»Du bist wirklich keine Morgenperson, oder?«, Joon grinste Julia über seine Tasse Kaffee hinweg an. »Jedenfalls siehst du nicht so aus.«
»Du dagegen siehst aus, als hättest du zehn Stunden geschlafen«, grummelte Julia. »Was wohl kaum der Fall ist.«
»Das hier ist aber auch schon meine zweite Tasse Kaffee«, entgegnete Joon. »Abgesehen davon ist es inzwischen Teil meiner Routine wenig Schlaf zu haben. Quasi eine Gewohnheit, wenn du so willst.«
»Dein Alptraum letzte Nacht... Willst du darüber reden?«, erkundigte sich Julia bei ihm.
Joons Blick verfinsterte sich. »Nein. Ich wüsste nicht, was zu reden gibt.« Seine Hände klammerten sich etwas fester um seine Tasse.
»Bist du sicher?« Er konnte die Besorgnis in ihrem Blick erkennen. »Ich hatte den Eindruck, dass-«
»Nein!« Joon stellte die Tasse fester vor sich hin, als beabsichtigt. »Es spielt keine Rolle. Schon gar nicht für dich.«
Julia sah ihn mit solch großen erschrockenen Augen an, dass sie ihm für einen Moment leid tat.
Also versuchte er, seinen Worten etwas an Schärfe zu nehmen. Zumindest, soweit das jetzt noch möglich war. »Es ist so. Die Vergangenheit ist vergangen. Es gibt nichts, was sich daran ändern lässt.« Ganz egal, wie sehr er sich das auch wünschte.
Julia sah ihn an, sagte aber nichts.
»Wie auch immer.« Joon trank noch einen Schluck seines Kaffees. »Wir sollten besprechen, was wir jetzt tun. Es gibt viel das zu tun ist.«
Julia nickte langsam, noch immer von Joons harscher Reaktion überrascht. Er sah, wie sie tief durchatmete. »Na schön.« Es klang ein wenig beleidigt. »Hast du letzte Nacht was bestimmtes herausgefunden? Du bist doch die Dokumente von Eclipse durchgegangen, oder?«
»Ja«, sagte Joon. »Und nein.« Er zögerte. Ihm war noch immer nicht klar, wie weit er ihr vertrauen konnte. War es wirklich klug ihr alles zu sagen? Oder lieferte er sich so nur selber ans Messer?
»Ja und nein?«, wiederholte Julia, die von seinem Dilemma nichts zu bemerken schien. »Was meinst du damit?«
»Ich meine«, Joon sah in seine Kaffeetasse. Sie war leer. »Dass wir nichts überstürzen sollten. Aber es scheint da ein Projekt zu geben, das es sich wahrscheinlich lohnt näher anzusehen. Ich werde wohl ein paar Kontakte spielen lassen können. Es gibt da ein paar Leute, die mir noch ein oder zwei Gefallen schulden.«
»Und das ist gut?« Julia schien nicht ganz überzeugt zu sein.
Joon lächelte. »Ja das ist es.« Mit einem Mal waren die letzte Nacht und seine Alpträume vergessen. Er fühlte sich endlich, als könne er etwas hinbekommen. Seine Arbeit hatte ihm schon immer geholfen, einen klaren Kopf zu erhalten. Diesmal war das nicht anders.
»Was machen wir jetzt?«, erkundigte sich Julia. Aber er wusste, dass das, was sie eigentlich meinte »was mache ich jetzt?« war.
»Ich werde ein paar Leute anrufen«, erklärte er. »Und du...« Er runzelte die Stirn. So ganz sicher war er sich da selbst nicht. »Es gibt da eine Liste mit Namen, die ich gefunden habe. Wissenschaftler, Politiker, alles Mögliche. Wir brauchen Informationen zu ihnen. Vielleicht kannst du die Zusammenhänge zwischen ihnen herausfinden? Das wäre jedenfalls hilfreich.«
Julia nickte und er konnte das freudig aufgeregte Funkeln in ihren Augen sehen. »Klar, das ist kein Problem. Aber bräuchte ich dazu nicht einen Computer?«
Genau das fiel Joon auch gerade auf. Dass er sie an seinen Hauptrechner ließ, kam nicht in Frage. »Ich werde wohl noch ein Notebook irgendwo im Schrank haben, das du benutzen kannst«, murmelte er.
Er ging hinüber zu seinem Schreibtisch, öffnete einen der Schränke und begann darin herumzukramen. Nach einigen Momenten zog er ein älteres Laptop-Modell hervor und ging damit zurück zu Julia. Er reichte es ihr zusammen mit der Personenliste.
»Hier«, sagte er. »Es ist nicht das Neueste, aber es sollte für deine Recherchen ausreichen. Ich habe es vor einer Weile als Backup-System eingerichtet, es sollten daher alle für dich notwendigen Programme darauf sein.«
Julia nahm den Laptop entgegen und klappte ihn auf. »Danke«, sagte sie mit einem leichten Lächeln. »Ich werde mich gleich an die Arbeit machen.«
Joon nickte und griff nach seiner leeren Kaffeetasse, um diese erneut zu füllen. »Ich bin kurz weg. Es ist besser, wenn du nicht zu viel von den Gesprächen mitbekommst.«
Julia sah ihn mit einem Blick, den er nicht zu deuten vermochte. Misstrauen? Enttäuschung? Oder etwas anderes?
Er war sich nicht sicher. Das alles zwischen ihr und ihm machte sowieso keinen Sinn. Es fühlte sich einfach falsch an. Was auch immer es war.
Joon betrat einen der Räume, die mit Türcodes gesichert waren. Schon lange war er nicht mehr hier drin gewesen. Eigentlich hatte er längst vorgehabt, nie wieder hierher zu kommen. Aber dass er das Gespräch im Beisein mit Julia führte, war schlichtweg unmöglich. Da hätte er ihr auch gleich seine Lebensgeschichte erzählen können. Nicht, dass er das je vorgehabt hatte.
Er starrte auf sein Telefon. Es widerstrebte, ihm so sehr diese Nummer zu wählen. Nicht nur, weil es bedeutete, sich an damals zu erinnern. Eine Zeit, die er für immer vergessen und in seinen Gedanken begraben wollte. Er konnte sich nicht einmal erklären, warum er diesen Kontakt nicht längst gelöscht hatte.
Für einen Moment schloss Joon die Augen, und zwang sich ruhig durchzuatmen. Die Erinnerungen, die er so lange verdrängt hatte, drohten an die Oberfläche zu kommen. Bilder von ihm mit seinen Eltern, seiner Schwester, gemeinsam lachend bevor sie ihren »Unfall« hatten. Sowie Yuri einige Jahre später, als sie ihn an jenem Tag, an dem alles für sie endete, zum letzten Mal küsste. Er ballte seine freie Hand zur Faust, versuchte, die ihn ihm aufkommenden Emotionen zu unterdrücken.
Mit zitternden Fingern wählte er schließlich die Nummer. Jedes Klingeln schien eine Ewigkeit zu dauern. Als er schon glaubte, niemand würde abnehmen, hörte er plötzlich eine vertraute Stimme.
»Mike hier. Wer stört?«
Joon schluckte schwer. »Mike, hier ist Joon.«
Eine kurze Pause entstand, in der Joon das Rauschen seines eigenen Blutes in den Ohren hören konnte.
»Joon? Verdammt, ich hätte nicht gedacht, dass ich deine Stimme nochmal höre. Was ist los? Es ist sicher kein Freundschaftsanruf, richtig?«
»Nein, ist es nicht«, bestätigte er und sein Hals fühlte sich rau an, als er das sagte. »Ich brauche deine Hilfe.«
»Scheiße, wenn du mich um meine Hilfe bittest, muss die Kacke ja echt am dampfen sein«, hörte er Mike am anderen Ende fluchen.
Joon atmete tief durch, bevor er antwortete. Er hatte Mikes Hang zum Fluchen in Extremsituationen schon immer seltsam gefunden. »Es geht um Eclipse.«
»Bitte sag mir, dass wir von einer echten Mondfinsternis reden und nicht von... denen.«
»Ich wünschte, es wäre so einfach. Aber nein, Mike. Es geht um die Organisation«, entgegnete er. »Ich bin angegriffen worden.« Er ballte die Hände zu Fäusten. »Und jemand der mir nahe steht.«
»Verdammter Dreck, du hast echt kein Glück im Leben, Bruder«, knurrte Mike am anderen Ende.
Joon verdrehte die Augen. »Du weißt, dass du mir was schuldest Mike.«
»Schon klar.« Er hörte ihn seufzen. »Aber das hier ist was Großes. Dir ist schon klar, dass es Eclipse offiziell gar nicht gibt, oder?«
»Ich weiß, Mike. Glaub mir, ich weiß das besser als die meisten. Aber ich habe keine Wahl. Sie sind wieder aktiv und ich muss herausfinden, was sie vorhaben.«
Mike fluchte leise. »Das klingt gar nicht gut. Was brauchst du von mir?«
»Informationen«, sagte Joon, ohne zu zögern. »Alles, was du über ihre Aktivitäten herausfinden kannst. Kontakte, Standorte und Projekte. Egal was. Ich muss wissen, was sie planen. Und zwar möglichst schnell.«
»Du spielst mit dem Feuer, das ist dir bewusst, oder?«, warnte Mike ihn. »Willst du das wirklich durchziehen? Nach allem was damals passiert ist?«
Joon zögerte kurz, die Erinnerungen an Yuri und seine Familie drohten wieder aufzusteigen. Er zwang sie zurück. »Ich habe keine Wahl, Mike. Sie werden nicht aufhören, bis ich sie stoppe. Und dieses Mal...« Er musste sich kurz räuspern. »Ich habe jemanden, den ich beschützen muss. Es darf nicht wieder so enden wie zuvor. Die Vergangenheit wird sich nicht wiederholen. Dafür werde ich sorgen.«
Mike schwieg für einen Moment, und Joon konnte förmlich hören, wie sein alter Freund die Situation abwog.
Schließlich seufzte Mike schwer. »In Ordnung, Joon. Ich werde sehen, was ich für dich herausfinden kann. Aber sei vorsichtig, verdammt nochmal. Eclipse ist kein Gegner, den man unterschätzen sollte. Und wenn sie dich schon einmal angegriffen haben...«
»Ich weiß«, unterbrach Joon ihn. »Glaub mir, ich weiß das. Danke, Mike. Ich melde mich wieder.«
»Pass auf dich auf, Joon«, sagte Mike noch, bevor er auflegte. »Und... es ist gut, deine Stimme zu hören. Auch wenn die Umstände beschissen sind.«
»Gleichfalls, Mike«, erwiderte Joon leise. »Bis bald.«
Als er das Gespräch beendete, fühlte Joon sich dermaßen erschöpft, als hätte er einen Marathon gelaufen. Die Erinnerungen, die er so lange unterdrückt hatte, drohten ihn zu überwältigen und zu verschlingen.
Er lehnte sich gegen die Wand und schloss für einen Moment die Augen. Er wusste, dass er Julia bald eine Erklärung schuldig war. Aber zuerst musste er sich sammeln, seine Gedanken ordnen. Eclipse war zurück, und dieses Mal würde er nicht zulassen, dass sie ihm alles nahmen, was ihm wichtig war. Nicht noch einmal.
Mit einem tiefen Atemzug stieß er sich von der Wand ab. Es war Zeit, zu Julia zurückzukehren und die nächsten Schritte zu planen. Die Jagd auf Eclipse hatte begonnen, und dieses Mal würde er derjenige sein, der am Ende triumphierte. Dafür würde er sorgen.