Evie
Das Leuten der Schulklingel dröhnt über den ganzen Schulhof, als die letzte Stunde nun amtlich zu Ende geht. Glücklicherweise hat unser Lehrer die Stunde heute früher beendet, denn gerade jetzt habe ich wenig Lust darauf mich durch die Massen von Schülern zum Ausgang zu quetschen und dabei am besten noch überrannt zu werden.
Ich will einfach nur hier raus, weg von der Schule, denn dieser Tag was mit Abstand einer der Schlimmsten. Reese hat kein Wort mit mir gesprochen und war nicht mal bereit mir einen Blick zu schenken. Doch ich bin ja auch selbst schuld. Schließlich habe ich sie immer wieder vertröstet, bis sie es nicht mehr aushält. Bei dem Gedanken an gestern steigen mir fast schon wieder die Tränen in die Augen. Ich hab den ganzen Tag nur noch damit verbracht meiner besten Freundin hinterher zu trauen und bin nur aus dem Bett gestiegen, um auf die Toilette zu gehen und mir ein neues Eis zu holen.
Draußen angekommen ziehe ich die Kapuze über den Kopf, obwohl es weder richtig windig ist, noch regnet. Gerade will ich einfach mit gar keinem reden. Außer Reese natürlich. Nicht mal ein Tag ist vergangen und schon habe ich schreckliche Sehnsucht nach ihr. Manchmal frage ich mich echt, warum ich unbedingt als Hexe geboren werden musste. Während sich andere Teenager in meinem Alter mit Jungs und ihren Eltern herumschlagen müssen, versuche ich schon seit langem die richtige Balance zwischen meinem Leben als Mensch und dem als Hexe zu finden. Bereits bei Avery hatte ich meine Mom darum gebeten ihr von meinen Kräften erzählen zu dürfen, doch sie hatte es mir verboten und mir eingetrichtert wie wichtig es ist, mein Geheimnis zu verbergen.
In diesem Moment ertönt eine laute, kreischende Stimme hinter mir: “Hey Evie, warte mal kurz.“ Erschrocken zucke ich zusammen und bleibe stehen, bereue es aber augenblicklich, als mir klar wird, wem die Stimme gehört. Da es aber für eine Flucht schon zu spät ist, drehe ich mich zu der Schwarzhaarigen herum, die am steinernen Treppengeländer lehnt. “Was willst du, Belle?“, ich klingt genervter, als ich wirklich bin. “Kann es sein, dass du heute irgendwie schlechte Laune hast?“, sie stößt sich von der Mauer ab und kommt, mit schwingenden Hüften, auf mich zu. “Ja, schon möglich“, ich kneife die Augen zusammen und lasse meine Hände in die Taschen meines Mantels gleiten: “Jetzt komm endlich auf den Punkt oder ich geh weiter.“ “Oh, tut mir leid“, sagt sie schnell und bleibt vor mir stehen.
“Ich wollte dich nur fragen, ob du heute Zeit hast“, ich sehe zu wie sie Arme siegessicher vor der Brust verschränkt: “Schließlich hast du ja jetzt, wo Reese dich ignoriert, keine Freunde mehr, mit denen du irgendwas machen könntest.“
In den Taschen balle ich meine Hände so fest zu Fäusten, dass ich fast spüren kann wie sich meine Fingernägel feste in das weiche Fleisch meiner Handflächen graben. “Hör auf, Belle“, zischt der Junge neben ihr, den ich erst jetzt wahrzunehmen beginne. Scheinbar steht er schon die ganze Zeit dort, doch erst jetzt nehme ich ihn tatsächlich war. Zu sehr war ich in den vorherigen Sekunden in meiner Welt gefangen.
Belle zieht einen Flunsch. Sofort schießt mir der Gedanke durch den Kopf, dass sie wirklich eine besondere Beziehung zu ihm haben muss, wenn Belle sich von ihm den Mund verbieten lässt. “Ich muss mich wirklich für Belle entschuldigen“, lächelt er mir freundlich entgegen: “Sie weiß einfach nicht, wann sie die Klappe halten muss.“
Ich versuche ein Grinsen zu unterdrücken, während ich den jungen interessiert mustere. Die Ähnlichkeit zu Belle ist verblüffend. Zwar ist seine Haut lange nicht so hell wie ihre, sondern eher Cappuccino-farbend und sein Körper ist viel breiter, doch beide haben eine, vor Selbstbewusstsein sprühende, Art und dieselben braunen Augen. Seine Augenbrauen sind genauso dunkel wie sein Haar und wuchern ebenso ungestüm hervor, wie das Haar auf seinem Kopf, dass fast so schwarz ist wie mein Eigenes. Die kaum erkennbaren Bartstoppeln und die runde Stupsnase lassen ihn männlich und beschützerisch wirken.
Sofort finde ich sein Auftreten, im Gegensatz zu dem von Belle, sympathisch. “Das habe ich schon gemerkt“, erwidere ich und schaue zu meiner neuen Mitschülerin zurück: “Selbst wenn Reese momentan nicht mit mir spricht, heißt das nicht, dass ich Zeit für dich habe, Belle.“ Zwar ist mir bewusst, wie unfreundlich und hart ich gerade klingen muss, doch seitdem sie einfach bei mir zu Hause aufgetaucht ist, ist sie mir echt nicht geheuer, und auch die Andeutungen, die sie gemacht hat, machen sie mir nicht sympathischer. Irgendwie war sie mir schon von Anfang an suspekt und mit der Zeit hat sie diesen Eindruck selbst nur noch weiter gestärkt. “Dann vielleicht ein andern Mal“, mein Gegenüber beißt sich auf die Lippe: “Aber da ist noch was?“
Dieses Mal muss ich wirklich stark mit mir ringen, um ein angestrengtes Seufzen zu unterdrücken: “Was denn?“ “Ich würde dir gerne meinen Cousin vorstellen“, kumpelhaft klopft sie dem Jungen neben sich auf den Rücken. Ihr Cousin also! Da hatte ich ja doch recht. Sie haben wirklich eine besondere Beziehung zueinander, und zwar eine familiäre. Daher auch die Ähnlichkeit zwischen ihnen.
“Mein Name ist Elijah“, er reicht mir seine Hand. Erst will ich diese Tatsache einfach ignoriere und mich verabschieden, obwohl er eigentlich echt nett zu sein scheint, doch dann fällt mir ein besonderes Detail auf, dass mich augenblicklich umstimmt. “Schön dich zu treffen“, ich schüttele seine Hand: “Ich bin Evie.“ “Evie, wer?“, fragt er weiter.
Erst verstehe ich nicht, was er von mir will, weil ich so fokussiert auf das Objekt an seinem Finger ist, doch dann schaffe ich es doch irgendwie zu antworten: “Evie Grey.“
Meine Finger pressen sich fest an seine, als er meine Hand fest schüttelt. Dabei gleitet meine Hand immer wieder über das kalte Metall des Ringes, mit dem blutroten Stein daran, der mich so interessiert. Genau diesen habe ich schon einmal in meinem Leben gesehen. Und zwar genau gestern in der Bücherei!
“Bist du neu in der Stadt oder lebst du schon lange hier?“, frage ich interessiert weiter, um seine Hand weiter umklammern zu können. Jeden Zentimeter des Ringes will ich berühren und mir die Form ganz genau einprägen, während sich in meinem Kopf eine Frage festigt. War er derjenige, der mir in der Bibliothek das Buch hat zukommen lassen? So ein Schmuckstück habe ich nämlich vorher noch nie am Finger einer anderen Person gesehen, woraus ich schließe, dass er im letzten Sommer wohl kaum bei Primark im Angebot war.
“Nein, ich lebe mit meiner Familie schon mein ganzes Leben in London. Zum Glück musste ich, im Gegensatz zu meiner lieben Cousine, auf kein langweiliges Internat, sondern besuche eine bürgerliche Schule“, erklärt er mir kurz. “Das heißt, es wäre unnötig dir einen Rundgang durch die Stadt anzubieten“, gespielt zerknirscht beiße ich mir auf die Unterlippe und versuche verloren zu wirken, was mir mehr oder weniger gut zu gelingen scheint, denn sofort springt er für mich in die Bresche.
“Ja, das ist richtig“, stimmt er zu: “Du könntest mir aber eine Führung durch dein Lieblings Café anbieten.“ Ein Lächeln breitet sich auf meinen Lippen auf. Das läuft ja besser als gedacht: “Gut, am Samstag hätte ich Zeit für dich.“
Mir ist klar, dass mein Plan mehr als niederträchtig ist, doch ich brauche dieses Treffen unbedingt. Nur so kann ich herausfinden, was es mit dem Ring, den er am Zeigefinger trägt, auf sich hat. Innerlich bin ich mir nämlich vollkommen sicher, dass er nicht unbedeutend sein kann. Bei dem Gedanken, dass er derjenige ist, der mir gestern so sehr geholfen hat, beginnt mein Herz schneller zu schlagen, während meine Gedanken Achterbahn zu fahren scheinen. Warum sollte ausgerechnet er mir helfen? Schließlich scheint seine Cousine doch genauso scharf auf das Buch zu sein, wie ich.
“Dann sehen wir uns am Samstag“, ein zufriedenes Lächeln breitet sich auf seinen Lippen auf und spiegelt genau das wider, was ich tief in meinem Inneren spüre.