Evie
Das laute Schnattern der Schwäne gepaart mit dem Rauschen der saftigen, grünen Blätter, wenn der Wind hindurchweht, hebt mich auf eine Ebene der Entspannung. Die kleinen, grauen Kiesel unter meinen Füßen, als ich neben Elijah über den Hauptweg im Park schlendere.
Schon vor einigen Tagen habe ich mich für heute unauffällig mit ihm verabredet. Ein Grund für dieses Treffen ist nämlich, dass ich ihm ein paar Informationen entlocken will. Schließlich kann es sein, dass er meine Mutter, genauso wie sie ihn, kennt. Andererseits wollte ich ihn aber nur einfach gerne wieder sehen. Irgendwie fühlt es sich so an, als könnte sich aus dieser Bekanntschaft sogar eine Freundschaft entwickeln, was mir in meiner momentanen Situation wirklich guttun würde.
Nach einigen Sekunden der friedlichen Stille hält er mir seine Hand hin. Verwirrt sehe ich ihn an. Sofort bemerkt er meinen Blick und erklärt seine Absicht: “Nimm meine Hand.“ “Warum?“, frage ich immer noch verwirrt. Er grinst und rollt leicht mit den Augen: “Weil ich mir vorgenommen habe heute mal ein Gentleman zu sein.“ Ich muss mich wirklich beherrschen, um nicht zu lachen. Bisher war er wirklich immer sehr nett zu mir, aber um als richtiger englischer Gentleman bezeichnet werden zu können, fehlt noch ein wenig. “Das freut mich“, lächelnd greife ich nach seine Hand und lasse mich von ihm zu seiner Bank geleiten.
Sie steht direkt am Ufer des Sees und erlaubt mir einen wunderschönen Blick über das, durch den seichten Wind, leichte Wellen zu schlagen beginnt. Von dem Ausblick betört, wende ich mich grinsend Elijah zu und versuche seinen Gesichtsausdruck zu lesen. “Warum wolltest du hierherkommen?“, frage ich interessiert. “Die Umgebung ist hier so wunderschön, dass ich am liebsten meine ganze Freizeit hier verbringen würde“, erklärt er und richtet seinen Blick auf die, sich nebeneinander windenden Bäume auf der anderen Seite des Gewässers. “Kommst du in deiner Freizeit denn oft her?“
Niedergeschlagen senkt er den Blick: “Nicht wirklich, obwohl ich es wirklich gerne tun würde, aber meine Familie lebt nicht direkt in London, weshalb ich nicht einfach aus der Tür gehen und zum Park schlendern kann. Meistens komme ich nur in die Stadt, wenn meine Eltern sowieso hierher fahren müssen oder wenn gerade ein Zug fährt.“ “Das wusste ich gar nicht. In welcher Stadt wohnst du denn?“, ich ziehe die dunklen Augenbrauen zusammen. “Es ist eine ganz kleine Stadt nur ein paar Kilometer entfernt. Sie ist so klein, dass dir der Name sowieso nichts sagen würde“, beendet er das Thema ein wenig überstürzt und fährt sich mit einer Hand durch das dunkle Haar.
Ich schlucke unsicher. Warum will er mir nicht sagen, in welcher Stadt er wohnt? Ist es ihm vielleicht peinlich? Ich wüsste aber nicht, warum es so sein sollte. Schließlich habe ich mir auch schon das ein oder andere Mal gewünscht in einer kleineren Stadt zu wohnen. Der Londoner Trubel kann einem manchmal echt auf die Nerven gehen.
“Aber ich dachte, dass du hier in der Stadt zur Schule gehst?“, frage ich verwirrt, weil er mir doch schon erzählt hat, dass er hier eine ganz normale Schule besucht. Kurz blinzelt er mehrmals:“Äh, … ja. Ich werde morgens von meinen Eltern mit Belle hierher gefahren und nach der Schule, wenn Mom freihat, holt sie uns wieder ab.“ “Das klingt ja total kompliziert“, mitleidig schaue ich ihn an. Mir würde es wirklich keinen Spaß machen, wenn ich, immer wenn ich meine Freunde sehen wollen würde, meine Eltern erst fragen müssen, ob sie mich fahren können. “Belle lebt doch auch bei dir, richtig?“, frage ich interessiert weiter. Sein Leben klingt einfach so viel interessanter als mein eigenes. “Richtig“, bestätigt er mir grinsend und die Berührung seiner Hand an meinem Rücken jagt mir einen Schauer über den Rücken, der meinen ganzen Körper zum Kribbeln bringt. “Ist das nicht ein wenig anstrengend?“, frage ich ehrlich.
“Mehr als nur das“, er prustet fast los: “Wir sehen uns zwar ähnlich, doch unser Charakter weist keinerlei Gemeinsamkeiten auf. Wir sind so verschieden wie … Salz und Zucker.“ Dieser Vergleich zaubert mir ein breites Grinsen auf die Lippen, welches ich nicht zu verbergen im Stand bin. “Das stimmt wohl“, stimme ich ihm zu: “Eure äußerliche Ähnlichkeit ist mir sofort aufgefallen, aber als ich dich besser kennengelernt habe, ist mir klar geworden, wie unterschiedlich ihr eigentlich seid.“
“In unserer Familie ist es eher umgekehrt. Meine Schwester und ich sehen uns kaum ähnlich. Sie hat rotes Haar, während ich fast Schwarzes habe und auch unsere Augenfarben sind nicht gleich. Trotzdem verstehen wir uns gut und sind gar nicht so unterschiedlich, wie man anhand unseres Aussehens eigentlich denken könnte“, erkläre ich langgezogen und kann es nicht vermeiden an meine Familie und ihre Reaktionen auf Elijahs Bild zu denken. Besonders der Blick meiner Mutter ist mir im Kopf geblieben und schleicht sich nun wieder vor mein Auge.
“Das klingt jetzt vielleicht merkwürdig, aber kennst du eine Scarlett Grey?“, frage ich unverblümt und starre ihn interessiert und mit festem Blick an.
Genau wie meine Mutter, schluckt Elijah und scheint sich augenblicklich zu verkrampfen. Die Tonlage verändert sich von Grund auf, als er zu sprechen beginnt, und scheint einige Oktaven höher geworden zu sein: “Grey? Nein, du bist die einzige Person mit dem Namen ‘Grey‘, die ich kenne. Warum?“ “Meine Familie wollte letztens ein Bild von dir sehen und Mom hat darauf total komisch reagiert. Deshalb habe ich mich gefragt, ob du vielleicht irgendwas wissen könntest“, erklärt ich nun völlig verwirrt. Wenn er meine Mutter nicht kennt, frage ich mich, warum sie so komisch reagiert hat. Entweder hat sie aus einem Grund, der über mein Vorstellungsvermögen hinaus geht, so reagiert oder mein Gegenüber hat mich gerade angelogen, was bei der unbewussten Reaktion, die er gezeigt hat, nicht unmöglich zu sein scheint. Sein ganzer Körper hat sich nämlich bei meiner Frage sofort verkrampft und auch der Fokus des Jungen hat sich von mir weg, auf den Boden, wo ein alter Kaugummi liegt, verschoben.
Langsam baut sich eine Mischung aus Wut und Verzweiflung in mir aus. Was wird mir hier verschwiegen und warum?