Das nervige Piepen seines Messengers riss Joon aus dem Schlaf, den sein Körper trotz des vielen Kaffees am Abend vorher eingefordert hatte. Joon blinzelte und konnte jetzt schon fühlen, wie sein Nacken schmerzte.
Er rieb sich die Augen und stöhnte auf. Dann griff er nach seinem Messenger. Dieser piepte noch immer, um ihm mitzuteilen, dass er eine Nachricht erhalten hatte. Er hatte schon länger den Verdacht, dass Elysium Networks dieses furchtbar nervige Geräusch in ihre Geräte integrierte, damit man die Nachrichten sofort las. Die Strategie ging auf.
»Ich mach schon«, knurrte Joon und öffnete sie. Nur um daraufhin zu lesen: »Du hast Glück, dass die Nummer noch aktiviert ist. Ich seh dich nachher. MS.«
Schlagartig besserte sich seine Laune. Er hatte gehofft, diese Antwort zu erhalten. Auch wenn er sich nicht sicher gewesen war. Denn das konnte man bei dieser Kontaktperson nie sein. Zudem wies ihr »Ich seh dich nachher« daraufhin, dass sie sich in der Stadt befand. Das war definitiv ein gutes Zeichen.
Joon stand auf und streckte sich, um den Rest seiner Müdigkeit zu vertreiben.
»Sie sind wach, Agent Kim Joon.« Ohne dass er es bemerkt hatte, war die Servierdrohne zu ihm geflogen. »Ich empfehle Ihnen den Tag heute ruhiger anzugehen.«
Joon nickte der Drohne kurz zur Begrüßung zu. »Morgen. Ich würde gerne bezahlen.«
»Ich habe mir erlaubt, den ausstehenden Betrag bereits von Ihrem Konto abzuziehen«, erklärte die Drohne ihm. »Möchten Sie ein Frühstück? Das große ist heute bei uns im Angebot.«
»Nein.« Joon schüttelte den Kopf. »Ich muss los.« Damit verließ er das Café.
Erst nachdem er nach draußen trat, fiel ihm wieder ein, dass er gar nicht wusste, wo das Treffen mit seiner Kontaktperson stattfinden sollte. Das Einzige, was in der Nachricht stand war: »Ich seh dich nachher.«
Er zog seinen Messenger hervor und überflog noch einmal die knappe Nachricht von MS. Keine versteckten Hinweise oder codierten Koordinaten. Nichts. Das war typisch für sie. Min-seo, die sich hinter dem Codenamen MS verbarg, liebte es, ihn auf die Probe zu stellen und seine Fähigkeiten als Agent herauszufordern. Was vermutlich daran lag, dass Min-seo früher selbst mal eine Regierungsagentin war. Das war schon ein paar Jahre her. Joon hatte nie verstanden, wieso sie auf einmal ausgestiegen war. Ode besser: Wie sie das überhaupt geschafft hatte. Zum Glück konnte Joon sie jedoch dazu überreden, dass sie ihn hin und wieder als Informantin unterstützte. Was sich schon oft als sehr hilfreich erwies. Auch wenn Min-seo es nie zugeben würde: Joon wusste, dass sie ihren Spaß daran hatte.
Er ließ seinen Blick über die Passanten schweifen, um nach etwas zu suchen, das nicht ins Bild passte. Doch selbst wenn es da was gab, so oberflächlich konnte er nichts erkennen.
»Also Min-seo, wo hast du dich versteckt«, murmelte er leise vor sich hin. »Irgendwo hier musst du doch sein.«
Erneut glitt sein Blick über die Gehwege. Wie immer waren in dem Stadtteil hier besonders viele Menschen unterwegs. Dazwischen schwirrten Drohnen umher, die diese hin und wieder scannten. Die meisten Drohnen waren von InfiniCore, wie man an dem Logo erkennen konnte. Alle anderen, die nicht von InfiniCore hergestellt wurden, gehörten zu NexisTech Innovations. Doch letztere waren eher in der Unterzahl. Was nicht viel hieß, denn es waren immer noch genug. An den Häusern blitzten und blinkten Neonschilder und Hologramme. Joon runzelte die Stirn. Er hatte Hologramme nie gemocht.
Er schüttelte den Kopf und kniff die Augen leicht zusammen um sich nicht von all den grellen Lichtern an der Straße ablenken zu lassen. Er war, hier weil er ein Ziel hatte: Min-seo finden.
Diese Art Kontaktaufnahme war schon seit langem eine Art Spiel zwischen ihm und Min-seo. Ein Test von ihr, ob er es auch wert war mit ihr zusammen zu arbeiten. Anderen würde er so etwas übel nehmen, doch ihr nicht. Zudem war es eine gute Gelegenheit, um ihr zu zeigen, dass er nicht ohne Grund, der beste Mann der Regierungsagenten war.
Joon begann, seine Umgebung genauer zu analysieren. Jede Person, die an ihm vorbeiging, jedes Gebäude, jede Drohne. Alles davon könnte ein Hinweis sein. Min-seo war clever, sie würde nichts Offensichtliches hinterlassen. Das war nicht typisch für sie. Sie liebte es, ihn herauszufordern. Und ihm machte es Spaß, ihre Herausforderungen anzunehmen. Sie waren das perfekte Team. Das Problem war nur, dass sie beide lieber allein arbeiteten. Was vielleicht auch besser so war. Sein Blick fiel auf eine kleine, unscheinbare Kaffeebude an der Ecke. Sie wirkte fast wie ein Anachronismus inmitten der hochmodernen Gebäude und blinkenden Hologramme. Joon spürte ein leichtes Kribbeln in seinem Nacken. Sein Instinkt, der ihm sagte, dass er hier richtig war. Min-seo hatte eine Vorliebe für das Unvorhergesehenes. Was könnte das mehr sein als ein altmodischer Kaffeestand in dieser futuristischen Umgebung? Hier, wo alles digitalisiert und modern war. Es passte einfach nicht in das Bild dieser Stadt.
Er näherte sich der Bude, seine Sinne geschärft für jedes Detail, damit ihm auch nichts entging. Der Geruch von frisch gebrühtem Kaffee stieg ihm in die Nase, ein willkommener Kontrast zu den künstlichen Düften, die sonst die Straßen erfüllten. Hinter dem Tresen stand ein älterer Mann, der aussah, als wäre er direkt aus einem vergangenen Jahrhundert hierher versetzt worden.
»Einen Kaffee, bitte«, sagte Joon, während er unauffällig die Umgebung scannte. »Schwarz, ohne Zucker.«
Der Mann nickte stumm und begann damit den Kaffee zuzubereiten.
Joon musste lächeln, als er bemerkte, wie geschickt und präzise seine Bewegungen waren. Ein Wort schoss ihm kurz durch den Kopf: Ästhetik.
»Hier.« Der Mann reichte ihm den Kaffee. »Geht aufs Haus.«
»Danke.« Joon musste kurz grinsen und setzte sich auf einen Stuhl ganz hinten in der Ecke. Er streckte seine Beine aus und genoss seinen Kaffee. Der erste Schluck war bei selbst gebrühtem Kaffee immer der Beste. Plötzlich spürte er eine Präsenz neben sich. Ohne aufzublicken, wusste er, wer es war.
»Joonie, da bist du ja!«, sagte eine vertraute Stimme mit einem Hauch von Belustigung. »Du hast länger gebraucht als ich dachte. Sag bloß, du wirst alt?«
Joon unterdrückte ein Seufzen. »Min-seo, ich habe dir schon hundertmal gesagt, dass ich diesen Spitznamen nicht mag.«
Min-seo lachte leise und setzte sich ihm gegenüber. »Aber er passt so gut zu dir. Außerdem weiß ich, dass du es insgeheim magst.«
Joon rollte mit den Augen, konnte aber ein leichtes Lächeln nicht unterdrücken. Es stimmte, er mochte den Spitznamen nicht besonders, doch von Min-seo konnte er es akzeptieren. Ihre langjährige Zusammenarbeit und der gegenseitige Respekt machten es ihm unmöglich, ihr böse zu sein.
»Also was hast du für mich?«, erkundigte sie sich und ihre Augen blitzten aufgeregt. »Bist du gerade an was dran? Etwas gefährlichem?«
Joon beschloss, ehrlich zu ihr zu sein. »Ich bin vom Boss beauftragt worden in der Sache mit der Explosion gestern zu ermitteln.«
Min-seo lehnte sich interessiert vor zu ihm. Ihre dunklen Augen funkelten vor Neugier. Ihr langes Haar war zu einem lockeren Knoten gebunden, einzelne Strähnen fielen ihr ins Gesicht und umrahmten ihre scharfen Gesichtszüge. Sie trug eine schlichte, aber elegante schwarze Jacke über einem dunkelgrünen Rollkragenpullover. Um ihren Hals hing eine filigrane Silberkette mit einem kleinen Anhänger, der wie ein stilisierter Schlüssel aussah. Trotz ihrer entspannten Haltung strahlte sie eine natürliche Wachsamkeit aus, die von Jahren der Geheimdienstarbeit zeugte.
»Meinst du die Explosion in der Nähe des InfiniCore-Hauptquartiers?«, fragte sie ihn, während sie gedankenverloren mit dem Anhänger ihrer Kette spielte. »Das klingt nach einer heiklen Angelegenheit. Was hast du bisher herausgefunden?«
Joon grinste. »Ich wusste, dass es dich interessiert.« Er lehnte sich ebenfalls vor, darauf bedacht, nicht zu laut zu sprechen.
»Ja natürlich. Und jetzt erzähl schon!«, forderte Min-seo ihn ungeduldig auf.
»Ich bin noch am Anfang der Ermittlungen, aber es hat sich inzwischen herausgestellt, dass alle der drei großen einen Sitz in dem Gebäude hatten«, berichtete er ihr. »Außerdem gibt es da noch zwei andere, die mir aufgefallen sind.«
»Oh, welche?«
»QuantumLock Solutions und NeoBiome Systems«, antwortete er. »Hast du schon einmal von den beiden gehört?«
Min-seo nickte langsam. »Ja, vor allem von QuantumLock. Die sind im Moment groß im Kommen. Gerade im Bereich Datensicherheit.« Sie runzelte nachdenklich die Stirn. »Etwas, das InfiniCore kaum gefallen dürfte. Denn sollte QuantumLock weiter so erfolgreich bleiben, wird sich wohl im Bereich der Drohnen einiges ändern dürfen.«
Joon nickte anerkennend. »Du bist gut informiert wie immer, Min-seo. Genau das macht mir Sorgen. Ein aufstrebendes Unternehmen im Bereich Datensicherheit, das den Marktführern Konkurrenz macht. Klingt das nicht nach einem perfekten Motiv?«
Min-seo lehnte sich zurück, ihre Augen verengten sich leicht. »Du denkst, QuantumLock könnte hinter der Explosion stecken? Das wäre ein ziemlich drastischer Schritt für ein Technologieunternehmen.« Sie dachte kurz nach. »Wäre es nicht auch möglich, dass InfiniCore dahinter steckt? Um zu verhindern, dass QuantumLock und andere Firmen an Einfluss gewinnen?«
»Der Gedanke ist mir auch schon gekommen«, gab Joon zu. »Wäre aber schon etwas extrem, oder?« Doch auch wenn es extrem war, lag es durchaus im Bereich des Möglichen, denn InfiniCore musste und konnte man alles zutrauen.
»Nun, InfiniCore hat definitiv keine weiße Weste, so viel ist sicher«, meinte Min-seo und ihr Blick verfinsterte sich.
»Gibt es was bestimmtes, dass du über NeoBiome Systems weißt?«, erkundigte Joon sich bei ihr.
»Nicht viel. Sie arbeiten im Bereich Biotechnologie, aber ihre genauen Projekte sind streng geheim. Auf dem Großmarkt sind sie zur Zeit als Nerds verschrien, die man nicht ernst nimmt«, sagte Min-seo und blickte ihn neugierig an. »Warum?«
»Ganz einfach: Ich plane mich bei denen einzuschleusen«, antwortete Joon. »Deshalb habe ich dich kontaktiert. Ich brauche eine neue ID von dir. Meine kann ich nicht benutzen. Zumindest nicht, ohne mit vielen unangenehmen Fragen konfrontiert zu werden. Und mein Boss wird mich vermutlich umbringen, wenn er herausfindet, dass ich mich offiziell in die Geschäfte der drei Großen einmische.«
»Dir ist aber schon klar, dass das nicht billig für dich wird, oder?«, erkundigte sich Min-seo bei ihm. »Das fällt nämlich nicht unter Informationsbeschaffung, sondern in den illegalen Bereich«, teilte sie ihm mit. »Kommt es raus, werde ich richtig üble Probleme haben. Und du ebenfalls.«
Joon grinste. »Ich weiß dass du nicht billig zu haben bist Min-seo. Und du weißt, dass ich mir das durchaus leisten kann.«
Min-seo seufzte. »Also gut, Joonie. Aber nur weil du es bist und ich dich mag. Ansonsten würde ich das definitiv nicht tun.«
»Könntest du bitte aufhören mich so zu nennen?«, grummelte Joon vor sich hin. »Ich bin kein Kind.«
»Sieh es einfach als Teil meiner Bezahlung an«, entgegnete Min-seo und nun war sie es, die grinste. »Und jetzt komm mit. Wir haben einiges vor.«