Lilianna wurde durch die prunkvollen Gänge des Schlosses geführt. Ausladend geschwungene Treppen und Hallen passierend erreichten sie einen von einer gewaltigen eisenbeschlagenen Eichentür versperrten Flügel, den zwei Strigoi in dunklen Rüstungen bewachten. Sie ließen sie eintreten. Den Atem anhaltend ging Liliannas Blick durch die vor ihr liegende Halle. Säulen zwischen Spitzbögen trennten kerzenerleuchtete Seitenschiffe ab. Eine gewaltige, nachtschwarze Schale ruhte in einer Art Altarnische am Ende. Rot ruhte Blut darin. Kelche standen auf Simsen. Von dort, im Schein des Mondes, der durch finsterste Riten abbildende Buntglasfenster fiel, trat der Graf von Nebeltann auf sie zu. Obwohl sich kein Wind regte, schien sein schwarzer Brokatmantel ehrfurchteinflößend aufzuwehen und sein goldenes Haar wie im Wasser zu schweben. Seine Füße berührten kaum den Boden, glitten wie durch die Luft zu ihr, während sein Schatten unnatürliche Formen warf. Die Schönheit seines scharfkantigen Gesichtes und die Eleganz und Kraft seiner Bewegung hatte nichts von dem Eindruck verloren, den sie bei ihrer ersten Begegnung auf Lilianna gemacht hatten. Es kostete sie alle Willenskraft, seiner Ausstrahlung zu widerstehen. Wie bei jeder ihrer Begegnungen mit ihm, regte sich der Wille, alles für die Gunst dieses Mannes zu tun, in ihr, den sie niederkämpfen musste. Bei einer der verzierten Sitzgruppen in der Halle winkte er sie heran. Lilianna verneigte sich, allen Zorn in sich sammelnd, ohne ihre Gefühle zu offenbaren. Er war der Feind! Als sie auf ihn zutrat wanderte ihr Blick durch die Seitenschiffe. Sie schienen in verschiedene Bereiche eingeteilt. Eine Bibliothek, ein Studierzimmer, etwas, das wie ein alchemistisches Labor aussah, Weitere Türen führten tiefer in den Flügel, den der Graf für sich zu beanspruchen schien. Lilianna kniete vorm ihm nieder, wie Raoul es ihr beigebracht hatte, Demut vortäuschend sah sie zu Boden. Die dunkel lockende Stimme des Strigoi zerschnitt die Stille. Ruhig hallten seine Worte zwischen den Säulen wider, ,,Du hast noch kein Wort gesprochen und mich doch bereits belogen”. Erschrocken sah Lilianna auf. Die uralten Augen des Grafen blickten bis auf den Grund ihrer Seele. ,,Es ist Zorn in dir, und Hingabe, gegen die du ankämpfst”, stellte er bedauernd fest. Lilianna war sprachlos. Las er ihre Gedanken? Wie sollte sie sich verhalten und was würde geschehen, wenn er durchschaute, dass sie niemals vorgehabt hatte, sich zu unterwerfen? Der Graf lehnte sich zurück und sah an ihr vorbei, ,,Ich habe dich gerettet, weil ich etwas in dir gesehen habe”, er strich gedankenvoll über den Rand des Kelches in seiner Hand, ,,Aber du bist auf der Hut, du willst dich mir nicht offenbaren. Schließlich kennst du mich als deinen Feind, nicht wahr? Und viele sagen, es ist klug, sich seinen Feinden nicht zu offenbaren.” Er seufzte, ,,Ich lebe bereits lange im Schatten und halte die Wahrheit über mich vor der Welt geheim. Ich habe nicht die Macht, mich zu offenbaren, da die, die mich umgeben, gegen mich wären”, wieder sah er sie direkt an, ,,Eine vertraute Situation, nicht wahr?”. Lilianna funkelte ihn zornig an. Es war nichts Gleiches an ihnen! Der Graf schmunzelte kaum merklich, ,,Ah, etwas Wahrheit”. Sofort wand Lilianna den Blick zu Boden und bannte die Wut aus ihrem Antlitz. Sie hatte die Beherrschung verloren, er sollte sie für eine willige Dienerin halten! ,,Du wirst mir vorhalten, dass ich alle getötet oder versklavt habe, die die liebst”, ein tiefer Schmerz schwang in seiner Stimme, der Lilianna wider ihren Willen berührte, ,,Ich gebe dir Recht. Es wäre nur nachvollziehbar, solltest du sie rächen wollen. Du sollst wissen, dass ich es nicht gern getan habe”. Lilianna unterdrückte den Impuls, ihn ungläubig anzusehen. ,,Wir sind im Krieg. Licht gegen Dunkelheit. Doch beides ist nicht, was es scheint. Ich traue dir zu, erkannt zu haben, dass das Licht die Lüge ist. Du musst noch erkennen, dass die Dunkelheit die Wahrheit ist”. Lilianna schauderte. Mochte mit dem, was sie für sich als das Gesetz der Macht bezeichnet hatte sein, was der Graf die Dunkelheit nannte? Auf keinen Fall wollte sie seiner Ideologie glauben! ,,Euer Kloster war darauf ausgerichtet, uns zu vernichten und die Lügen des Lichtes in der Welt zu stärken”, seine Stimme wurde angsteinflößend finster, ,,und nichts ist mir so verhasst wie die Falschheit des Lichtes”. Nachdenklich schwenkte er das Blut im Kelch. ,,Also musste ich das Kloster vernichten. Meine Kinder, die Strigoi, gingen zu weit”, er schüttelte bedauernd den Kopf, ,,aber sie sind jung und wild. Und Nahrung ist rar”. Lilianna gab es auf, Demut vorzutäuschen, er durchschaute sie sowieso. Hasserfüllt sah sie ihn an, ,,Ihr seid also nichts als unschuldige Opfer?”, höhnte sie kalt. Anstatt der befürchteten Wut zeigte der Graf ein anerkennendes Lächeln, das Lilianna das unerwünschte Gefühl gab, weiter nach seiner Gunst streben zu müssen. ,,Es gibt keine Unschuld, es gibt keine Schuld. Es gibt Konsequenzen von Handlungen, manche wollen wir, manche nicht. Nichts ist an sich gut oder böse. Denn welche Konsequenz wünschenswert ist, ist rein individuell. Ich will dir nur sagen, dass es Gründe gab. Andere, als eine reine Bosheit meiner Art, die du vielleicht annimmst.” Lilianna sah ihn verächtlich an, ,,Warum wollt Ihr mein Verständnis? Ich bin für euch nur eine Sklavin, deren Leben jederzeit beendet werden könnte.” Der Graf lächelte sie warm an und Lilianna überkam ungewollt ein wohliger Schauder, ,,Eine sehr gute Frage, Lilianna”, er beugte sich zu ihr vor, wie gelähmt saß Lilianna da, ,,Ich träume von einer besseren Welt, und ich will, dass du einen Platz darin hast.” Lilianna wollte etwas sagen, doch kein Laut verließ ihre Kehle. Wut über ihre Starre mischte sich mit dem weiter wachsenden, unangenehm warmen Gefühl. ,,Ich will, dass jeder Mensch seinen Platz darin findet”, er lehnte sich wieder zurück, erleichtert atmete Lilianna aus, ,,Das Licht sagt, alle Menschen sind gleich, und doch herrschen Unwürdige durch Lügen über durch Lügen entwürdigte Würdige. Und alle leiden sie, an Selbstbetrug, Angst, oder Unterdrückung. Erfüllung ist nur, wenn wir unseren Platz in der Welt einnehmen.” ,,Und ihr wisst, wer auf welchen Platz gehört und werdet die Entscheidung übernehmen?”, spottete Lilianna. Ein subtiles Zähneblecken des Grafen ließ sie verstummen. Sie durfte nicht zu weit gehen. Warum ließ er ihr ohnehin so viel durchgehen? ,,In einer vom Licht befreiten Welt findet sich jeder fast von allein auf seinem Platz ein. Aber denk nicht zu viel über die Welt nach. Lebe in der Gegenwart, im Moment. Dein Platz ändert sich mit jeder Sekunde und mit jeder musst du ihn neu erkennen und erkämpfen. Wo gehörst du hin? Raoul ist daran gescheitert, deinen Willen gefügig zu machen. Weil es nicht dein Schicksal ist, gefügig zu sein. Nein, du scheinst nicht dienen, sondern herrschen zu wollen”, erneut beugte er sich vor. Lilianna schluckte unwillkürlich. Sanft strich seine Hand über ihre Wange und Lilianna konnte sich einer wohligen Gefühlsexplosion nicht verwehren, ,,Du willst Macht”, hauchte er dunkel und Lilianna stöhnte aus einer Untiefe ihres Geistes auf ,,Und weil Ihr Freiheit und Wahrheit so schätzt, nutzt Ihr Eure dunkle Kraft um meine Gefühle zu beherrschen”, zwang sie schaudernd hervor. Der Graf lächelte sie glühend an, ,,Hast du einmal darüber nachgedacht, dass ich vielleicht keine solche Kraft besitze, dass wahr sein und aus deinem tiefsten Innern stammen mag, was du empfindest?” Stumm verharrte Lilianna und starrte ihn an. Alles in ihr wollte ihn für diese Absurdität auslachen, doch ein Gefühl der Angst, er könne Recht haben, ließ dies unmöglich werden. ,,Geh nun”, befahl der Graf, ,,wir werden uns vielleicht wiedersehen”. Lilianna verließ hastig den Saal.