Evie
Erschöpft stütze ich meinen Kopf in die Hände. Das unter meinen Ellenbogen fühlt sich hart an, doch ich ignoriere das Gefühl einfach und starre aus dem Fenster. Beinahe kann ich sehen, wie die Hitze über den Dächern der Stadt flimmert, obwohl es bereits dämmert. Zwischen meinen Armen habe ich mein Mathematikheft drapiert. Schon vor einer halben Stunde habe ich meine Aufgaben beendet und werde nun von Langeweile geplagt.
Meine Eltern sind mittlerweile wieder da und nachdem Belle endlich verschwunden ist, hat Annabelle sich auf das Sofa gepflanzt, nach der Fernbedienung gegriffen und angefangen einige Cartoons im Fernsehen anzusehen und hat bisher noch nicht damit aufgehört. Doch obwohl sie nur ein Stockwerk unter mir sitzt, fühle ich mich total einsam, denn nicht Ana ist diejenige, mit der ich gerade Zeit verbringen will, sondern jemand ganz anders.
Wie automatisch erhebe ich mich von meinem Drehstuhl und lasse mich aufs Bett fallen, nachdem ich die Vorhänge vor meinem Fenster zugezogen habe. Mein Rücken gräbt sich in die weiche, weiße Matratze ein und sorgt dafür, dass ich mich sofort viel wohler fühle, doch trotzdem fühlt es sich nach wie vor so an, als würde mir etwas fehlen. Ein wichtiger Teil meines Lebens, ohne den ich nicht auskommen kann. Nachdenklich streiche ich mit den Fingern über den dunkelgrünen Einband des Buches und lasse meine Fingerkuppen über die Ränder der Seiten gleiten.
Als mir aber bewusst wird, was ich hier gerade mache, löse ich mich von dem kleinen Buch und lasse es zurück neben den Wecker auf meinem Nachttischchen fallen. Erst wenn die anderen Mitglieder meiner Familie im Bett sind, will ich mich dem Objekt zuwenden, da ich mir wirklich keine neugierigen Fragen meiner Familie leisten kann.
Deshalb bewege ich mich kurz hin und her, um den perfekten Platz für mich zu finden, und ziehe die Decke über meinen Körper. Ich trage bereits meinen Schlafanzug, weshalb mich plötzlich eine Welle der Gemütlichkeit überrollt und dafür sorgt, dass ich mein Bett am liebsten nie wieder verlassen würde. Ein leiser Seufzer verlässt meine Kehle, als ich nach meinem Handy greife.
Sobald ich auf den “On“-Knopf drücke, erscheint ein Bild auf dem Display, das mir einen festen Stich versetzt. Es ist ein Bild von Reese und mir, das an dem Tag entstand, als wir mit der Klasse in einem der Freizeitparks in der Nähe waren. Tränen sammeln sich in meinen Augen und ich muss an den lauwarmen Frühlingstag zurückdenken, den wir miteinander verbracht haben. Meine beste Freundin und ich.
Schnell lasse ich meinen Finger über das Bild gleiten und öffne meinen Messengerdienst, um nicht zu weinen. Mit den Fingerspitzen der linken Hand wische ich mir schnell über die Augen und tippe dann mit einem Finger auf den Chat, den ich mit Reese betreibe.
Automatisch öffnet sich unter Verlauf, der Anfang nur aus lachenden Smileys und kurzen Nachrichten bestand, sich dann aber in ein Meer aus Absagen und Entschuldigungen verwandelt hat. Heute wird wohl eine neue dazu kommen müssen! Meine Finger fliegen über die digitale Tastatur und fassen die Gedanken, die sich in meinem Kopf aufgestaut haben, in Worte.
Als ich letztendlich auf den grünen “Senden“-Button drücke, fühle ich mich viel befreiter, doch trotzdem fehlt mir meine beste Freundin. Oder mittlerweile eher meine frühere beste Freundin, denn ob wir noch befreundet sind, weiß ich seit unserem letzten Gespräch nicht mehr so genau. Denn obwohl meine Entschuldigung echt ist und aus tiefstem Herzen kommt, weiß ich nicht, ob Reese meine Worte dieses Mal überhaupt ernst nimmt. Schließlich habe ich ihr schon so oft weh getan, dass es mich nicht wundern würde, wenn sie mir dieses Mal nicht verzeiht. Obwohl ich ihr verhalten allerdings verstehen könnte, verursachen diese Gedanken in meinem Herzen Schnitte, die mit jedem Gedanken tiefer werden.
Meine Augen wandern von den Buchstaben “online“, die unter ihrem Namen prangen, zu der Stelle, an der neue Nachrichten erscheinen. Innerlich hoffe ich darauf, dass Reese mir antwortet, doch gerade wirkt es nicht so, als würde sie das planen.
Ohne groß darüber nachzudenken, schreibe ich immer und immer wieder kurz Nachrichten, bitte Reese mir zu antworten, doch nichts geschieht. Keine Nachricht kommt zurück. Nur die blauen Harken, die mir zeigen, dass sie es gelesen hat.
Erneut sammeln sich Tränen in ihren Augen, doch dieses Mal wische ich sie nicht weg. Stattdessen lasse ich sie einfach laufen und gebe mich meiner Trauer hin.
Erst sind es nur einige winzige und unscheinbare Tränen, die im Licht der untergehenden Sonne vor sich hin glitzern, doch als die Meldung “Sie können mir diesem Nutzer nicht kommunizieren“ auftaucht, werden sie immer zahlreicher und ähneln fast einem Wasserfall. Meine Knochen sind wie eingefroren, unmöglich zu bewegen, während mein Blut in meinen Adern sein Tempo zu erhöhen scheint. Die Luft in meinen Fingern fühlt sich plötzlich so an, als würde sie wie hunderte von Rasierklingen in mein Fleisch schneiden und dem Schmerz einen Weg in meinen Körper bahnen. Der Hals tut mir von weinen bereits weh, doch ich kann nicht aufhören, nicht aufhören zu schluchzen und nicht aufhören mich meinen Gefühlen hinzugeben. Innerlich zerreißt es mich, denn genau just in dieser Sekunde wird es mir bewusst. Sie hat den Kontakt mit mir unterbrochen und schon wieder habe ich eine beste Freundin verloren.
Doch dieses Mal ist es noch viel schlimmer als vorher. Denn ich habe nicht nur eine Freundin verloren, sondern einen Menschen, den ich tatsächlich geliebt habe und der sich unabsichtlich einen Platz in meinem Herzen erkämpft hat. Nun fühlt es sich so an, als würde dieser Teil, den sie in mir aufgebaut hat und der mich zu einem anderen Menschen gemacht hat, fehlen.
Ich will einfach nur zu ihr rennen und ihr alles erzählen. Das, was ich mich niemals trauen würde einem Menschen zu sagen. Und würde sie mir das alles überhaupt glauben? Schließlich klingt es einfach nur absurd und sie würde es mit Sicherheit als eine weitere meiner Ausreden ansehen. Ich selbst würde an ihrer Stelle ja auch nicht anders reagieren.
Doch ich kann das nicht tun. Ich kann nicht zu ihr gehen, kann ihr nicht verraten, wer ich bin. Unter keinen Umständen werde ich zulassen, dass sie in die bescheuerte Fehde zwischen den Zirkeln in London hinein ziehen. Diese Bürde kann und will ich ihr nicht auferlegen, obwohl ich sie dann verliere.
Der Gedanke, dass ich mich entscheiden zwischen ihrer Freundschaft und ihrer Sicherheit entscheiden muss, trifft mich unverhofft und hart. So hart, dass mir für eine viel zu lange Zeit die Luft wegbleibt. Regelrecht sehe ich meinen entsetzen und verletzten Ausdruck vor meinem inneren Auge.
Eigentlich sollte mir diese Entscheidung als eine gute Freundin doch leicht fallen, oder? Ich sollte mich einfach dafür entscheiden sie ihr sicheres Leben weiter leben zu lassen, doch ich will sie nicht verlieren. Reese ist für mich einer der wichtigsten Menschen in meinem Leben und die Welle der Gefühle, die mich übermannt, reißt mich wie eine Flut mit sich.