Evie
Der Anblick der Person vor meiner Tür überrascht mich so sehr, dass ich ihr in einer Kurzschlussreaktion die Tür einfach vor der Nase zuschlage. Mehrmals blinzele ich verwundert, bevor ich tatsächlich realisiere, wer da gerade auf den drei Stufen vor meinem Haus steht. Niemals hätte ich erwartet diesen Menschen hier zu sehen. Schnell entscheide ich mich einfach so zu tun, als wäre nichts passiert und einfach zurück zu Annabelle zu gehen, die mir einen überraschenden Blick schenkt.
“Wer war das?“, ruft sie durch das Haus, während ich langsam auf sie zukomme: “Hast du etwa einen Verehrer?“ “Nein, natürlich nicht“, erwidere ich und bleibe im Türrahmen stehen, um meine kleine Schwester zu beobachten. Ihr Gesichtsausdruck sprüht vor Interesse und beinahe klebt der Blick des Rotschopfes an meinen Lippen. “Wer dann?“, fragt sie mir weiter Löcher in den Bauch. Abwehrend antworte ich: “Ach niemand Wichtiges. Hat sich sicher nur in der Tür geirrt! Lass uns einfach weiter an dem Rätsel arbeiten.“ Mit dem Zeigefinger deute ich auf das Papier auf dem Tisch und versuche ihren Blick darauf zurück zu lenken. Der Besucher hat jedoch bereits ihre Aufmerksamkeit auf sich gezogen: “Warum bist du dann so nervös?“ “Bin ich nicht“, als ich spreche, merke ich tatsächlich, dass in meiner Stimme Nervosität mitschwingt. Es fällt mir eben nicht leicht den Schreck, der mir soeben in die Glieder gefahren ist, zu verstecken. “Doch bist du“, nun schiebt auch sie ihren Tisch zurück und erhebt sich.
Als sie auf die Tür zu geht, beginne ich mich wirklich zu wundern. Sonst ist Ana gar nicht so offen im Bezug auf Fremde, sondern eher schüchtern und zurückhaltend. Sanft schiebt sie mich zur Seite und geht auf die Tür zu. “Lass das doch lieber, Ana. Ich bin sicher, dass das keine gute Idee ist“, versuche ich noch ein letztes Mal zu argumentieren, obwohl ich weiß, dass es keinen Sinn mehr hat mit ihr zu diskutieren. Das Mädchen ignoriert mich einfach und öffnet die Haustür.
Unsicher trete ich vom einen auf den anderen Fuß, als mir der Besucher kurz einen fragenden Blick schenkt und sich dann an meine Schwester wendet, die mit dem Mädchen vor der Tür zu sprechen begonnen hat: “Hallo?“ “Hi“, erwidert die Jugendliche, die etwa in meinem Alter ist: “Schön dich kennenzulernen. Ich wollte zu deiner Schwester Evie.“ Ihre weiche Stimme jagt mir einen Schauer über den Rücken, denn ich kann nur daran denken, was sie heute zu mir gesagt hat, und ihr Anblick überrascht mich. Erst dreht Ana sich zu mir um, fragt dann aber die Person vor sich: “Wer bist du denn und woher kennst du meine Schwester?“ “Ich bin Belle Gellar und seit heute gehe ich auf dieselbe Schule wie Evie“, erklärt sie meiner Schwester freundlich, sieht dabei allerdings weiterhin nur mich an, anstatt dem kleine Mädchen vor sich nur einen einzigen Blick zu schenken. Ich selbst kann in diesem Moment aber nur an das unheimliche Leuchten in ihren Augen denken.
Langsam baue ich wirklich starkes Misstrauen gegen sie auf. Erst macht sie so komische Andeutungen und taucht dann bei mir zu Hause auf. Woher kennt weiß sie überhaupt, wo ich wohne? Als würde sie sich die Mühe machen und in Telefonbuch gucken.
“Und was willst du hier?“, schalte ich mich nun ein und lege meiner Schwester schützend eine Hand auf die rechte Schulter. Irgendwie verspüre ich gerade das starke Bedürfnis sie vor Belle zu schützen. “Ich war lange nicht mehr in London und habe deshalb fast keine Freunde mehr hier. Deshalb habe ich mir überlegt, dass wir doch vielleicht ein wenig Zeit miteinander verbringen könnten. Schließlich kann man nie zu schnell Freunde finden“, antwortet sie mit einem gekünstelten Lächeln.
Ana hebt den Kopf und sieht mich mit funkelnden Augen an. Sie weiß viel zu gut wie es momentan bei mir mit Freundschaften aussieht, da ich ihr oft mein Herz ausschütten. Denn selbst, wenn sie noch ziemlich jung ist, hat sie oft hilfreiche Ratschläge für mich und kann mich trösten, wenn es mir mal nicht so gut geht. Manchmal habe ich Angst sie mit meinen Problemen zu belasten und ihr deshalb ein Stück ihrer unbeschwerten Kindheit zu nehmen, doch dann kommt sie immer wieder von selbst auf mich zu, um zu fragen, wie es bei mir läuft, und erzählt mir gleichzeitig auch von ihren Problemen.
Obwohl meine Schwester mich so lieb ansieht, gebe ich Belle einen Korb: “Tut mir leid, aber ich habe gerade leider gar keine Zeit. Annabelle und ich sind gerade am Essen und danach wollten wir in die Bücherei gehen.“ Sofort verdunkelt sich die Miene meiner Klassenkameradin und ich sehe wie ihre Kiefer zu mahlen beginnen: “Das ist … schade.“ “Wir können Belle doch mit in die Bücherei nehmen und vielleicht kann sie uns auch dabei helfen das Rätsel zu lösen“, beharrt Ana. Ihre Lippe hat sie traurig nach unten gezogen und schenkt mir den Welpenblick, den sie immer aus der Trickkiste zieht, wenn sie etwas wirklich unbedingt will.
Notgedrungen verdrehe ich die Augen und merke wie sich meine Finger fester um ihre Schultern graben. Ein letztes Mal atme ich tief durch, um ihr dann nachzugeben: “Na gut, dann kommt sie halt mit, wenn du dann aufhörst zu betteln.“ “Deal!“, ein überglückliches Lächeln schleicht sich auf ihre Lippen und wird von Sekunde zu Sekunde breiter. “Gut, dann geh schon mal hoch und hol deine Büchereisachen, sonst bleiben wir doch hier“, ich versuche ein wenig streng zu klingen, denn im Inneren verfluche ich mich dafür, ihr nachgegeben zu haben. Tja, Schwesternliebe eben! Bevor sie aber losläuft, beuge ich mich zu Annabelle herunter und flüstere ihr so leise etwas ins Ohr, dass nur sie es hören kann: “Das mit dem Rätsel bleibt ein Geheimnis zwischen uns beiden, okay?“ Mit großen Augen sieht sie mich an und nickt bedächtig.
Sobald die aufgeweckte Zwölfjährige die Treppe hinauf verschwunden ist, wende ich mich an wieder an Belle, die mich erwartungsvoll anblickt. “Danke“, sie klingt zufrieden und tritt in den Flur, bevor ich sie überhaupt hineingebeten habe. “Jaja, das hast du nicht mir zu verdanken, sondern meiner Schwester“, mit viel Schwung werfe ich die Tür wieder resigniert ins Schloss:“Warte bitte hier, während wir unsere Sachen zusammen packen. Und wehe, du fasst irgendetwas an.“
Auf dem Weg in die, mit dem Wohnzimmer verbundene, Küche, muss ich daran denken, dass ich Reese heute Morgen abgesagt habe und dafür einen Tag mit Belle verbringen muss. Mein Karma hat sich wohl entschieden ausgerechnet heute zuzuschlagen und mich mit voller Wucht zu treffen.