Evie
Die Stimmen der Menschen um mich herum, dringen an meine Ohren, doch die Informationen gelangen nicht zu meinem Gehirn. Viel zu sehr bin ich auf mein Ziel konzentriert. Der Wind zehrt an der Kapuze meines schwarzen Pullovers, die ich mir tief ins Gesicht gezogen habe, um unerkannt zu bleiben. Das Schlimmste, was mir gerade nämlich passieren könnte, wäre, dass ich auf eine Person treffe, die mich kennt und meine Mission unterbricht.
Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie die Sonne bereits langsam hinter den hohen Dächern der Häuser versinkt. Bevor ich gehen konnte, musste ich meiner Mutter versprechen, dass ich wieder da sein werde, bevor es völlig dunkel geworden ist. Sonst verlangt sie das nie von mir, sondern lässt mich raus gehen, selbst wenn es dunkel ist. Deshalb war ich erst ziemlich irritiert, werde mich aber an unsere Abmachung halten. Ich erhöhe mein Tempo und renne fast über durch die Straßen der Stadt.
Bei meinem Ziel angekommen, bleibe ich stehen und starre auf das Gebäude vor mir. Es befindet sich nur wenige Meter von meinem Zuhause und ist ebenfalls mit einem Zeichen markiert. Es ist nicht das Erste, das ich gefunden habe, aber dafür das, was sich am nächsten an meinem Haus befindet. Genau deshalb werde ich genau dieses nutzen, um meine Experimente durchzuführen.
Schließlich stand in dem Buch etwas von irgendwelchen besonderen Kräften, die die Runen haben sollen und wie kann man diese besser erforschen als direkt am Zeichen selbst.
Mit den Händen in den Taschen sehe ich mich um und schaue, ob mich irgendwer beobachtet, bevor ich mich auf das Gebäude vor mir zu bewegen. Allerdings steige ich nicht die ganzen Treppenstufen hinauf, sondern bleibe etwa in der Mitte stehen und stelle fest, dass alle um mich herum glücklicherweise mit sich selbst beschäftigt sind. Ich lasse mich auf eine Stufe, die etwa in der Mitte liegt, fallen und ziehe mir die Kapuze tiefer ins Gesicht, bevor ich meine rechte Hand gegen die steinerne Wand drücke, die die Treppe auf beiden Seiten umrahmt.
Es dauert einige Sekunden, bis das Licht unter meinen Fingern zu leuchten beginnt. Erst erscheint das blutrote Licht nur zögerlich, doch dann wird es immer heller und nach einer Zeit könnte man bald denken, dass das Licht hell genug wäre, um die Dienste einer Straßenlaterne zu übernehmen. Dass ich die Einzige bin, die es sehen kann, wundert mich mittlerweile jedoch nicht mehr. Stattdessen finde ich mich einfach damit ab und betrachte die schlangenähnliche Form.
Das war der leichte Part. Wie ich den Schweren lösen soll, ist für mich ein beinahe unlösbares Rätsel. Warum muss ausgerechnet ich die Einzige sein, die dieses Leuchten sieht? Es fühlt sich an, als hätte man mir einfach die Verantwortung dafür übertragen, herauszufinden, was es damit auf sich hat, obwohl ich keine Ahnung davon habe was zu tun ist.
Probeweise lege ich auch meine andere Hand auf den Stein und hoffe darauf, dass etwas passiert, doch scheinbar hält das Schicksal das mal wieder für viel zu leicht, und nichts geschieht.
Gedankenverloren fahre ich mit einer Hand das Muster nach, welches sich unter meiner Haut erstreckt und zucke plötzlich erschrocken zusammen. Ein leises Zischen ertönt plötzlich und wird zu einem Flüstern. Es dauert wenige Sekunden, bis ich verstehe, dass ich erneut die Einzige bin, die dafür empfänglich ist und es fühlt sich fast so an, als würden diese Töne vom Symbol selbst ausgehen.
Das Flüstern wird lauter und verwandelt sich bald in klare Wörter, die allerdings nicht Englisch sind. Stattdessen scheinen sie in derselben Sprach wie die meisten Zaubersprüche zu sein.
Es dauert einige Sekunden, da macht es in meinem Kopf klick. Es muss tatsächlich ein Zauberspruch sein, der immer wieder wiederholt wird. Wie aus einem tiefen Instinkt heraus, beginne ich die Worte kaum hörbar mitzusprechen. Mit der Zeit wird meine Stimme immer lauter und hat bald die gleiche Tonlage, wie die der Rune. Immer wieder rattere ich die Wörter wie ein Gebet hinunter und halte meine Augen geschlossen. Meine Knochen fühlen sich wie vereist an und als ich bemerke, dass ich mich nicht mehr bewegen kann, spüre ich, wie ich leicht panisch werde. Unerwartet beginnen sich meine Finger zusammen zu krampfen und Angst macht sich in mir bemerkbar, denn es fühlt sich so an, als wäre es nicht mein Körper der sich da bewegt, sondern eine fremde Kraft, die mich wie eine Puppe nach ihrem Willen lenkt. Immer wieder fahren meine Finger wie automatisch die Form des Zeichens nach, während ich immer weiter spreche.
Auf einmal scheint es so, als würde alles um mich herum verschwinden und ich versuche meine Augen zu öffnen, doch es fühlt sich so an, als hätte man meine Lider zu geschweißt. Ein starkes Schwindelgefühl macht sich in mir breit und die Treppe unter meinem Gesäß scheint plötzlich verschwunden zu sein. Das Einzige, was ich noch spüren kann, sind die Wand und die Hitze, die auf einmal vom Zeichen ausgeht. Wie durch einen Sog werde ich aus der Realität hinausgerissen.
Unter all diese Empfindungen mischt sich allerdings noch etwas anderes und vor meinem inneren Auge erscheint ein Wort in derselben Farbe wie das Zeichen selbst. Mehrmals zucken meine Augen unter den Lidern hin und her, bis ich es schaffe mich zu konzentrieren und das Wort ‘Herrschaft‘ zu entziffern. Es brennt sich in meinen Kopf ein, bevor alles vor mir wieder schwarz wird. Dieses Mal verschwinden auch die Wand und das Zeichen unter meine Hand. Sobald alles, was mich noch gehalten hat, verschwunden ist, versinke ich in der Ohnmacht.
Plötzlich nehme ich wahr wie jemand meinen Arm berührt und mit mir, wie aus weiter Ferne, spricht. Während ich langsam aus meiner Ohnmacht erwache, wird die Stimme immer lauter und das Gefühl in meinen Gelenken kehrt zurück. Ich nehme einen stechenden Schmerz in meiner linken Schulter wahr, das immer fester wird. Vorsichtig öffne ich meine Augen und starre auf den, bereits verdunkelten, Himmel über mir. Total verwirrt fasse ich mir an den Kopf, der rhythmisch pocht. Aus dem Augenwinkel sehe ich die Treppe, auf der ich doch eigentlich sitzen sollte, und registriere, dass ich auf dem Boden am Fuße der Treppe liege.
“Geht es dir gut?“, das Gesicht eines blonden Mädchens schiebt sich in mein Blickfeld. “Ich glaube schon“, erwidere ich und versuche mich auf meine Ellenbogen zu stützen. Mit einem freundlichen Lächeln streckt sie mir ihre Hand hin und hilft mir so auf die Füße. Ich klopfe den Dreck von meiner Kleidung und brachte das Mädchen.
Ihr hellblondes Haar reicht ihr bis zu den Schulterblättern und bringt ihre smaragdgrünen Augen zum Leuchten. Sie ist etwas größer als ich und möglicherweise ein Jahr älter. “Was ist passiert?“, frage ich verwundert und starre zwischen der Treppe und der Stelle, an der ich gelegen habe, hin und her.
“Du saßt dort mit geschlossenen Augen“, sie deutet auf die Stelle, an der ich mich befunden haben muss, bevor ich ohnmächtig geworden bin: “Dann bist du plötzlich einfach die Treppe heruntergefallen und ohnmächtig hier unten liegen geblieben. Ich hab es gesehen und versucht dich wieder wach zu bekommen, um zu schauen, ob es dir gut geht. Schließlich bist du einfach ungebremst gefallen.“ Ich schlucke schwer und versuche zu realisieren, was mir da gerade berichtet wurde: “Danke, für deine Hilfe.“ “Man hilft doch gerne“, lächelt sie und lässt ihre Hände in den Taschen ihrer schwarzen Lederjacke verschwinden.
Auch ich kann mich zu einem Lächeln durchringen, obwohl mir dazu gerade gar nicht zumute ist. Dann wandert mein Blick auf den Himmel, der sich noch weiter verdunkelt hat. “Ich muss jetzt auch los“, ich sehe sie entschuldigend an: “Tut mir wirklich leid.“ “Schon gut“, gibt sie zurück.
Ich bedanke mich ein letztes Mal, drehe mich dann um und mache mich, schnellen Schrittes, auf den Weg zurück nach Hause. In meinem Kopf tummeln sich die Fragen. Wie konnte ich einfach so die Treppe hinunterfallen, ohne es zu merken? Und was hat es mit diesem ominösen Wort auf sich?