Kapitel 11 – Unangemessene Angst
Obwohl die Nacht für andere womöglich erst begonnen haben mochte, galt das nicht für die Stunden, die Alan sich mit Paul gönnen konnte. So graute der Morgen noch lange nicht, als die Müdigkeit schlussendlich zu viel für Letzteren wurde. Doch so sehr Alan sich wünschte, die Zeit würde anhalten und ihm etwas mehr hiervon gestatten, so klar war, was ihn am nächsten Morgen erwartete.
Sanft strich er mit den Fingern über Pauls Brust und den Bauch, während sein Blick an dem noch immer bebenden Körper entlang glitt. Etwas in Alan krampfte sich schmerzhaft zusammen. Wäre es das erste und letzte Mal, dass er diesen Anblick genießen konnte? Was genau war das hier für Paul tatsächlich gewesen? Nicht mehr als die Befriedigung eines zu lange aufgestauten Verlangens? Verübeln könnte Alan es ihm nicht.
Schnell schloss er die Augen und vergrub seinen Kopf wenigstens für einen Moment an Pauls Schulter. Das Bett war zu klein, als dass die Position sonderlich bequem hätte sein können. Ein Bein, ein Arm, der Kopf, gefühlt die Hälfte von Alan lag auf Paul, während er gleichzeitig versuchte, diesen nicht mit zu viel seines Gewichts zu belasten. Dem machte das allerdings scheinbar nicht wirklich etwas aus. Im Gegenteil. Paul zog Alan sogar weiter zu sich heran, schlang die Arme um seinen Oberkörper und strich ihm zufrieden durch die Haare.
„Geh nicht weg“, flüsterte Paul noch leise, während sein Atem bereits ruhiger und gleichmäßiger wurde.
Wieder krampfte sich etwas in Alan zusammen. Er schwieg, drehte lediglich den Kopf ein Stück, bis er einen flüchtigen Kuss auf die Haut unter seiner Wange hauchen konnte. Für einen Moment schloss er die Augen, lauschte auf den ruhiger werdenden Atem, bis die Hand auf seinen Haaren erschlaffte.
Erst als er sicher war, dass Paul eingeschlafen war, öffnete Alan die Augen wieder. Es war keine Frage mehr, was als Nächstes passieren würde. Schlichtweg, weil es passieren musste. Die Angst davor, was es aber am Ende bedeutete, ließ dennoch etwas in ihm bluten.
„Keine Sorge, ich lass dich nicht allein“, flüsterte Alan, darum bemüht, die Emotionen aus seiner Stimme herauszuhalten.
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„Guten Morgen! Aufwachen! Auf, auf! Es ist schon deutlich nach 9 Uhr!“
Paul zog die Decke weiter hoch. ‚Noch nicht aufstehen. Es war zu früh!‘
„Kommen Sie schon, Herr Feldmann!“
Eine geradezu gemeine und viel zu kalte Hand packte Paul an der Schulter und schüttelte ihn. Widerwillig öffnete er die Augen einen Spalt weit, um zu zeigen, dass er wach war – sehen würde er seinen plötzlichen Weckdienst ja ohnehin nicht. Glücklicherweise hieß das ebenso, dass ihm kein Sonnenlicht belästigte. Murrend versuchte Paul, die Hand abzuschütteln.
Wer war das überhaupt? Die Stimme kam ihm nicht bekannt vor.
Erschrocken erinnerte Paul sich an die letzte Nacht. Ein Zittern wanderte durch seinen Körper, als ihm klar wurde, dass die Anwesenheit dieses Fremden nur eines bedeuten konnte: Alan war nicht hier. Keine starken Arme, die Paul umschlungen hielten und ihm das Gefühl von Sicherheit gaben, mit dem er letzte Nacht eingeschlafen war. So hätt es bleiben sollen – nicht nur bis zum Morgen, sondern noch viel länger.
‚Wen wundert es? Du hast ihn doch förmlich dazu zwingen müssen.‘
Etwas begann in Paul zu brennen. Ja, er hatte bekommen, wonach er gefragt, was er von Alan verlangt hatte. Und womöglich hatte ein Teil von ihm schlichtweg darauf gehofft, dass es Alan gefallen könnte. Zumindest bis der einen richten Freund fand. Einen, den Alan womöglich sogar liebte – der kein nutzloser Krüppel war.
„A...lan?“, krächzte Paul leise, wohl wissend, dass er keine Antwort bekommen würde.
„Wie bitte?“, fragte der fremde Pfleger stattdessen.
Er klang nicht unfreundlich, trotzdem war es nicht die Stimme, auf die ein Teil von Paul gehofft hatte – noch immer hoffte. Die blieb jedoch verschwunden.
Ein routinierter Griff und der Pfleger hatte Paul dazu gebracht, sich aufzusetzen. „Es ist schon spät. Wie viel Hilfe brauchen Sie?“
Irritiert stellte Paul als der Mann ihn in den Stand zog fest, dass er sogar seine Schlafanzughose trug. Als wäre er sich nicht sicher, ob das, was er am Bauch spürte, eben diese war, tastete er vorsichtshalber mit der freien Hand zu dem Bund. Eindeutig die Hose, in der er immer schlief.
Was zum Teufel lief hier ab? Hatte er sich letzte Nacht etwa nur eingebildet? Ein irrer Traum, ausgelöst von zu viel Bier, das er am Abend zuvor getrunken hatte? Nein, das war nicht möglich! Er hatte gerade einmal zwei Flaschen gehabt. Davon war er doch nicht dermaßen betrunken.
‚Wieso ist Alan dann nicht hier?‘
In den vergangenen drei Monaten war Paul jeden Tag von diesem geweckt worden. Nicht einen Tag hatte er ausgelassen, nicht mal am Wochenende. Zum ersten Mal wurde Paul wirklich bewusst, was es hieß, dass Alan sieben Tage die Woche hier seinen ‚Dienst‘ bei ihm versehen hatte.
Vom Wecken morgens bis zum ins Bett bringen am Abend. Alan hatte Paul geholfen. Bei allem, was ebender nicht alleine bewerkstelligen konnte. Hatte sich um ihn gekümmert. Als Pseudopfleger um seinen Körper, als Therapeut um seinen Verstand und seinen Geist. Und letzte Nacht, da hatte Alan sogar diesen egoistischen Wunsch nach noch mehr Nähe erfüllt.
‚Als was?‘
Eine bleierne Leere breitete sich in Paul aus, als er auf die Frage keine Antwort fand. Nur um postwendend mit Übelkeit ausgefüllt zu werden. Letzte Nacht. Er hatte Alan dazu überredet, ihn quasi moralisch erpresst. Behauptet, es wäre im Sinne von dessen Aufgabe als sein Pfleger. War es das? Der Schritt zu viel, der sie endgültig auseinandergetrieben hatte?
„Wo ist Alan? Warum ist er nicht hier?“
„Wen genau meinen Sie?“, murmelte der unbekannte Pfleger, während er Paul einen Waschlappen in die Hand drückte. „Sie kriegen das hin?“
Der nickte, verstand aber nicht, was hier passierte. Wieso kannte der Kerl Alan nicht. Der war doch in den letzten Monaten jeden Tag hier. Dass dieser Pauls Pflege übernommen hatte, war mit der Heimleitung so abgemacht, das hatte Alan ihm selbst erzählt. Immerhin war der kein ausgebildeter Pfleger, sondern Psychotherapeut.
„Alan … ist Arzt hier. Er … er ist für mich zuständig.“
„Meinen Sie Doktor Koch? Den Seelenstreichler?“ Paul zuckte zusammen bei den deutlichen Worten des Pflegers und ließ den Waschlappen ins Becken fallen. „Wenn ich das richtig gehört habe, packt der wohl gerade seine Sachen.“
Was bedeutete denn das jetzt? Das konnte doch nicht sein! Alan hatte gesagt, dass er ihn nicht allein lassen würde. Er hatte es versprochen, verdammt noch mal! Paul war sich sicher, dass er es in der letzten Nacht gehört hatte. Aber wenn das eben doch nur ein Traum gewesen war ...
„Nein“, presste er keuchend heraus.
Selbst wenn dem so wäre. Alan hatte ihm das schon einmal versprochen. Immer wieder hatte der Paul gesagt, dass er sich auf ihn verlassen konnte, dass er ihm vertrauen sollte. Und trotzdem packte Alan einfach seinen Kram, um klammheimlich zu verschwinden?
„Das ist nicht wahr“, flüsterte Paul. Es durfte nicht wahr sein.
„Auf Ihrem Plan steht für heute keine Therapie. Falls Sie bei ihm eine Sitzung haben, werde ich die Stationsleitung bitten, das für Sie zu klären. Könnten Sie sich jetzt aber vielleicht für den Augenblick etwas beeilen. Mir wurde gesagt, Sie brauchen im Bad keine Hilfe. Falls doch, dann geben Sie mir bitte Bescheid. Ich lege so lange frische Sachen für Sie raus.“
‚Nein!‘
Ohne darüber nachzudenken, drehte Paul sich im Bad herum und stürmte in die Richtung, aus der die Stimme des Pflegers gekommen war. Der war so überrascht, dass er gar nicht reagieren konnte. Mit voller Wucht trafen Pauls Hände ihn an der Brust. Der Mann ächzte und strauchelte wohl. Zumindest war das Shirt unter Pauls Händen verschwunden. Stattdessen war Sekundenbruchteile später ein dumpfes Krachen gefolgt von einem Schmerzensschrei zu hören.
Das hieß allerdings noch lange nicht, dass er auch freie Bahn hätte. Hastig schob Paul seine Füße schlurfend auf den Badfliesen, damit er nicht doch über den zusammengebrochenen Pfleger stolperte. Aber der schien nicht im Weg zu liegen und so kam Paul sicher bis zur Badezimmertür.
Von dort kannte er den Weg nur zu gut. Sechs Schritte bis zur Zimmertür. Doch anstatt davor zu halten, knallte er bereits nach fünf Schritten direkt mit dem Kopf dagegen. Verdammt tat das weh!
‚Sechs normale Gehschritte, du Trottel, keine gerannten!‘, schimpfte Paul mit sich selbst.
Er schob den Schmerz beiseite und riss die Tür auf. Wo lang jetzt? Rechts rum führte der Gang zu den Fahrstühlen, links zum Aufenthaltsraum. Dort war Alan sicher nicht. Deshalb tastete Paul sich nach rechts am Handlauf, der an der Wand befestigt war, entlang.
Mit geradezu winzigen, allerdings zügigen Schritten lief er vorwärts. Hier draußen hatte ihn immer Alan geführt und er hatte nie darauf geachtet, wie weit es bis zum Fahrstuhl war.
„Alan?!“, rief er krächzend und hastete voran durch den Korridor bis zur nächsten Ecke.
Für einen Moment hielt er inne. Was jetzt? Wo sollte er lang?
„Alan? Bist Du hier?“, schrie Paul erneut, so laut er konnte. „Antworte mir!“
Verdammt, das war doch nicht möglich! Wo zum Teufel war der Fahrstuhl. Orientierungslos strauchelte Paul durch die offene Freifläche vor den Aufzügen, bis er sich heftig an etwas aus Metall stieß. Er zischte vor Schmerz und hielt die pochende Hand gegen seine nackte Brust.
„Hallo?“, rief er erneut, doch es antwortete niemand. Panik fing an, Paul zu erfassen, als er nicht mehr wusste, was er tun sollte.
„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte da doch eine kratzige Frauenstimme hinter ihm.
Paul zuckte zusammen und fuhr herum. Da hörte er wiederum in seinem Rücken ein „Pling“ und spürte, wie sich das Metall hinter ihm zur Seite schob.
‚Der Fahrstuhl!‘
„Herr Feldmann?!“, tönte es aus Richtung seines Zimmers lautstark und er erstarrte einen Moment, bevor er hastig versuchte zu der Frauenstimme zu ‚schauen‘.
„Ich will runter, wo sind die Knöpfe?“, stammelte er verzweifelt.
„Erdgeschoss?“, fragte die Frau ruhig und er nickte. Kleine, kühle Hände legten sich auf seine Brust und drückten ihn rückwärts in den Fahrstuhl. „Ist gedrückt.“
Und dann war sie schon verschwunden. Es dauerte keine drei Sekunden, da hörte Paul erneut ein weiteres „Pling“ und tastete nach der Fahrstuhltür. Die war aber nicht da und so stolperte er aus dem Aufzug heraus – hoffend, dass er im Foyer gelandet war.
„Alan! Bist du hier?!“
Wieder keine Antwort. Paul hielt inne. Was sollte das bringen? Er war selbst schuld! Letzte Nacht hätte nie passieren dürfen. Er hatte Alan förmlich dazu gezwungen, dass der mit ihm schlief, sich ihm aufgedrängt. Es war zu viel verlangt gewesen. Er war zu weit gegangen. Pauls Magen zog sich zusammen, als ihm klar wurde, was er getan hatte.
‚Selbst schuld!‘, fauchte die wütende Stimme seines Verstandes erneut. ‚Jetzt hat er dich wie alle anderen verlassen!‘
Alan war fort. Wie Pauls Eltern, wie seine Schwester. Schlimmer! Er war gegangen – wie Jannik. Würde er ihn jetzt auch ablehnen? Vielleicht sogar hassen, so wie seine Großeltern es taten? Weil er nicht sein konnte, was sie haben wollten. Und dafür, dass er überlebt hatte, wo die brave Enkeltochter gestorben war. Nur dass Alan einen guten Grund hatte, sauer zu sein. Paul hatte ihn benutzt – für sein eignes Vergnügen, zu seiner eigenen Befriedigung.
‚Selbst schuld!‘
Der Gedanke schnürte ihm den Hals zu. In seiner Brust brannte etwas, zog sich schmerzhaft durch seinen Körper und zwang ihn förmlich, auf die Knie hinab. Ein Schluchzen entkam Paul, bevor er sich beherrschen konnte.
Er hatte Alan vertrieben. Weil er nicht mehr hatte warten können. Weil Paul sich endlich wieder wie ein verdammter Mensch fühlen wollte, nachdem Alan ihn die ganze Zeit wie einen behandelte. Dabei hätte er es besser wissen müssen. Es war doch so ein vorhersehbares Ende. Er hatte nie etwas anderes erwarten oder nur hoffen dürfen. Nein, es war vom ersten Augenblick an klar, in dem Paul sein Verlangen ausgesprochen hatte.
‚Hättest du es mal gelassen ...‘
„Was machst du denn hier ganz allein? Und warum um alles in der Welt hast Du fast nichts an! Du holst dir doch sonst was!“
Diese Stimme! Paul hob den Kopf. Erst jetzt bemerkte er, dass ihm Tränen auf beiden Seiten seines Gesichts hinab liefen. Irritiert griff er an seine linke Wange. Er hatte nie darüber nachgedacht, ob er auf dieser Seite würde weinen können, aber wie es aussah, war die Antwort: Ja.
„Was zum ...!“
Paul hörte etwas krachend und klirrend auf den Boden aufschlagen. Dann spürte er diese kräftigen und so vertrauten Hände an seinen Wangen und konnte das Schluchzen nicht mehr zurückhalten. Das war nicht fair! Wieso konnte Alan noch so nett zu ihm, wo Paul ihn doch gezwungen hatte …
Wie grauenhaft musste die letzte Nacht tatsächlich für Alan sein, dass der direkt am nächsten Morgen seine Sachen packte, um zu verschwinden? War alles, was Paul sich einbildete gehört zu haben, nur gelogen gewesen? War seine Entstellung am Ende doch so furchtbar, dass er für Alan nicht zu ertragen war?
Nichts anderes als Sex. Alan hatte nur das getan, was Paul von ihm verlangt hatte. Da war sonst nichts. Und es würde auch nie etwas sein. Was für eine Idiotie, zu glauben, da könnte jemals wieder mehr für ihn existieren. Der Gedanke, was er ausgerechnet dem einen Menschen, dem er glaubte vertrauen zu können, offenbar zugemutet hatte, tat so unglaublich weh.
Paul stieß die Hände von sich und versuchte sich aufrappeln, stolperte aber und fiel nach hinten. Auf allen vieren schob er sich weiter weg von der Stelle, an der Alan zu ihm gekommen war. Zumindest hoffte er, dass er genau das tat.
„Es tut mir leid …“, flüsterte Paul mit erstickter Stimme als er endlich mit dem Rücken gegen etwas Hartes und Festes stieß. „Es tut mir so leid, Alan …“
Paul schlang die Arme um seinen nackten Oberkörper und zog die Knie an seine Brust. Am liebsten würde er sich in Luft auflösen. Das wäre ohnehin für alle besser. Dann bräuchte Alan nicht davonlaufen und die anderen müssten seinen grauenhaften Anblick nicht weiter ertragen. Paul sank in sich zusammen, versuchte seine linke Seite und das Auge zu verstecken, damit nicht noch mehr Leute von seinem Anblick angewidert wurde. Die Vorstellung, dass Alan ihn so abstoßend fand, dass er Paul nicht mal mehr als seinen Patienten ertragen konnte, zerriss ihn immer weiter.
‚Hässlich. Entstellt. Außen wie innen‘, schrie es in Pauls Kopf. Deutlich unerträglicher aber war der Gedanke, erneut allein zu sein. Zum ersten Mal seit Monaten wünschte er sich wieder, er hätte nicht überlebt.
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Alan starrte nur voller Unverständnis auf das zitternde Häufchen Elend vor ihm, das scheinbar verzweifelt versuchte, das Schluchzen zu unterdrücken. Irritiert sah er sich nach dem Pfleger um, der Paul normalerweise hatte wecken und dann zum Frühstück begleiten sollen. Unbändige Wut flammte mit einem Mal in ihm auf. Hatte etwa irgendein Arschloch was mit seinem Kleinen angestellt? Wo war der Mistkerl?
„Es tut mir so leid“, flüsterte Paul immer wieder. „Ich hätte das nicht verlangen dürfen.“
Endlich verstand Alan, was Paul meinte. Seine Eingeweide verkrampften sich, während seine Augen sich weiteten. Er stolperte, weil seine Füße nicht schnell genug auf die Anweisung des Kopfes reagierten und sich in Bewegung setzten. Der Aufprall auf dem harten Steinboden schmerzte in Alans Knien, aber das war ihm in dem Moment egal. Paul versuchte, ihn wegzustoßen, doch er war deutlich stärker und presste den unter Schluchzern bebenden Körper fest an sich.
„Du Dummkopf“, murmelte Alan, noch während sich ein bitteres Lächeln auf seine Lippen schlicht.
„Geh nicht weg“, krächzte Paul und klammerte sich an ihn. „Lass mich nicht allein.“
Alan schüttelte jedoch den Kopf. „Ich kann nicht weiter hier arbeiten“, flüsterte er mit gebrochener Stimme. „Nicht nach dem, was letzte Nacht passiert ist.“
Erneut liefen Paul Tränen über die Wangen. Alan konnte sie spüren, wie sie an seinem eigenen Hals hinab rannen, den Kragen des Hemdes durchnässten. Anstatt zu antworten, klammerte Paul sich nur noch fest an ihn, fast so, als würde er allein damit verhindern wollen, dass Alan verschwinden konnte.
„Himmel ... Bitte beruhige Dich doch, Paul“, versuchte ebendieser erneut seinen Schützling zu beschwichtigen während er dessen Körper in seinen Armen sanft vor und zurück wiegte. „Letzte Nacht habe ich gegen gefühlt hundert Vorschriften verstoßen. Von meiner Berufsethik ganz zu schweigen.“
Als er Pauls Oberkörper ein Stück von sich wegschob, um ihm ins Gesicht sehen zu können, biss der sich gerade auf die Lippe. Das intakte und dennoch blinde rechte Auge zuckte von einer Seite zur anderen. Fast so, als würde Paul versuchen, etwas zu finden, an dem sich sein Blick festhalten konnte. Genauso, wie seine Hände sich noch immer in Alans Hemd klammerten. Ihn nach unten zogen und dort festhielten. Beinahe so, als würde ihn das allein daran hindern können, aufzustehen und hier rauszulaufen.
Dabei hatte Alan nicht die geringste Absicht zu verschwinden. Der Anblick gab ihm jedoch die Sicherheit, die ihm seit der vergangenen Nacht gefehlt hatte. Dass er nach dieser nicht mehr hier hatte arbeiten können, war für Alan klar gewesen. Den Bruch seiner Ethik hätte er sich nicht verzeihen und Paul als dessen Therapeut weiter gegenüber treten können. Er lächelte und zog Paul erneut in eine Umarmung.
„Es wird alles gut.“, wisperte Alan ihm ins Ohr. „André hat mir gestern gesagt, dass ich mich entscheiden muss, was mir wichtiger ist. Du oder der Job hier im Heim. Und genau das hab ich getan.“