Evie
“Mom, wovon redet sie?“, Ana sieht meine Mutter fragend an und spricht genau das aus, was ich denke. “Das würde mich auch mal interessieren“, sanft lege ich meiner Schwester die Hände auf die Schultern und versuche ihr somit ein wenig Schutz und Stabilität zu geben.
Schließlich bin ich selbst gerade mehr als verwirrt und für Annabelle muss das wohl viel noch schlimmer sein. Meine Mutter sieht mich bittend an und kniet sich vor meine kleine Schwester, um sich auf ihre Augenhöhe zu begeben: “Ich verspreche, dass ich es euch erklären werde, aber jetzt bitte ich euch einfach das zu tun, was wir euch, als eure Eltern, sagen.“ “Aber ... “, versuche ich zu protestieren und drückt Ana sanft an mich, um ihr zu zeigen, dass ich bei ihr bin. “Nein, kein aber“, widerspricht mir meine Mutter: “Sei jetzt bitte mein großes Mädchen und unterstützt mich ein bisschen, Evie.“ “Dann sag mir doch erst mal wobei du überhaupt meine Unterstützung brauchst“, bitte ich mit Nachdruck.
Während unserer Diskussion steht mein Vater nur daneben und sieht uns zu, was mich fast verrückt macht. Wieso interessiert es ihn nicht, was meine Mutter vorhat? Weiß er es etwa?
“Ich verspreche, dass ich euch später all eure Fragen beantworten werde, aber jetzt ist es ganz wichtig, dass ihr beide nach oben geht und eure wichtigsten Sachen einpackt“, erläutert mir meine Mutter. Der Schock fährt mir tief in die Knochen, als sie vom Sachen packen zu sprechen beginnt. Wir verreisen doch nicht einfach. Was hat meine Mutter, also vor?
“Na gut“, ich muss mehrmals schlucken, um den Kloß in meinem Hals loszuwerden: “Aber eine Frage will ich jetzt sofort beantwortet haben.“ Meine Mutter seufzt angespannt, stimmt meiner Bedingung dann aber zu: “Okay, was willst du wissen?“
“Wo fahren wir hin?“, meine Stimme ist rau und knickt am Ende des Satzes fast völlig ein. Diese ganze Situation sorgt dafür, dass ich mich vollkommen unwohl zu fühlen beginne. Alles wirkt so surreal und erzeugt in meinem Kopf unzählige Rätsel. Ich kann nicht aufhören mir selbst sämtliche Fragen zu stellen ohne die Antwort zu kennen.
Ein unangenehmes Prickeln scheint sich im ganzen Raum ausgebreitet zu haben. Nach einiger Zeit zerreißt die Stimme meiner Mutter die unangenehme Stille: “Wir verlassen London.“
Dieses Mal trifft mich diese Information wie fester Schlag ins Gesicht: “Was? Wir können London doch nicht verlassen.“ “Technisch gesehen tut ihr das ja auch nicht“, schaltet sich mein Vater nun auch ein:“Es soll für die Außenwelt nur so scheinen, als wären wir gegangen. Insgeheim bleibt ihr natürlich hier, dürft das aber keinem sagen.“
Ein Versteckspiel also! Aber warum das Ganze? Und vor wem verstecken wir uns überhaupt? Ich versuche mich allerdings zu beherrschen und mir diese Fragen weiter aufzusparen. Schließlich habe ich mit meiner Mutter nur eine Information aushandeln können, also werde ich mich jetzt wohl daran halten müssen.
Kurz schließe ich die Augen und atme mehrmals tief durch, um meine Fassung wieder zu bekommen und mich davon abzulenken, was meine Eltern mir gerade erzählt haben. Mom hat recht. Genau jetzt muss ich ihre große Tochter sein und meine Eltern unterstützen.
“Hey, Ana“, ich drehe sich vorsichtig zu mir herum: “Wollen wir vielleicht zusammen nach oben gehen und schauen, ob dein Lieblings T-Shirt schon sauber und gebügelt ist? Dann können wir das schonmal einpacken und überlegen, was du noch mitnehmen willst.“ “Aber ich will nicht gehen“, sie sieht mich niedergeschlagen an. “Du bist eines der klügsten und reifsten Mädchen, das ich kenne, weshalb du mich jetzt unterstützen musst“, sanft streiche ich ihr über das rote Haar und nehme ihre Hand in meine freie: “Ich finde das hier auch nicht schön und verstehe es noch nicht einmal richtig, aber Mom und Dad würden doch nie etwas tun, was nicht gut für uns wäre, oder? Sie haben uns lieb und wollen uns nur beschützen.“
Ihr Blick wandert zu Boden, bevor sie mir vorsichtig in die Augen sieht: “Ja, sie haben uns lieb.“ “Und ich hab dich auch lieb“, ich muss mich beherrschen, um sie nicht fest zu umarmen: “Deshalb gehen wir jetzt auch zusammen hoch und packen ein paar Sachen zusammen, okay?“ “In Ordnung“, auf ihre Lippen schleicht sich ein schüchternes Lächeln. “Danke“, erwidere ich, schaue dabei aber, über ihren Kopf hinweg, zu meiner Mutter hinüber, deren Blick völlig undurchsichtig für mich ist.