»Weißt du, eigentlich macht das Motorrad fahren viel mehr Spaß, wenn man die Augen offen hat«, hörte sie Joon von vorne sagen. »Glaub mir, du würdest es sonst bereuen.«
Da war Julia nicht so überzeugt von. »Ich weiß nicht«, murmelte sie in seinen Rücken. »Ich denke eher, dass mir schlecht werden wird«, sie verstärkte ihren Griff um seine Taille.
Sie konnte Joons Lachen durch die Vibration seines Körpers spüren. »Das denke ich nicht.«
»Na gut, aber auf deine Verantwortung«, murmelte sie in seinen Nacken. »Sag nicht, ich habe dich nicht gewarnt.«
Zögernd öffnete Julia ein Auge, dann das andere. Die Welt um sie herum war verschwommen, ein Wirbel aus Lichtern und Schatten. Doch als sich ihre Augen an die schnelle Bewegung gewöhnten, begann sie die Schönheit der nächtlichen Stadt zu erkennen. Die Straßenlaternen zogen wie leuchtende Streifen an ihnen vorbei, Neonreklamen blitzten auf und verschwanden wieder. Der Wind peitschte ihr ins Gesicht, aber statt unangenehm zu sein, fühlte es sich belebend an. Zu ihrer Überraschung stellte Julia fest, dass ihr tatsächlich nicht schlecht wurde. Im Gegenteil, sie spürte ein unerwartetes Gefühl von Freiheit und Aufregung. Das Motorrad bewegte sich geschmeidig durch den Verkehr, und Julia fand sich dabei wieder, wie sie sich in die Kurven lehnte, als wäre sie schon immer mitgefahren.
»Das ist... wunderbar«, sagte Julia, während sie an einer roten Ampel hielten.
»Sag ich doch.« Sie konnte Joons Grinsen nicht sehen, aber fühlen. »Wäre doch zu schade, wenn du das verpasst hättest, nicht wahr?«
Julia nickte. »Ja, das stimmt.« Dennoch entfuhr ihr ein kurzer Ausruf der Überraschung, als die Ampel wieder auf Grün sprang und Joon beschleunigte.
Das plötzliche Gefühl der Beschleunigung ließ Julias Herz schneller schlagen. Sie klammerte sich instinktiv fester an Joon, spürte die Spannung in seinen Muskeln, als er das Motorrad durch den Verkehr manövrierte. Die Stadt um sie herum verwandelte sich in ein Kaleidoskop aus Lichtern und Schatten.
»Alles okay?«, rief Joon über seine Schulter, ohne den Blick von der Straße vor ihnen zu nehmen.
»Ja!«, antwortete Julia, überrascht von der Begeisterung in ihrer eigenen Stimme. »Es ist so aufregend!«
Sie bemerkte, wie Joon den Kopf leicht zur Seite neigte, als würde er lächeln. »Warte ab, bis wir aus der Stadt raus sind«, sagte er. »Dann zeige ich dir, was dieses Baby wirklich kann.«
Erst als er das sagte, fiel ihr auf, dass er ihr bis jetzt nicht gesagt hatte, wo ihre Fahrt überhaupt hin ging. Nun wusste sie wenigstens, dass sie nicht in der Stadt blieben. »Wo fahren wir eigentlich hin?«, rief sie gegen den Wind an.
»Zu einem sicheren Ort«, antwortete Joon, während er geschickt zwischen zwei Autos hindurchmanövrierte. »Einem Ort, an dem wir in Ruhe reden können.«
Julia spürte, wie die Neugier in ihr wuchs. Ein sicherer Ort? Was bedeutete das? Und warum war es so wichtig, dass sie die Stadt verließen? Sie hatte das Gefühl, dass hinter Joons Worten mehr steckte, als er preisgab.
Die Häuser um sie herum wurden allmählich weniger, die Straßen breiter. Julia konnte spüren, wie Joon das Motorrad beschleunigte, als sie die Stadtgrenze passierten. Der Wind wurde stärker, zerrte an ihrer Kleidung und ihren Haaren.
»Halte dich gut fest!«, rief Joon auf einmal, und Julia hatte kaum Zeit zu reagieren, bevor er das Motorrad in eine scharfe Kurve lenkte. Sie keuchte überrascht auf, aber das Gefühl von Angst wurde schnell von einem Adrenalinschub überlagert.
Nach einer langen Fahrt, die sich für Julia anfühlte, als kämen sie gar nicht mehr an, hielt Joon das Motorrad an.
»Wir sind da«, verkündete er ihr.
Julia öffnete die Schnalle des Helms und zog diesen von ihrem Kopf. Sie sah sich um. Ihre Augen weiteten sich. Joon hatte sie an einen Ort gefahren, den sie bisher nur aus Geschichten kannte: Die Einöde.
Vor ihr erstreckte sich eine weite, karge Landschaft, die im Mondlicht silbrig schimmerte. Soweit das Auge reichte, sah Julia nichts als flaches, trockenes Land, durchzogen von vereinzelten, windgepeitschten Büschen und knorrigen Bäumen. Die Vegetation war spärlich, hauptsächlich hartes vertrocknetes Gras und zähe Sträucher, die sich an die rauen Bedingungen angepasst hatten. In der Ferne konnte sie die dunklen Umrisse niedriger Hügel erkennen, die sich gegen den sternenübersäten Nachthimmel abhoben. Die Luft war kühl und klar, erfüllt vom leisen Rauschen des Windes, der über das trockene Gras strich. Ein einsamer Kojote heulte in der Ferne, sein Ruf hallte unheimlich durch die Stille der Nacht.
Julia drehte sich langsam um ihre eigene Achse, überwältigt von der schieren Weite und Leere des Ortes. Es gab keine Anzeichen menschlicher Zivilisation - keine Straßen, keine Häuser, keine Lichter am Horizont. Nur ein kleines, unscheinbares Haus stand einsam inmitten dieser Wildnis, kaum mehr als eine Hütte.
»Das ist... unglaublich«, flüsterte sie, ihre Stimme kaum hörbar in der allumfassenden Stille. »Ich wusste nicht, dass es so etwas wirklich gibt. Ich dachte dass das Geschichten sind.«
Joon nickte ernst. »Die Einöde ist real, Julia. Sie ist der perfekte Ort, um unterzutauchen. Hier wird uns niemand finden.«
Julia spürte, wie die Bedeutung seiner Worte nach und nach in ihren Verstand einsickerte. »Kennst du dich hier aus?«
Joon, der jetzt vom Motorrad gestiegen war, und sie nun aufmerksam anblickte, nickte. »Mich haben schon öfters Missionen hierher geführt. Es ist also nicht komplett ungefährlich hier. Aber fürs Erste wird es reichen.«
»Hätten wir nicht auch in der Stadt untertauchen können?«, erkundigte sie sich bei ihm.
Sie sah, wie er kurz zögerte. »Nein. Das ist leider nicht möglich. Nicht mehr.«
»Wieso nicht?«, wollte sie wissen.
Einen Moment schien er abzuwägen, was er ihr sagte und was nicht. »Es ist nicht sicher. Mir ist aufgefallen, dass jemand mit einem falschen Profil versucht hat, an meine Daten zu kommen«, erklärte Joon ihr dann. »Kann gut sein, dass das ebenfalls mit dem Auftauchen von Eclipse zu tun hat. Aber falls das wirklich so ist, wissen die mit Sicherheit inzwischen auch wo ich wohne. Das bin ich nicht bereit zu riskieren.«
Julia schluckte hart. Sie konnte fühlen, wie erneut Adrenalin durch ihre Adern schoss. Sie wusste genau, wovon Joon sprach. Immerhin war sie diejenige, die verantwortlich war.
»Du bist so blass, geht es dir gut?«, Joon klang besorgt.
Julia nickte mechanisch, unfähig, ihre Schuldgefühle zu verbergen. »Ja, es ist nur... alles so überwältigend. Die Motorradfahrt und all das hier«, log sie halb. Sie wusste, dass ihm die Wahrheit sagen musste, aber nicht jetzt. Erst musste sie verstehen, was genau vor sich ging.
»Komm«, sagte Joon sanft und reichte ihr seine Hand. »Lass uns reingehen. Es wird kalt hier draußen. Außerdem brauchen wir beide Ruhe.«
Julia folgte ihm zur Hütte, ihre Schritte unsicher auf dem unebenen Boden. Als sie die Tür öffnete, quietschten die Scharniere laut und protestierend. Das Geräusch tat ihr in ihren Ohren weh. Sie trat hinter Joon ein und sah sich um. Das Innere war spartanisch eingerichtet. Ein Tisch, zwei Stühle, ein schmales Bett in der Ecke. Durch das einzige Fenster fiel fahles Mondlicht.
»Ich weiß, es ist nicht viel«, sagte Joon entschuldigend, »aber es ist sicher.«
Julia nickte stumm. Sie setzte sich auf einen der Stühle, die im Raum standen. Ihre Gedanken rasten. Sie musste Joon die Wahrheit sagen, aber wie? Und was würde er tun, wenn er erfuhr, dass sie der Grund für ihre gefährliche Situation war? Zumindest teilweise. Denn das mit Eclipse war nicht ihre Schuld. Trotzdem: Es machte ihr ernsthaft Sorgen, sich vorzustellen, wie er reagieren würde.
»Julia«, Joons Stimme riss sie aus ihren Gedanken. »Ich weiß, du hast viele Fragen. Und ich verspreche dir, ich werde sie alle beantworten, soweit ich das kann. Aber zuerst müssen wir sicherstellen, dass wir hier wirklich sicher sind.«
Sie sah zu ihm auf, dankbar für den Aufschub. »Was müssen wir tun?«