Evie
Eine Lärmwelle schlägt mir entgegen, als ich die Tür der Mädchentoilette öffne und auf den Gang hinaus trete. Überall hetzen Schülerinnen und Schüler durch den Gang und von allen Seiten sind unterschiedliche Stimmen zu hören. In meinen Ohren klingt das alles aber nur dumpf und wirkt weit entfernt. Unreal! In meinem Kopf hallt gerade nämlich nur ein einziger Gedanke wieder und wenn ich darüber nachdenke, was mir bevorsteht, könnte ich sofort wieder zurück auf die Toilette verschwinden, um mich zu übergeben. Denn nur in der Pause habe ich Zeit zu Reese zu gehen und ihr zu sagen, dass ich heute mal wieder keine Zeit für sie habe.
Das tue ich schon so oft, dass es eigentlich ein Leichtnis für mich sein sollte mit ihr darüber zu sprechen. Das war es aber bei Avery schon nicht und der Verlust ihrer Freundschaft hat mir tief ins Fleisch geschnitten und eine tiefe Wunde erzeugt, die jedes Mal wieder aufreißt, wenn ich Reese' enttäuschten und verletzen Blick sehe, der mir durch Mark und Bein geht. Man sagt immer, dass es mit der Zeit leichter wird, je öfter man mit Menschen über unangenehme Themen redet, doch das ist eine glatte Lüge. Es wird nur schlimmer und verletzender für uns beide.
Langsam mache ich mich auf den Weg durch den Gang und gehe in Gedanken nochmal das durch, was ich mir gerade eben vor dem Spiegel zehn Minuten lang zusammen gereimt habe, während ich beinahe im Schneckentempo einen Fuß vor den anderen setze. Wieso musste ich überhaupt so dumm sein und zwei Verabredungen auf denselben Tag legen? Sowas passiert auch echt nur mir und jetzt darf ich es wieder ausbaden.
In dem Flur angekommen, in dem Reese normalerweise in den Pausen oder Freistunden rumhängt, bleibe ich stehen und lasse meinen Blick den Gang auf und ab wandern. Leider ist es hier allerdings nicht so voll, dass man sich gut in der Menge verbergen könnte, da es fast nur Abstellkammern und Lagerräume gibt. Zu meinem Bedauern kann ich mich deshalb auch nicht länger vor meiner Pflicht drücken, weshalb ich mich mehr oder weniger zielstrebig auf dem Weg zu dem Platz mache, an dem sie normalerweise zu finden ist.
Die Siebzehnjährige sitzt auf dem dreckigen Boden und hat ihre weißen Kopfhörer in den Ohren, als ich vor sie trete. Den Rücken hat sie gegen die moosgrüne Wand mit dem weißen Streifen am unteren Ende gelehnt, während sie ihr, durch einen lila-schwarzen Einband geschütztes, Lieblingsbuch aufgeschlagen in den Händen hält.
Auch wenn ihr Look das nicht sofort vermuten lässt, liebt das Mädchen Klassiker und ihr Lieblings Buch "Stolz und Vorurteil" ist. Man sollte einen Menschen eben nicht nur nach seinem Äußeren beurteilen, sondern bis ins Innere vordringen. Erst dann kennt man eine Person richtig.
Als ich vor sie trete, starrt sie die Blondine für einen kurzen Moment auf meine roten Turnschuhe und hebt dann den Kopf, um mir in die Augen zu sehen. Sofort verändert sich der Ausdruck in ihrem Gesicht, als sie meine bedröppelte Miene bemerkt.
Mit einer Bewegung signalisiere ich ihr, dass sie kurz die Stöpsel aus den Ohren nehmen soll, damit wir sprechen können. "Was ist los, Evie?", fragt Reese misstrauisch und zeigt mir damit, dass sie mich bei meinem ganzen Namen nennt, anstatt mir einen Spitznamen zu geben, dass sie bereits darauf wartet von mir schlechte Neuigkeiten zu bekommen. "Kann ich mich zu dir setzen?", rede ich ein wenig um den heißen Brei herum. "Nein", ihre Stimme ist hart und kühl. Fast schon so, als würde sie wissen, was ich als Nächstes sagen werde: "Sag einfach, was du zu sagen hast." "I-Ich muss dir was sagen, aber bitte versprich mir, dass du nicht böse auf mich bist", bitte ich und spiele nervös an dem Reißverschluss meiner ebenfalls roten Strickjacke, mit der Kapuze daran, herum. Sie hebt misstrauisch eine Augenbraue und schlägt das Buch feste zu, sodass die Seiten laut zusammen klatschen, woraufhin ich ruckartig zurückzucke. "Ich kann gar nichts versprechen", sie verschränkt die Arme vor der Brust und sieht mich fordernd an. "Du weißt ja, dass meine Eltern oft lange arbeite, arbeiten müssen", nun beginne ich auch noch auf meiner Lippe herumzukauen: "Und dann gibt es eben Tage, an denen keiner von ihnen zu Hause ist. Da meine Schwester erst zwölf ist, bleibt deshalb manchmal die Verantwortung an mir hängen, sodass ich auf Annabelle aufpassen und ihr im Bezug auf die Schule helfen muss. In ihrem Alter kann sei ja noch nicht alleine bleiben. So ein Tag ist heute, weshalb ich leider wieder nicht kann, aber wir können uns gerne an einem anderen Tag treffen." "Weißt du was? Spar dir diesen Scheiß. Langsam kann ich deine Ausreden nicht mehr hören. Freundinnen lügen einander nicht an", mit diesen Worten nimmt sie einfach wieder die Kopfhörer und steckt sie in die Ohren zurück.
In diesem Moment fühlt es sich so an, als würde man mir den Boden unter den Füßen wegziehen und mich in ein schwarzes Loch fallen lassen, dass nie zu enden scheint. Und dann ist da noch diese schreckliche, schmerzhafte Leere, die Reese in meinem Herzen verursacht hat. Fast ist es so, als wäre dort nun ein unausgefüllter Platz, der vorher von dem Mädchen vor mir besetzt wurde. Tränen sammeln sich in meinen Augen, doch ich probiere mit aller Kraft nicht zu weinen. Habe ich sie nun für immer verloren oder wird sie mir noch einmal verzeihen, dass ich sie mal wieder versetzt habe?
Es war mir super unangenehm dieses Kapitel zu schreiben udn ich finde, dass man das auch merkt. Ich mag Reese und Evie eben.