Kapitel 24 – Neue Sicht
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Pauls Herz raste noch immer heftig, während er später am Abend erschöpft aber in jeder nur erdenklichen Hinsicht befriedigt neben Alan lag. Es dauerte einige Minuten, bis sich sein Puls wieder beruhigt hatte. Ganz zu schweigen von der Erregung, die selbst jetzt noch in ihm nachhallte. Paul drehte sich zur Seite und legte seine Hand auf Alans Brust.
Kurz darauf spürte er, wie dieser eine Decke über sie zog, während er sich selbst ebenfalls auf die Seite drehte. Auf diese Weise lag Alan schließlich direkt vor Paul. Mit einem Lächeln auf den Lippen rutschte dieser näher an seinen Freund heran. Er genoss, wie dieser stöhnte und erneut erbebte, als Paul mit den Fingern ein weiteres Mal federleicht an Alans rechte Flanke aufwärts und über dessen Brust strich.
Prüfend verlagerte er das Tasten Stück für Stück weiter nach oben. Glücklich stellte er irgendwann fest, dass Alan selbst jetzt noch die Augenbinde trug. Für einen Moment ließ Paul seine Hand auf den Augen unter dem Seidenstoff liegen, bevor er sie senkte und stattdessen auf Alans Brust, über dessen Herzen legte.
Der kräftige, dennoch beschleunigte Herzschlag war deutlich unter Pauls Handfläche spürbar. Langsam presste er die Lippen in den Nacken vor ihm. Sein eigenes Herz fing an, erneut zu rasen. Ein Zittern lief durch seinen Körper, das er nur dadurch bekämpfen konnte, dass er sich enger an den Rücken vor ihm schmiegte.
„Alles okay?“, fragte Alan heiser, die Stimme schläfrig.
Dieser klang, als wäre er schon fast weggedämmert gewesen. Aber Pauls Klammergriff hatte ihn wohl noch einmal in die Realität zurückgeholt. Er wollte etwas erwidern, antworten. Der Kloß in seinem Hals verhinderte jedoch jeden Laut. Wie lange es dauerte, bis er endlich einen Ton herausbrachte, konnte Paul nicht einschätzen. An diesem Abend fühlte es sich so an, als hätte er sein Zeitgefühl endgültig verloren.
„Danke“, hauchte Paul flüsternd.
Das Lächeln in Alans Stimme war deutlich zu hören: „Dafür, dass ich unkontrolliert zuckend hier rumgelegen habe, während Du mir den Verstand rausgevögelt hast? Kein Thema! Jederzeit wieder.“
Da musste Paul ebenfalls lachen, doch sofort schüttelte er erneut den Kopf und antwortete: „Für die Lichter. Für Dich. Für einfach alles.“
Sie schwiegen beide einen Moment, bevor Alan die Finger leicht über Pauls Hand auf seiner Brust gleiten ließ. So vertraut, so normal, weil dieser Mann seit dem Unfall zur einzig wahren Konstante in Pauls Leben geworden war. Zu seiner Stütze, seinem Halt, seiner Familie – allem, was irgendwie wichtig erschien. Aus einem einzigen Grund. Paul verstärkte seinen Griff, presste sich fester an Alans Rücken.
„Ich weiß es klingt kitschig und übertrieben nach nicht mal einem Jahr“, flüsterte dieser. „Aber ich liebe dich, Paul. Und das sage ich nicht einfach nur so.“
Der erwiderte zunächst nichts, während er versuchte, sich auf den Herzschlag unter seiner Hand zu konzentrieren. Wenn er Alan schon nicht sehen konnte, dann wollte er ihn wenigstens spüren. Mit jeder Faser seines Körpers.
„Ich liebe dich auch“, presste Paul heraus.
Im folgenden Moment hätte er schwören können, dass der Herzschlag unter seiner Hand aus-, bevor er mit gefühlt doppelter Geschwindigkeit wieder einsetzte. Alan keuchte mit erstickter Stimme und sein ganzer Körper zitterte erneut. Er hob die rechte Hand, klammerte sich damit förmlich an Pauls, die weiterhin über Alans Herzen lag.
Schlagartig wurde Paul klar, dass er für das hier nie etwas hatte sehen müssen. In finsterster Nacht, mit verbundenen Augen oder für immer blind. Es spielte keine Rolle mehr. Denn das Beben in dem Körper vor ihm sagte genug. Zum ersten Mal wurde Paul bewusst, wie sehr Alan darauf gewartet hatte, diese Worte von ihm zu hören. Und wie viel sie diesem tatsächlich bedeuteten.
Paul schob seinen linken Arm unter Alans Hals hindurch, hielt ihn so so fest, wie er konnte. Je klarer ihm wurde, wie viel er seinem Partner mit diesen Worten vorenthalten hatte, desto schmerzhafter wurde das Ziehen in Pauls Bauch.
Beinahe hätte er sie auch heute nicht über die Lippen gebracht. Allein, aus der dummen Angst heraus, er würde womöglich nicht erkennen, wie Alan darauf reagierte. Weil Paul gedacht hatte, er müsste das Funkeln mit Alans Augen sehen, wo er es doch spüren konnte. Genau hier: unter seiner Hand, in seinen Armen.
Leider – vielleicht auch zum Glück – war Paul inzwischen zu müde, um diesen Gedanken lange zu verfolgen. Zumal bei Alan scheinbar die Erschöpfung ebenfalls überhandnahm. Das Herz unter Pauls Handfläche kam wie der dazugehörige Verstand offenbar allmählich zur Ruhe, fanden zurück zu ihrem regulären Rhythmus.
Während Alans Atem gleichmäßig wurde und seine Hand von Pauls herabglitt, wusste dieser, dass sein Freund endgültig eingeschlafen war. Langsam löste er seine Umklammerung und zog den linken Arm unter Alans Hals hervor, damit sie beide besser schlafen konnten.
Da erinnerte er sich an die Augenbinde. Langsam tasteten sich Pauls Finger nach oben zu Alans Kopf und fanden den Seidenstoff weiterhin an Ort und Stelle. Er lächelte, spürte dabei erneut dieses warme Kribbeln. Wobei Paul einmal mehr in dieser Nacht bewusst wurde, was ihm heute alles bewiesen worden war. Alan musst ihn nicht ansehen, um ihm zu vertrauen, genauso wenig wie Paul seinem Freund hatte ins Gesicht sehen müssen, um zu erkennen, wie viel Alan dieses Geständnis bedeutet hatte.
Glücklich löste Paul den Knoten an Alans rechter Kopfseite. Sobald der aufwachte, würde sich das Seidentuch lösen und abfallen. Er lächelte, während er für eine Sekunde daran dachte, dass er seine eigene Blindheit gern genauso einfach loswerden würde.
Gleichzeitig wurde ihm allerdings auch bewusst, dass der Gedanke daran, womöglich tatsächlich nie mehr als ein paar Schatten würde erkennen können, seinen Schrecken verloren hatte. Zum ersten Mal seit über einem Jahr konnte Paul eine Zukunft vor sich sehen. Eine, in der Alan weiterhin bei ihm sein würde.
Erschöpft – körperlich wie seelisch – legte er sich neben seinen Freund auf den Rücken und zog die Augenklappe vom Kopf. Das Auge hielt Paul trotz allem geschlossen. Er versuchte, sich vorzustellen, was er sehen würde, wenn er es jetzt öffnete und der Unfall nie passiert wäre.
Alan hatte gesagt, er hätte mehrere Lichterketten an der Decke festgemacht. Vor Pauls geistigen Auge sah er eine weiß getünchte Zimmerdecke, etwa vier mal fünf Meter, an der jemand alle paar Zentimeter eine kleine LED-Lampe befestigt hatte. Ein Lichternetz, von Klebeband gehalten, um einen Sternenhimmel über ihn zu zaubern. Paul lächelte, während er es geistig vor sich sah.
‚Perfekt.‘ Alan hatte ihm das best mögliche Weihnachten geschenkt. ‚Nein, viel mehr …‘
Denn er hatte recht gehabt, genau wie dieser Kerl mit dem komischen Namen, der ‚den kleinen Prinzen‘ vor so langer Zeit geschrieben hatte. Paul brauchte keine Augen mehr, um zu sehen, wie sehr Alan ihn liebte. Selbst wenn er nie wissen würde, wie dessen Gesicht wirklich aussah, er hatte bereits hinter die Fassade gesehen und damit alles, was wichtig war. Mit diesem schönen Gedanken schlief er glücklich ein.
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Ein merkwürdiges Jucken in seinem rechten Auge weckte Paul einige Stunden später. Irritiert rieb er mit der Hand dagegen, bevor er sich zu Alan umdrehte. Das Jucken wurde erträglicher, deshalb tastete Paul nach seinem Freund, der offensichtlich noch immer neben ihm schlief.
Er liebte es, als erster von ihnen aufzuwachen, da ihm dies ausreichend Zeit gab, auf Alans ruhigen Atem und dessen Herzschlag zu lauschen. Also lehnte Paul seinen Kopf gegen den breiten Rücken und hauchte einen zarten Kuss zwischen die Schulterblätter.
Alan murrte unzufrieden, weil er weder aufwachen noch den Hautkontakt zu verlieren wollte. Im Halbschlaf griff er mit der Rechten hinter sich und fand Pauls Finger, der ihm auf halbem Weg entgegengekommen war. Mit dem Kontakt deutlich zufriedener, zog Alan die eroberte Hand nach vorn und presste sie gegen seine Brust.
Paul lächelte, legte erneut sanft seine Lippen auf die straffe Haut am Rücken seines Partners. Allmählich fühlte er, wie dessen Griff wieder lockerer wurde, während er ein weiteres Mal eindöste.
Schließlich glitt Alans Hand herab und ließ Pauls eigene einsam auf der muskulösen Brust vor ihm zurück. Zärtlich strich sein Daumen an der klaren und gut fingerbreiten Kante unterhalb des Muskels entlang. Vorsichtig, da er nicht sicher war, wie hell es inzwischen im Raum geworden war, öffnete Paul seine Augen und erstarrte.
Da war kein Schmerz, kein Stechen wie in den letzten zwei Wochen bei jeder Kontrolle, bei jedem Verbandswechsel, selbst beim Wechsel zur Augenklappe am Vortag war er noch lichtempfindlich gewesen. Doch jetzt schmerzte nichts und es war definitiv helllichter Tag, wie er mit heftig klopfendem Herzen feststellte.
War er wirklich wach? Wenn nicht, wollte Paul bitte nie mehr erwachen. Ewig schlafen, ewig träumen, ewig hier.
Paul konnte das Keuchen kaum unterdrücken, während er sich ein paar Zentimeter vom Rücken seines Freundes entfernte – weiter wagte er sich nicht weg, denn mit jedem Millimeter schien sich der Traum in Luft aufzulösen. Seine rechte Hand zitterte, während Paul sie von Alans Brust löste. Es fühlte sich an, als wollte sein Herz vor Aufregung zerspringen. Zaghaft, fast so, als traute er sich nicht, seinen Partner zu berühren, aus Angst, er würde jeden Moment verschwinden, fuhr Paul mit den Fingern über die Haut zwischen Alans Schulterblättern.
Sein ganzer Körper fühlte sich an, als würde er beben. Mit der Fingerspitze zeichnete Paul eine verschwommene Linie nach, die er bisher nicht gekannt hatte. Von dort wanderte er weiter, folgte der nächsten Spur. Paul musste sich vorbeugen, um sie auch weiterhin erkennen zu können. Da waren Muskelstränge, Gelenke, die unnatürlich, falsch und trotzdem ‚real‘ aussahen.
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Alan murrte, wollte nicht durch das kitzelnde Gefühl des Fingers geweckt werden, egal wie erotisch er die Berührung in der letzten Nacht gefunden hatte. Als Paul am Ellenbogen angelangt war, zuckte dessen Hand zurück und kam erneut zwischen Alans Schulterblättern zum Liegen. Eine warme Handfläche deckte die Stelle ab, während Paul ein ersticktes Schluchzen entrann.
Irritiert blinzelte Alan, doch da die Augenbinde noch immer davorlag, konnte er nicht wirklich etwas sehen. Verwirrt griff er nach dem Tuch und wollte sich eben umdrehen, als Pauls Finger die gleiche Spur ein weiteres Mal zwischen seinen Schulterblättern zog und er ebenfalls erstarrte.
„Pax animi…“, flüsterte Paul mit bebender Stimme.
Zwei Worte, die Alan einen Schauer durch den versteinerten Körper jagten und sein Herz schlagartig von null auf hundert trieben. Er kniff die Augen zu und keuchte, unfähig sich zu bewegen, geschweige denn zu sprechen.
„Was heißt das, Alan?“
Langsam umfasste Pauls Rechte seine Schulter, nachdem Alan nicht antwortete. Die Finger, die ihn schließlich auf den Rücken zogen, fühlten sich an, als würden sie seine Haut versengen. Es fühlte sich so irreal an, so unwirklich, so beängstigend. Deshalb sah Alan weiterhin stur zur Seite, weigerte sich mit fest zusammengekniffenen Augen, Paul anzusehen. Auch unter anderen Umständen dürfte ihn das unnatürlich schnelle Heben und senken seines Brustkorbes ohnehin verraten.
Es gab kein Verstecken mehr – nirgendwo.
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Obwohl alles selbst aus dieser Nähe unscharf und undeutlich blieb, die angespannten Muskeln um Alans Augen waren ein untrügliches Zeichen, dass dieser sicher nicht schlief, sondern sie bewusst zusammenkniff, um Paul nicht anzusehen. Bei nur knapp fünfzehn bis zwanzig Zentimeter Abstand war selbst das zu erkennen.
„Alan?“
Ein kurzes Keuchen bevor dieser mit heiserer Stimme antwortete: „Seelenfrieden.“
Fasziniert wanderte Pauls Blick über die Muskelfasern vor ihm, die sich so deutlich auf Alans rechtem Oberarm bis zur Brust hin abzeichneten. Die Detailtreue war für Paul unglaublich. Obwohl die Farben leicht verblasst waren, sah es unfassbar echt aus. Da konnte sein Verstand ihm noch so heftig einhämmern, dass die aufgebrochene Haut und die daraus hervorscheinenden Muskelstränge unter keinen Umständen real waren.
Entschlossen schob er sich auf Alan, um mehr von diesem faszinierenden Anblick erkunden zu können. Langsam wanderte Pauls Blick auf Alans linke Seite und er zog zischend seinen Atem ein, bevor ein Lächeln über sein seine Lippen huschte. Zögerlich fuhr sein Finger die blassen bläulichen Linien nach, die sich vom Schlüsselbein das Schultergelenk entlang zum Oberarm hinzogen. Pauls Lächeln wurde breiter und sein Blick schnappte zurück zu Alans Gesicht.
Doch der sah weiter stur nach links, hielt seine Augen fest geschlossen. Jetzt, wo Paul nicht mehr einfach nur fasziniert von den Linien auf Alans Oberkörper war, merkte er erst, wie stark der ganze Körper unter ihm bebte. Wie viel Kraft es seinen Freund kostete, sich nicht zu bewegen – nicht zu Flüchen.
Das Lächeln wurde schwächer. Warum sah Alan ihn nicht an? Die Augenbinde war in dem Moment endgültig heruntergerutscht, als Paul ihn herumgedreht hatte.
Vorsichtig legte er die rechte Hand auf Alans Wange, fühlte erneut, wie der zusammenzuckte. Er war so weit gekommen. Das hier war sein Wunder. Paul konnte sich nicht mehr zurückhalten – wollte nicht warten. Es war ihm in diesem Moment vollkommen egal, ob das hier ein Traum war oder nicht. Selbst wenn es nicht Alans echtes Abbild wäre, er hätte zumindest endlich irgendein Bild von ihm. Das war mehr, als Paul gestern Abend noch zu hoffen gewagt hatte.
„Schau mich an“, flüsterte er. „Bitte, Alan.“
Dessen Lippen bebten, bevor sie sich zu seinem schmalen Strich zusammenpressten. Er hatte Angst. Schlichte, pure, reine Angst, die förmlich aus ihm herauszufließen schien. Sogar für Pauls verschwommenen Blick war das mehr als deutlich zu erkennen. Wie in Zeitlupe drehte Alan den Kopf, während Paul mit dem Daumen über dessen Wange streichelte.
„Was ist das?“, fragte Paul mit einem Mal, nachdem er die in dunklem Rot unter seiner Hand leuchtende Haut erkennen konnte.
Sie zog sich mit unregelmäßigem Rand vom Haaransatz über das linke Auge, die Wange hinunter bis zum Schlüsselbein, wo sie direkt in schwarzbläulich schimmernde, viel deutlichere Linien überging.
„Ist das auch ein Tattoo?“
Alan schüttelte leicht den Kopf, wagte es aber offensichtlich nicht die Augen zu öffnen. „Ein Feuermal“, antwortete er heiser.
Noch immer rieb Pauls Daumen über die Wange. Einem plötzlichen Impuls folgend, lehnte er sich vor und legte seine Lippen auf Alans. Wie automatisch öffnete der seinen Mund und versank in dem vertrauten Gefühl.
„Mach die Augen auf und sieh mich an“, forderte Paul ihn erneut flüsternd auf.
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Es war die blanke Angst, die Alan davon abhielt, der Aufforderung zu folgen. Dabei war es letzte Nacht noch so einfach gewesen. Was auch immer Paul von ihm brauchte, er hatte es getan. Aber das hier war etwas anderes.
Sein ganzes bisheriges Leben hatte Alan mit diesen Blicken verbracht. Prüfend, wertend. Das Urteil war stets schnell gefallen. Er wollte keinen dieser Ausdrücke in Pauls Gesicht sehen.
Im Kindergarten waren es Neugier, vielleicht die Faszination von dem, was nicht der Norm entsprach. Alans erwachsenes Ich wusste, dass die anderen Kinder es nicht böse gemeint hatten. Aber das Lachen über den großen, mitunter etwas tollpatschigen Jungen mit dem riesigen Fleck im Gesicht, hatte an seiner Ehre gekratzt. Was die anderen Kinder damals lediglich neugierig hinterfragten, hatte Alan mit jedem Mal wütender gemacht.
In der Schule wurden die Blicke abschätzend, abwertend. Das Gelächter war nicht mehr neugierig und freundschaftlich. Bewusste Provokation, die ihr Ziel viel zu oft erreichte. Rasende Wut, Prügeleien, Verweise. Und von seinen Eltern stets nur die zischend herausgepresste Frage, warum er nicht wie alle anderen sein konnte.
Aber irgendwann drehte es sich und die Neugier kehrte in den Blicken zurück. Die Frage, was genau hinter dem ‚Freak‘ steckte. Diesem Kerl, bei dem sie sich nicht sicher waren, ob es sie faszinierte oder erschreckte. Der Typ, mit dem man sich verabredete, um zu sehen, ob der Rest seines Körpers weitere Male, mehr Absonderlichkeiten aufwies.
Also hatte Alan, kaum volljährig geworden, mit den ersten Tattoos dafür gesorgt, dass jeder neugierige Blick irgendetwas fand. Wenigstens für eine Weile, eine Nacht. Denn wenn die Neugierde befriedigt war, hatte so gut wie niemand mehr Interesse. Genauso wie sich keiner von ihnen jemals für den Menschen hinter all der Farbe auf seinem Körper interessiert hatte.
Also war er ihnen ausgewichen – diesen Blicken. Hatte sich versteckt vor all den Augen, die zu neugierig jedes Muttermal begutachteten, die nächsten Absonderlichkeit suchten. Im Schutz der Dunkelheit fragte keiner nach einem Makel. Es gab genug, die wie er das Licht scheuten. Aus den unterschiedlichsten Gründen.
„Alan ...“, flüsterte Paul noch einmal. „Mach die Augen auf.“
In seiner Brust hämmerte das Herz wie wild vor Angst. Aber da war auch diese leise, kleine Hoffnung, der Funke dessen, was Paul ihm letzte Nacht endlich hatte sagen können.
Zögernd gehorchte Alan deshalb der leisen Bitte. Doch alles, was er sah, war ein Auge, das ihn förmlich anstrahlte, das ihn ansah, so wie es ihn schon – trotz Blindheit – in den letzten Monaten gesehen hatte. Nur dass es diesmal keine zehn Zentimeter von seinem Gesicht entfernt strahlte.
Pauls Lächeln wurde immer breiter, als er Alan endlich zum ersten Mal in die Augen sah.
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„Wow“, hauchte Paul, unfähig den Blick abzuwenden.
Während Alans ihm das rechte Auge eisblau entgegenstrahlte, leuchtete das linke in einem tiefen smaragdgrün, durchsetzt von einigen rotbraunen Flecken. Ein Anblick, wie Paul ihn sich in seinen kühnsten Träumen nicht hätte vorstellen können.
Ein verkrampftes Rucken riss Alan unter ihm einmal hin und her. Erst da wurde Paul bewusst, wie viel Kraft es seinen Freund kostete, still liegen zu bleiben.
Sein Lächeln wurde breiter als Paul mit dem rechten Zeigefinger aber auch mit seinem verbliebenen Auge ein weiteres Mal dem Rand von Alans Feuermal über die Wange und den Hals hinab bis zur Schulter folgte. Dort zeichnet Paul erneut die feinen Linien bis auf den Oberarm nach, bevor er seinem Partner mit einem breiten Lächeln fest in die Augen sah.
„Ist das ein Flügel? Mit Federn?“, fragte er mit der Andeutung eines Grinsens und sein Herz hüpfte vor Freude, als er den Rotschimmer auf Alans Wangen erblickte.
Es war weiterhin alles extrem unscharf – und das, obwohl Pauls Kopf sich inzwischen maximal dreißig Zentimeter über Alan Körper befand. Aber er konnte ihn sehen! Den beschämten Blick zur Seite genauso, wie diese so faszinierend unterschiedlichen Augen, das Feuermal, eine lang gezogene Narbe über der rechten Augenbraue. Genauso wie die Tattoos, die sich über beide Schultern, die Oberarme und im Fall des rechten Armes fast bis zum Handgelenk zogen.
„Siehst Du mich jetzt anders?“, presste Alan heiser heraus und Paul spürte, dass der Körper unter ihm stärker zitterte.
Er lächelte und zuckte mit den Schultern. Die Frage hatte sich ihm nie gestellt. Doch seine Nicht-Antwort ließ die Körperspannung in Alan weiter ansteigen. Da beugte Paul sich sofort nach vorn, um sich einen Kuss zu stehlen.
„Ich sehe dich“, antwortete er leise.
Zufrieden hob Paul den Kopf und fand endlich genau das Leuchten, von dem er sich so sehr gewünscht hatte, es irgendwann einmal erblicken zu können.
„Und ich liebe immer noch den Mann, den ich sehe.“