenen Augen tanzten. Dabei war er doch blind, es müsste alles dunkel sein. Bevor er jedoch darüber nachdenken konnte, wurde Alans Griff endlich fordernder und kurz darauf fand Paul sich erneut auf dem Rücken liegend wieder.
Heißer Atem schoss keuchend über Pauls Nacken und ließ ein kleines Flammenmeer durch seine Adern tosen. Seine Hand fuhr ein weiteres Mal durch Alans Haare und zog dessen Kopf gegen seine eigene Halsbeuge. Mit der anderen umklammerte Paul die breiten Schultern, versuchte Halt zu finden, in den ungewohnt kräftigen Muskeln. Dabei kratzen seine Nägel über Alans Haut und entlockten dem ein lustvolles Zischen, das Paul selbst weiter erregte.
Was genau die Veränderung bewirkte, wusste Paul nicht, aber endlich gab Alan den drängenden, fordernden Händen nach.
Allein die Tatsachen, dass das Bett viel zu klein und sie beide zu erregt waren, machte es schwierig das, was sich in den letzten Wochen und Monaten angestaut hatte in einigermaßen kontrollierte Bahnen zu lenken. So glichen ihre gemeinsamen Augenblicke mehr einer neugierigen und hektischen Nacht im Teenageralter als einem Liebesspiel, wie Paul es sich womöglich unter anderen Umständen gewünscht hätte.
Aber sein Geist war zu benebelt davon, sich endlich wieder annähernd ‚normal‘ fühlen zu können. Zu viele Eindrücke, zu viele Emotionen. Und so vergaß Paul für den Rest der Nacht vollkommen, was zu eben dieser geführt hatte. Da war nur noch das hier und jetzt – in seiner ganzen Unvollkommenheit.