Julia schrie, wie sie noch nie in ihrem Leben geschrien hatte, als sie zusammen mit Joon, ihre Arme fest um ihn geklammert, auf dem Motorrad durch die Luft flog. Ihr Herz raste, und für einen Moment war sie sich sicher, dass dies ihr Ende sein würde. Die Welt um sie herum verschwamm zu einem Wirbel aus Farben und Geräuschen, während der Wind in ihren Ohren heulte. Die Zeit schien sich zu dehnen. In diesem Augenblick des Fluges durchlebte Julia ein Kaleidoskop von Emotionen - Angst, Aufregung, Unglaube und eine seltsame Art von Freiheit.
Sie klammerte sich fester an Joon, spürte die Wärme seines Körpers, die Spannung seiner Muskeln unter ihren Händen. In diesem Moment war er ihr Anker zur Realität, das Einzige, was sie davon abhielt, völlig in Panik zu verfallen. Als das Motorrad wieder auf dem Boden aufsetzte, fühlte Julia einen harten Ruck durch ihren ganzen Körper gehen.
Der Aufprall presste ihr die Luft aus den Lungen, und sie keuchte erschrocken auf. Ihre Finger krallten sich tiefer in Joons Jacke, während er um die Kontrolle über das Motorrad kämpfte. Nur langsam und immer noch zitternd wagte Julia es, ihre fest zusammengekniffenen Augen zu öffnen.
Die Welt um sie herum kam wieder in Fokus, und sie sah, wie die felsige Landschaft an ihnen vorbeizog. Hinter ihnen hörte sie das entfernte Geräusch eines frustrierten Hupens - ihr Verfolger war zurückgeblieben.
»Es ist vorbei«, hörte sie Joon rufen, seine Stimme gedämpft durch den Fahrtwind. »Wir haben ihn abgehängt.«
Julia spürte, wie sich ein Schluchzen in ihrer Brust aufbaute. Die Anspannung der letzten Minuten, die Todesangst, die sie durchlebt hatte, all das brach nun über sie herein. Tränen begannen über ihre Wangen zu laufen, und sie zitterte unkontrolliert.
Als Joon das Motorrad am Straßenrand anhielt und sich zu ihr umdrehte, konnte Julia die Sorge in seinen Augen sehen. »Hey«, sagte er sanft, »es ist okay. Du bist in Sicherheit.«
Sie nickte stumm, unfähig zu sprechen. Als Joon sie in seine Arme zog, ließ sie sich in die Umarmung fallen. Sie klammerte sich an ihn, wie eine Ertrinkende suchte nach dem Trost und der Sicherheit, die er ausstrahlte.
»Das war verdammt knapp«, brachte sie irgendwie hervor, ihre Stimme gedämpft gegen seine Brust. »Dir ist aber hoffentlich klar, dass ich nach heute nie wieder auf dieses Monster steigen werde.«
Sie fühlte, wie Joon ihr beruhigend mit seinen Finger durch ihre Haare strich. Es war angenehm und ihr fiel auf, dass er sie noch immer im Arm hielt und sich ihr Herzschlag langsam wieder normalisierte.
»Ich habe doch gesagt, dass ich noch nie einen Unfall gebaut habe«, sie konnte das Grinsen in seiner Stimme hören.
»Nein, aber dass du stattdessen Monster-Stunts hinlegst, musst du wohl vergessen haben zu erwähnen«, grummelte sie in seine Schulter. »Du hättest mich wenigstens kurz warnen können.« Sie war ihm nicht böse. Sondern eher dankbar, dass sie es geschafft hatten.
»Vielleicht.« Joon lachte kurz.
Julia löste sich langsam aus Joons Umarmung und sah ihm in die Augen. Trotz des Schrecks, den sie durchlebt hatte, spürte sie ein seltsames Kribbeln in ihrem Bauch. »Du bist wirklich verrückt, weißt du das?«, sagte sie, aber ein leichtes Lächeln umspielte ihre Lippen.
Joon zuckte mit den Schultern, sein Blick wurde ernster. »Ich weiß. Manchmal muss man eben verrückt sein, um zu überleben«, erwiderte er. »Aber es tut mir leid, dass ich dich so erschreckt habe. Das war nicht meine Absicht. Aber ich hatte leider keine Zeit, das mit dir durch zu sprechen. Ich musste schnell handeln.«
Julia nickte langsam. »Schon okay. Ich verstehe, warum du es getan hast.« Sie atmete tief durch und spürte, wie die letzten Reste der Anspannung aus ihrem Körper wichen. »Was machen wir jetzt?«
Joon sah sich vorsichtig um. »Wir müssen uns bewegen. Der Eclipse-Agent wird nicht lange brauchen, um einen anderen Weg zu finden. Wahrscheinlich funkt er außerdem auch eines der Teams an. Das heißt wir sind jetzt nicht nur sein Ziel, sondern auch das der anderen Eclipse-Agenten. Fühlst du dich bereit, weiterzufahren?«
Julia schluckte hart und zögerte einen Moment. Der Gedanke, wieder auf das Motorrad zu steigen, ließ ihr Herz schneller schlagen. Aber sie wusste auch, dass sie keine andere Wahl hatten. »Ja«, sagte sie. »Aber bitte, keine weiteren Flugeinlagen, okay?«
Joon lächelte sanft und strich ihr eine verirrte Haarsträhne aus dem Gesicht. Die Geste war so unerwartet zärtlich, dass Julia für einen Moment den Atem anhielt. »Versprochen«, sagte er leise. »Wir fahren jetzt vorsichtig. Ich pass auf dich auf.«
Mit diesen Worten half er ihr zurück auf das Motorrad. Als Julia ihre Arme wieder um seine Taille legte, fühlte sie sich seltsam sicher, trotz der Gefahr, in der sie sich befanden. Sie lehnte ihre Stirn gegen seinen Rücken und schloss die Augen, während der Motor wieder zum Leben erwachte.
Als sie losfuhren, dachte Julia darüber nach, wie sehr sich ihr Leben in den letzten Tagen verändert hatte. Sie war auf der Suche nach ihrem Bruder gewesen und hatte stattdessen in einen Strudel aus Gefahr und Geheimnissen geraten. Mitten in all dem Chaos um sie herum befand sich Joon. Rätselhaft und gefährlich. Dennoch war genau er der Einzige, der ihr helfen konnte.
»Wir sind da«, hörte Julia Joon nach einer Weile sagen, als er sein Motorrad in einer Art Tiefgarage anhielt, die aussah, als wäre hier schon lange niemand mehr gewesen. Nicht nur wegen der unstet flackernden Neonröhren an der Decke.
Julia sah sich um. Sie konnte große Spinnenweben an den Wänden sehen. Die wenigen Autos, die hier parkten, waren mit einer dicken Schicht Staub bedeckt und sahen aus, als wären sie vor vielen Jahrzehnten hier vergessen worden. Außerdem nahm sie den Geruch von altem Öl wahr. »Was ist das für ein Ort?« Ohne zu wissen, warum flüsterte sie. Ihre Stimme hallte leise von den Betonwänden wider.
»Einer meiner Notfall-Verstecke«, antwortete Joon. »Hier wird uns erstmal niemand finden. Es ist nicht so perfekt wie meine Wohnung. Aber fast.«
Julia nickte langsam. Sie beobachtete, wie Joon das Motorrad sicherte und dann zu einem der staubbedeckten Autos ging. Mit geübten Bewegungen öffnete er die Motorhaube und begann, etwas daran zu manipulieren. Aber sie konnte nicht erkennen was genau. »Was machst du da?«, fragte sie ihn daher neugierig und trat näher.
»Ich aktiviere unsere Stromversorgung«, erklärte Joon ihr. »Dieses alte Auto dient als Batterie für ein kleines Notfallsystem. Es war echt eine riesen Arbeit, das so einzustellen, das kannst du mir glauben. Aber es hat sich gelohnt.«
Plötzlich flammten weitere Lichter auf, tauchten die Garage in ein wärmeres Licht. Julia blinzelte überrascht von der Helligkeit.
»Komm«, sagte Joon und deutete auf eine unscheinbare Tür in der Ecke, an der sich ein Codepad befand. »Es geht da lang.«