Die Neonlichter der Stadt jagten an ihm vorbei, als wäre er in einer Art Nimbus, der ihn von der Realität trennte. Joon fühlte sich, als würde er durch einen Tunnel aus Farben und Geräuschen rasen, während der Wind ihm ins Gesicht peitschte und seine Gedanken wie die Lichter um ihn herum flogen. Die drückende Stille seiner Wohnung war einem berauschenden Gefühl der Freiheit gewichen, das ihn durchströmte und ihm half, den Kopf freizubekommen.
Er konzentrierte sich auf die Straße vor ihm, die sich in einem endlosen Fluss aus Asphalt und Licht erstreckte. Jedes Geräusch, das sein Motorrad machte, war ein vertrauter Rhythmus, der ihn beruhigte und ihm das Gefühl gab, die Kontrolle über sein Leben zurückzugewinnen. Die Sorgen um Min-seo und die drohende Gefahr schienen für einen Moment in den Hintergrund zu treten,als er durch die nächtliche Stadt fuhr.
»Was machst du jetzt, Joon?« Murmelte er leise zu sich selbst. »Wie kommst du aus diesem Schlamassel heraus?«
Er griff nach seinem Smartphone und überlegte, ob er Min-seo kontaktieren sollte. Doch dann hielt er inne. Er musste zuerst selbst herausfinden, was genau vor sich ging, bevor er sie erneut in die Sache hineinziehen konnte. Mit einem entschlossenen Blick stand er auf, steckte den Helm wieder auf und sprang auf sein Motorrad. Es war Zeit, die Stadt erneut zu durchqueren, die Dunkelheit zu durchdringen und Antworten zu suchen. Die Nacht war jung, und Joon war fest entschlossen, die Kontrolle über sein Schicksal zurückzugewinnen.
Joons nächster Halt war in dem kleinen Gasthaus, in welchem er vor ein paar Tagen Julia kennengelernt hatte. Eigentlich hatte er nicht einmal vorgehabt, hierhin zu fahren. Doch irgendwas trieb ihn dazu genau das zu tun. Instinkt vielleicht. Also setzte er sich an denselben Tisch, an welchem er vor drei Tagen saß und lenkte auch wieder seine Waffe genau vor sich.
»Ob sie wohl heute kommt?«, überlegte er. »Oder hat sie es echt nicht geschafft?«
Es interessierte ihn wirklich. Er konnte sich selbst nicht ganz erklären warum. Weil sie ihn darum bat, dass er jemanden für sie tötete? Vielleicht. Oder wollte sie ihn am Ende nur auf die Probe stellen?
Joon ließ seinen Blick durch das spärlich beleuchtete Gasthaus schweifen. Die Atmosphäre war genauso, wie er sie in Erinnerung hatte. Eine Mischung aus Nostalgie und unterschwelliger Spannung. Einige Gäste warfen ihm nervöse Blicke zu, offensichtlich verunsichert durch seine Präsenz und die sichtbare Waffe vor ihm.
Er dachte zurück an sein letztes Gespräch mit Julia. Ihre Bitte hatte ihn überrascht, aber fasziniert. In seinem Beruf war er an ungewöhnliche Anfragen gewöhnt, doch etwas an Julia war anders. Sie schien nicht der Typ zu sein, der leichtfertig um einen Mord bat. Während er wartete, spielten seine Finger unbewusst mit dem Griff seiner Waffe. Die Sperrstunde würde bald beginnen, und die Straßen würden sich leeren. Wenn Julia kommen wollte, musste sie sich beeilen.
»Vielleicht war es nur ein Test«, murmelte er leise vor sich hin. »Oder sie hat es sich anders überlegt.«
Kaum hatte er es schon ausgesprochen, ging auch schon die Tür auf. Herein trat Julia. Mit einem breiten Grinsen ging sie auf ihn zu und setzte sich neben ihn.
»Du bist ja wirklich hier.« Julia grinste. »Du wolltest wohl echt wissen, ob ich es schaffe, huh? Sag bloß, du hast dir Sorgen gemacht.«
»Ganz sicher nicht«, knurrte Joon. »Warum auch? Ich kenne dich nicht mal.« Das stimmte nicht ganz, doch das musste sie nicht wissen.
Julia lachte und ihre Augen funkelten belustigt. »Oh, komm schon, Joon. Wir beide wissen, dass das nicht ganz stimmt. Du hast mich immerhin nicht sofort erschossen, als ich dich um einen Mord gebeten habe. Das muss doch etwas bedeuten.«
Joon konnte fühlen, wie sich sein gesamter Körper anspannte. Seine Hand wanderte zu dem Griff seiner Waffe. Nicht unbedingt, als Drohung, sondern mehr, um sich selbst zu beruhigen.
»Oh, oder hast du dir das für jetzt aufgehoben?«, erkundigte sich Julia vergnügt bei ihm.
»Ich bin kein Mörder!«, brach es wütend aus Joon heraus. Seine Finger krallten sich um den Griff seiner Waffe. Sein Brustkorb hob und senkte sich, so außer Atem war er vor Aufregung.
Für einen Moment sah es aus, als ob sie ihm widersprechen wollte. »Das habe ich nicht gesagt«, entgegnete Julia dann jedoch nur.
»Doch.« Joon zwang sich dazu, ruhig zu atmen. »Du hast mich gebeten jemanden zu töten.« Seine Finger, die immer noch den Griff seiner Waffe umklammerten, lockerten sich ein wenig. »Soetwas ist keine alltägliche Frage. Auch für mich nicht.«
Julia lehnte sich zurück, ihr Blick fest auf Joon gerichtet. »Und? Was ist? Bist du nicht neugierig, warum ich dir solch eine Frage stelle?«
Für einen Moment herrschte Stille zwischen ihnen. Nur unterbrochen von dem gedämpften Gemurmel der Gäste und dem gelegentlichen Klirren von Gläsern.
»Vielleicht«, gab Joon zu. »Aber ich bin auch vorsichtig. In meiner Position muss man das sein. Ich kann mich nicht in alles einmischen. Das will ich auch gar nicht.«
Julia nickte langsam. »Verständlich. Aber lass mich dir eine Frage stellen, Joon. Hast du dich je gefragt, ob du wirklich auf der richtigen Seite stehst?«
Joon zog eine Augenbraue hoch. »Was meinst du damit?«
»Ich meine«, fuhr Julia fort, ihre Stimme leiser, »dass nicht alles so ist, wie es scheint. Die Regierung, für die du arbeitest... vielleicht ist sie nicht das, wofür du sie hältst. Hast du da jemals drüber nachgedacht?«
Joon spürte, wie sich sein Magen zusammenzog. Er bekam ein ganz übles Gefühl bei der Sache. »Du solltest vorsichtig sein, mit dem, was du sagst. Und zu wem«, warnte er sie.
»Ja, ich muss schon sehr dumm sein, nicht wahr?«, fragte sie und lächelte, doch ihre Augen taten es nicht.
»Hör zu«, begann Joon erneut. »Ich habe meine eigenen Probleme. Mein Job als Agent ist...«, er suchte nach dem richtigen Wort. »Wichtig.«
»Das verstehe ich aber-«, weiter kam Julia nicht.
»Nein!«, fauchte Joon. »Du glaubst es vielleicht, aber du verstehst nichts davon!«
Julia zuckte zusammen, überrascht von Joons plötzlichem Ausbruch. Für einen Moment herrschte Stille zwischen ihnen, nur unterbrochen vom gedämpften Gemurmel der anderen Gäste. Diese Reaktion hatte sie definitiv nicht erwartet, das war klar. »Ich verstehe mehr als du denkst«, entgegnete sie dann aber. »Und ich weiß auch mehr.«
»Du weißt gar nichts.« Joon funkelte sie zornig an.
»Ach ja? Wieso erklärst du es mir dann nicht einfach?«, wollte sie wissen und verschränkte die Arme energisch vor der Brust.
Bevor Joon antworten konnte, ertönte draußen der schrille Klang von Sirenen. Die Tür des Gasthauses flog auf, und schwer bewaffnete Männer in schwarzen Uniformen stürmten herein. Joon erkannte das Logo auf ihren Jacken. Es war nicht das seiner Abteilung.
»Verschwinde! Sofort!«, rief Joon ihr zu. »Die gehören nicht zu mir.« Mit einer flüssigen, wie geübten Bewegung entsicherte er seine Waffe.
Doch es war zu spät. Einer der Männer hatte Julia am Arm gepackt und drehte ihr diesen auf den Rücken.
Joon konnte fühlen, wie sich sein Herzschlag beschleunigte und das Adrenalin durch seinen Körper schoss. Er stand auf, die entsicherte Waffe im Anschlag. »Ich bin Agent Kim Joon«,stellte er sich mit scharfer Stimme vor. »Und Sie werden diese Person loslassen. Jetzt.«