Julias Enthusiasmus und Tatendrang wurde nach einer Weile wieder etwas gedämpft, als ihr auffiel, dass sie gar keinen konkreten Anhaltspunkt hatte, auf den sie sich verlassen konnte. Das war nicht unbedingt überraschend, denn ihr »Bekannter«, wenn sie ihn überhaupt so nennen konnte, war einer der Menschen, die die Regierung »Dealer« nannte. Damit waren Leute gemeint, die mit Informationen handelten. Das konnte alles mögliche sein: Datenchips, Artikel, Nachrichten Codes und vieles mehr. Zudem waren Dealer meistens gute Hacker. Der Preis, mit dem die entsprechenden Informationen gehandelt wurde, musste nicht unbedingt Geld sein und schwankte sehr. Oft ließen Dealer sich auch mit Gefallen bezahlen. So war es zwischen ihr und Alex gewesen.
Er war einer der besten Dealer in dieser Stadt. Julia hatte ihn durch Zufall kennengelernt. Er war derjenige, der ihr einen Stadtpass besorgte. Andernfalls wäre sie gar nicht hier in die Stadt reingekommen. Im Gegenzug für einen Gefallen. Einen, den er noch nicht eingefordert hatte. Und ein bisschen graute es ihr vor dem Tag, da er dies tun würde. Denn sie wusste, würde rauskommen, dass sie sich mit dem meistgesuchtesten Dealer niemand anderem als Alex Chen, oder wie die Unterwelt ihn kannte Shadow, einlassen – dann hätte sie Probleme. Weit mehr, als nur die Drohnen.
Julia versuchte sich zumindest an den ungefähren Ort zu finden, an dem sie Alex das letzte Mal getroffen hatte. Was nicht leicht war, da es damals Nacht gewesen war und Alex hatte sie so lange herum geführt, bis sie endgültig verwirrt gewesen war.
Sie verdrehte die Augen. Dealer und ihr Hang zur Geheimniskrämerei. Aber andererseits er hatte Recht. Hier waren fast überall Drohnen. Es wäre übel, wenn Agenten wie Joon Alex festnehmen würden. In mehr als einer Hinsicht.
»Alex?«, rief Julia halblaut und trat in eine verlassene Gasse, die aussah als wäre hier schon sehr lange niemand gewesen. Als keiner auf ihren Ruf reagierte, machte Julia einen Schritt weiter nach vorne in die Gasse hinein und sah sich genauer um.
Die Zeit schien hier angehalten worden zu sein. Von irgendwo konnte Julia das leise rhythmische Tropfen eines kaputten Rohrs hören. Doch das war schon das einzige Geräusch, was ihre Ohren erreichte. Es gab kein geschäftiges Treiben, keine Stimmen oder Schritte, abgesehen von ihren eigenen. Nur die gelegentlichen Geräusche von Wind, der durch die Gasse wehte und den Müll aufwirbelte. Müll, das waren Blechteile von verschiedenen Gerätschaften und teilweise Drohnen, die aussahen als kämen sie aus einem anderen Jahrhundert. Julia konnte sehen, wie kleine Insekten über die Schrottteile kletterten, und jene anfingen, Rost anzusetzen.
Die Wände der Gasse waren mit Graffiti besprüht. In allen möglichen Formen und Sprachen, von denen Julia nicht einmal alle kannte. Was kein Wunder war, denn die Sprache der Menschen hatte sich, besonders nach dem sogenannten »Knall« vor siebzig Jahren rasant entwickelt. Glücklicherweise ebenso die Übersetzungstechnologie. Inzwischen gab es Geräte, die simultan übersetzen konnten, ohne zeitliche Verzögerung. Technologie hatte eben doch etwas gutes. Manche der Graffiti zeigten Bilder die verblasst und kaum noch zu erkennen waren. Andere dagegen lebendige, aggressive Motive, die die Wände wie ein verzweifeltes Geschrei in einer vergessenen Umgebung schmückten und Julia eine kalte Gänsehaut über den Rücken bescherte. Auch wenn manche nicht mehr ganz so gut erkennbar waren, aufgrund der Farbe, die an einigen Stellen abblätterte. Doch auch die Mauern selbst, zeigten schon besorgniserregende Risse. Lange unversehrt bleiben würde das hier nicht, so viel war klar.
»Alex?«, rief Julia nun ein wenig lauter, doch noch immer war das einzige Geräusch, das kaputte Rohr aus dem Wasser tropfte. Langsam, aber stetig. Kurz kam Julia der Gedanke, dass dieses Rohr, dies wohl noch tun würde, bis hier alles zusammenbrach. In nicht ganz so ferner Zukunft.
Gerade als Julia sich anschicken wollte, erneut zu rufen, wurde sie von jemandem in den Schatten gezogen. Nicht nur das, eine große und feste Männerhand lag auf ihrem Mund, der jeden Schrei, den sie hätte tun können im Keim erstickte. Julia konnte spüren, wie ihr Herzschlag sich beschleunigte in der Erwartung, was nun kam.
»Bist du verrückt hier so zu brüllen, Mädchen?«, hörte sie eine Stimme dicht hinter sich hören. »Oder willst du etwa, dass alle Drohnen gleichzeitig auf uns aufmerksam werden?«
Julias Augen weiteten sich für Überraschung. »Alex!«, es klang gedämpft, da er noch immer seine Hand auf ihren Mund gelegt hatte, doch nun nicht mehr so fest wie zuvor.
Alex zog sie etwas weiter in den Schatten.
Julia versuchte, sein Gesicht auszumachen, scheiterte aber. Was sie ärgerte, denn schon beim letzten Treffen war ihr das nicht gelungen. Sie hasste, es so sehr im Dunkeln gelassen zu werden. Dieses Mal galt das sogar wörtlich.
»Also was ist? Weshalb versuchst du einer Sirene Konkurrenz zu machen?«, erkundigte sich Alex.
»Ich brauche deine Hilfe.« Julia kniff die Augen zu Schlitzen zusammen und versuchte mehr, als nur die Silhouette seines Gesichts auszumachen. Es misslang ihr. Sehr zu ihrem Ärger.
»Ja, ja ich weiß.« Sie hörte Alex seufzen. »Dir ist aber schon klar, dass du mir dafür einen weiteren Gefallen schuldest?«, erkundigte er sich bei ihr.
Julia schluckte. »Ja.«
»Wollte es nur noch einmal erwähnt haben.« Sie konnte sein Grinsen hören. »Streck deine Hand aus.«
Julia tat, was er sagte. Kurz darauf lag schon etwas in ihrer Hand. »Was ist das?«
»Das ist ein Ausweis einer Regierungsagentin«, erklärte Alex. »Er wird dafür sorgen, dass dich die Drohnen nicht belästigen.«
Julia runzelte die Stirn. »Was ist der Haken an der Sache?« Ganz egal, wie gut Alex war: Es gab immer einen.
»Ich kann nicht genau sagen, wie lange er noch gültig ist«, gestand er. »Eine Woche, vielleicht. Oder auch nur zwei, drei Tage. Oder einen. Keine Ahnung.«
»Ernsthaft?« Julia zog skeptisch eine Braue in die Höhe. »Ist das die hervorragende Arbeit von dir, Shadow? Du kannst deinen Kunden nicht einmal sagen, wie lange dieser dumme Ausweis gültig ist?«
»Meine Arbeit ist hervorragend und dieser Ausweis absolut nicht dumm«, hörte sie Alex sagen. »Wenn du nicht willst, kannst du ihn mir ja wieder geben. Ich finde bestimmt auch einen anderen, der sich dafür interessiert.«
»Nein!« Julia umklammerte den Ausweis etwas fester. »Ich nehme ihn.«
»Gut, das dachte ich mir.« Alex lachte leise auf. »Sonst noch was?«
»Ich habe Joon gefunden.« Julia konnte Alex Gesicht noch immer nicht sehen, doch selbst sie bemerkte, sie sich auf einmal sein gesamter Körper versteifte. »Ich habe sogar kurz mit ihm sprechen können.«
»Was?« Der Tonfall von Alex klang halb erschrocken und halb beeindruckt. »Wir reden hier aber schon von demselben Joon, ja?«
»Nun, ich spreche jedenfalls von dem Joon, der heute in der Zeitung als Held der Stadt gefeiert wird«, entgegnete Julia. »Was ihm übrigens nicht gefällt.«
»Pass bloß auf dich auf, Mädchen«, sagte Alex. »Selbst ich habe keine genauen Informationen. Alles was ich gehört habe, ist absolut wiedersprüchlich. Das kann nur eines heißen.«
»Ach ja? Und was heißt es, wenn das Kontaktnetz von Shadow versagt?« Julia versuchte zu scherzen. Mehr, um sich selbst zu beruhigen.
»Ganz einfach: Dieser Mann ist gefährlich.«