Es dauerte Tage, bis Katharina gänzlich zu sich kam. Verschwommene Erinnerungen an Alfred, der sie säuberte oder ihr geduldig Haferbrei anbot kreisten in ihrem Kopf. Fetzen von Gesprächen, deren Inhalt ihr nicht mehr klar war. Doch irgendwann gewann ihr Bewusstsein an Klarheit. Mehr und mehr der Wortwechsel blieben ihr präsent. Irgendwann begann sie, an vorherige anzuknüpfen, erwiderte Alfreds Lächeln zaghaft. Auch, wenn sie nachts Alpträume plagten und sich immer wieder widerwärtige Erinnerungen und Selbsthass Bahn brachen, stand Katharina eines Morgens auf und zog sich das Leinenkleid über, das solange neben dem Bett auf sie gewartet hatte. Alfred blickte sie überrascht an, als er das Zimmer betrat. Doch die Überraschung wich schnell einem Lächeln, ,,Es geht dir besser?” Katharina nickte. Sie brauchte einen Moment, um zu antworten. ,,Suchen sie nach mir?” Alfred schüttelte den Kopf, ,,Es scheint niemanden zu interessieren. Ich hatte mir anfangs große Sorgen gemacht, stets den Schrank vor die Tür geschoben, falls man das Haus durchsuchen würde, aber niemand kam. Es gibt wieder vermehrte Strigoi-Angriffe in der Umgebung, die Leute finden allzu schnell andere Themen. Es ging ihnen nie wirklich um dich oder…” ,,Linya”, ergänzte Katharina mit halb versagender Stimme. ,,Linya”, wiederholte Alfred. ,,Ihr wart Opfer von Opfern einer grausamen Welt.” ,,Siehst du dich auch nur als Opfer?”, zischte Katharina bitter. Alfred schwieg. ,,Ich kann nicht ungeschehen machen, was geschehen ist. Ich kann die Schuld auch nicht von mir weisen. Aber vielleicht gibst du mir die Chance, ein wenig davon wiedergutzumachen.” Aufrichtiges Bedauern lag in seiner Stimme. Katharina blickte durch das milchige Bleiglasfenster. Es dauerte lange bis sie antwortete. ,,Vielleicht. Woran hast du gedacht?” Sie sah ihn ausdruckslos an. ,,Es sind nicht die Menschen oder du selbst, die du hassen solltest. Die Grausamkeit hat einen Ursprung. Es ist die Unbarmherzigkeit, die herrscht, die all das verursacht hat. Es sind die Strigoi!”, sein Blick wurde glühend vor Zorn, ,,Sie lassen die Menschen seit Jahrhunderten in Furcht leben, sie beuten den Adel mit Versprechungen von Schonung aus, der dadurch wiederum mehr als den Zehnt vom Volk nimmt. Die Strigoi haben dafür gesorgt, dass alles in der Welt umkämpft und knapp ist und die Menschen in ihrer Not ihre schlimmsten Gesichter zeigen. Und sie haben dein Kloster vernichtet, allein, weil sie erfuhren, dass deine Blutlinie Gaben besitzen soll, die ihnen gefährlich werden könnten.” Katharina ließ sich aufs Bett fallen. ,,Ja, sie haben mir die Heimat genommen. Und durch dich und deinen Doktor habe ich nun auch alle Würde verloren.” Ein Kloß steckte in Katharinas Hals. Alfred setzte sich vorsichtig neben sie. ,,Deine Würde kann dir niemand außer dir selbst geben und nehmen. Lass deine Schwestern nicht umsonst gestorben sein. Ihr wurdet ausgebildet, um die Strigoi auszulöschen. Sie alle zählen nun auf dich, Katharina!” Ausdruckslos sah sie ihn an. ,,Was soll ich tun?” ,,Bekämpfe sie! Lerne, deine Gabe einzusetzen! Ich habe die letzten Tage damit verbracht, die Ausrüstung, die mein Vater…” Katharina sah ihn entsetzt an. ,,Ja. Mein Vater. Vielleicht verstehst du, warum ich mich erst so spät widersetzen konnte. Jedenfalls habe ich die Ausrüstung zurückerlangen können, die dir die Räuber abgenommen hatten.” Katharina wusste nicht, was sie fühlen sollte. Durcheinander erhob sie sich. Die Erinnerung an den Doktor war zu stark und nun ihn in Alfreds Zügen zu erkennen ließ sie schwindeln. ,,Er… war… ein furchtbarer Vater, glaub mir. Als ich kaum sechs Jahre alt war, hat er mich an den Hof des hiesigen Grafen, des Herrn von Nebeltann, geschickt. Rowena, meine Mutter ist früh den Strigoi zum Opfer gefallen. Mein Vater hat das nie verkraftet. Allen Besitz meiner Familie hat er wie besessen in seine Forschungen gesteckt. Du hast gesehen, in was für einem heruntergekommenen Zustand die Burg war. Gegen Ende blieb uns nur noch ein einziger Diener. Aber er hatte Erfolg. Während meiner Zeit am Grafenhof hatte sich unser schlimmster Verdacht bestätigt. Unser Graf war niemand anderes als der Älteste der Strigoi.” Katharina sah ihn ungläubig an. ,,Die Strigoi sind nichts als Bestien, blutrünstige kaum mehr menschenähnliche Flugdämonen!” ,,So wird es sich erzählt. Vielleicht wollen sie es sogar so, vielleicht haben sie sich auch mit der Zeit verändert. Die Wahrheit ist, sie sehen aus wie wir. Ich glaube, es war das einzige mal, dass mein Vater mich lobte, als ich nach etlichen Jahren mit meinen Erkenntnissen und einer Blutprobe, die mich fast mein Leben gekostet hätte, vom Hof floh. Diese Probe ermöglichte den Durchbruch in seiner Forschung. All die Zeit hatte er meine Mutter in einem Zustand der Bewusstlosigkeit gehalten, um ihre Verwandlung zum Strigoi zu verlangsamen. Nun erhoffte er sich, sie retten und Rache nehmen zu können.” ,,Aber wie kamt ihr auf mich?” ,,Ich hatte auch von den Plänen der Strigoi erfahren, den Orden des heiligen Blutes anzugreifen.”, Alfred ballte verzweifelt die Fäuste, Tränen standen in seinen Augen. ,,Ich hätte zuerst zu euch gehen und euch warnen sollen!”, fluchte er. ,,Stattdessen lief ich wie ein Kind zu meinem Vater und er…” Alfreds Stimme bebte, ,,er entschied, dass wir nur die Vielversprechendste retten sollten, damit die Strigoi nie darauf kämen, dass ihr Geheimnis entdeckt worden war.” Katharina hatte keinen Zorn mehr übrig. Kraftlos ließ sie sich an der Wand herabsinken. ,,Er hatte seinen Körper durch seine Erkenntnisse weit über das, was einem Menschen zustehen sollte, verbessert. Es war ihm ein Leichtes, dich aus deinem Schlafgemach zu entführen, bevor die Strigoi angriffen.” ,,Du hättest sie warnen müssen!”, fuhr Katharina ihn an. ,,Er sperrte mich in genau die Zelle, in die er dich später brachte! Schon als ich auch nur andeutete, dass ich den Orden retten wollte! Er war völlig wahnsinnig!”, Alfred bebte vor Verzweiflung. ,,Ich wollte es so sehr!”, er vergrub das Gesicht in den Händen. ,,Als es dann zu spät war dachte ich, ich müsste zumindest alles daran setzten, dir dazu zu verhelfen, die Stärke zu erlangen, Rache zu nehmen. Aber ich habe darüber wohl auch meine Menschlichkeit verloren.” Er sah Katharina aufgelöst an. ,,Diese Welt raubt uns allen früher oder später Verstand und Mitgefühl. Lass nicht zu, dass dir das auch geschieht, lass nicht zu, dass die Strigoi mit ihrer Grausamkeit das jedem Neugeborenen irgendwann direkt oder indirekt antun.” Er ging zu einer hölzernen Truhe vorm Bett. ,,Ich konnte auch etwas aus dem zerstörten Kloster retten.”, er schob Katharina die Truhe entgegen. Als sie sie öffnete, blickte sie auf die Klingen und ledernen Kleidungsstücke, die ihr der Doktor überreicht hatte. Darauf lagen etliche Schriftrollen, teils rußgeschwärzt, und ein halb verbrannter Foliant. Katharina schlug ihn auf. Die aus dem Kloster wohlvertrauten Seiten zu sehen, versetzte ihrem Herz einen Stich. ,,Die Kraft in dir hätte durch die Gebete aktiviert werden sollen, letztlich hat es die Forschung getan, aber der Rest der Klosterrituale verfolgte einen ganz anderen Zweck. Alles was ihr gelernt habt, die Bewegungsmuster beim Morgengebet, die Meditationsübungen, all das hatte euch auf den Kampf und die Nutzung euer Gaben vorbereiten sollen. Wenn du übst, die dir bereits vertrauten Bewegungsfolgen in den Kampf zu übertragen, die Konzentrationslenkung aus der Meditation zu Nutzung deiner Gabe zu verwenden, dann wirst du feststellen, dass du bereits alles in dir hast, um den Kampf gegen die Strigoi aufzunehmen.” Katharina sah ihn verwirrt an. Konnte Alfred Recht haben? ,,Lass mich dir zeigen, was ich meine”, lud er sie ein. Katharina willigte ein.