Evie
Langsam strömen die Schüler aus dem Klassenraum und der Lehrer beginnt seine Tasche mit Unterlagen zu füllen, bevor er den Raum verlässt. Auch ich stehe von meinem Platz auf und will meine Tasche packen, da ich meine Pause nutzen und mir noch etwas zu essen kaufen möchte, doch Belle hält mich auf: “Warte, Evie. Wir wollten doch noch reden.“ Unbewusst beiße ich mir auf die Lippe.
Eigentlich hatte ich gehofft, dass sie es vergessen hat. Ehrlich gesagt hat mir der Ausdruck in ihren Augen, als sie mich darum gebeten hat nach dem Unterricht auf sich zu warten, stutzig gemacht und auch für leichtes Misstrauen in meinem Inneren gesorgt. Für den Rest der Stunde hat sie mich von der Seite regelrecht angestarrt und dafür gesorgt, dass ich mich regelrecht wie ein Tier im Zoo fühle, das man durch eine Glasscheibe im Zoo anstarren kann.
“Ich muss unbedingt los. Tut mir leid, Belle“, erwidere ich deshalb mit einem unbehaglichen Gefühl in der Magengrube und verstaue das schwere Mathematikbuch als Letztes in meinem Rucksack.
Ohne ein weiteres Wort schiebe ich die Träger des Rucksacks über meine Schultern und will gerade aus dem Raum spurten, da packt sie mich am Arm und hält mich so auf dem Fleck, auf dem ich gerade stehe, fest.
Sobald sich unsere Körper berühren, fühlt es sich von der einen auf die andere Sekunde so an, als würde jemand Strom durch meinen ganzen Körper hindurch jagen. Mein Körper fühlt sich so an, als hätte sich pure Energie mit meinem Blut gemischt und würde es schneller durch meine Adern pulsieren lassen, als es wahrscheinlich gut für mich ist. Erschrocken schnappe ich nach Luft und starre weiter in die hellbraunen Augen der Person vor mir, die aber keinerlei Zeichen von Überraschung aufweisen. Beinahe wirkt sie so ruhig, dass ich mich frage, ob sie es überhaupt spüren kann.
Meine Stimme klingt erstickt: “Was willst du von mir?“ “Ich würde mit dir gerne darüber reden, was da vorhin mit Avery passiert ist“, im Gegensatz zu mir klingt sie selbstbewusst wie in den Minuten zuvor auch. Keinerlei Regung ist in ihrem Gesicht zu erkennen. Schnell schlucke ich den dicken Kloß in meinem Hals hinunter und versuche unwissend zu klingen: “Was meinst du?“ “Du kannst mir ruhig die Wahrheit sagen, Evie“, sie sieht mich durchdringend an und beinahe fühlt es sich so an, als könnte sie in meinen Körper und meinen Kopf hineinschauen. Ich bin nicht mächtig meinen Blick von ihr abzuwenden und spüre es kaum, als sie den Griff um mein Handgelenk erst lockert und ihre Finger letzten Endes komplett von meiner Haut löst. Beinahe bin ich durch ihren Blick hypnotisiert und traue mich kaum mich zu regen. Irgendwas hat die Schwarzhaarige an sich, was mich einerseits fesselt und mir andererseits einen unangenehmen Schauer über den Rücken laufen lässt. Das stärkste Gefühl, dass sie allerdings in mir auslöst, ist Angst.
Eigentlich bin ich keine ängstliche Person, doch bei ihr ist es anders. Die Aura, die sie wie ein Schleier umhüllt, wirkt mysteriös, stark, unerschrocken und weist gleichzeitig auch eine Spur von Aggressivität auf. So etwas habe ich vorher bei noch keiner anderen Person gesehen. Na ja, zwei Ausnahmen fallen mir schon ein!
“Denk bitte daran. Ich stehe jederzeit zu deiner Verfügung, wenn du Hilfe dabei brauchst dein Talent richtig zu nutzen“, sie zwinkert mir verschmitzt zu, hat gleichzeitig aber auch kühles Grinsen, dass mein Vertrauen zu ihr nicht wirklich weiter stärkt.
Ich bin total perplex. Wie meint sie das? Etwa so wie ich es denke? Mein Mund klappt ein Stück weit auf und meine Finger verkrampfen sich automatisch. “W-Wie meinst du das?“, stottere ich und warte darauf, dass sie mir die Bestätigung gibt. Die Bestätigung dafür, dass das Mädchen auf Magie anspielt. “Ach stell dich nicht so an. Du weißt genau was ich meine“, kurz wirft sie einen Blick auf das helle Ziffernblatt, auf dem sich die glänzenden, spitzen Zeiger langsam im Kreis drehen. Mit einem schwarzen Lederband ist das Uhrwerk an ihrem Handgelenk befestigt und bildet eine elegante Armbanduhr: “Ich muss jetzt aber auch dringend los. Tschüss, Evie.“ Bevor ich noch etwas erwidern oder mich ebenfalls verabschieden kann, dreht die junge Frau sich um und macht sich auf den Weg zur Tür.
Bei der schweren Holztür angekommen, lässt sie ihre Finger auf die eiserne Klinke gleiten, doch bevor sie diese hinunterdrückt, um den Raum zu verlassen, dreht sie sich noch einmal um und sieht mir tief in die Augen.
Die bernsteinfarbenen Stellen in ihren Augen funkeln. Das Leuchten gleicht fast dem, was bei mir wiederzufinden ist, wenn starke magische Kräfte auf mich einwirken. Als ich dieses Funkeln sehe, höre ich fast zu atmen auf.
Dann ist die Neue weg und ich bleibe allein zurück. Überrumpelt stütze ich mich auf der harten Platte eines Tisches ab und schließe die blauen Augen. Ich hatte ja vieles erwartet, aber das hat meine Vorstellung definitiv überstiegen. Immer mehr Angst macht Belle mir und wahrscheinlich ist das auch genau das, was sie beabsichtigt. Woher weiß sie, dass ich eine Hexe bin? Das hat vorher noch keiner einfach so herausgefunden. Schließlich wusste Avery es nicht mal nach zig Jahren. Wie kann Belle mein Geheimnis dann also einfach so schnell herausfinden?