Du bist Aji.
Die Sonne brennt schwer auf deine Kapuze. Es ist unerträglich warm. Schweiß hat deine Kleidung durchtränkt, wie auch das Fell von Melréd. Allysters Schimmel, der euch beide tragen muss, lässt den Kopf hängen und schnaubt ab und zu erschöpft. Da du hinter deinem Meister sitzt, bist du vor dem direkten Einfall der Sonne vor euch geschützt, doch auch so ist die Hitze mörderisch.
Ein weiterer langer Tag liegt hinter euch. Seitdem ihr Sonnengrund hinter euch gelassen habt, die Hauptstadt von Kalynor, seht ihr nur noch kurzes, gelbliches Gras auf der weiten Hochebene. Bis auf den Seengrund, der sich irgendwo östlich hinter euch befindet, und das sumpfige Gebiet bei Sonnengrund und dem Dornenwald ist die größte Fläche von Kalynors Herzen eine karge Steppe, mit stoppeligem Gras unter einem weitgestreckten, hellblauen Himmel.
Im Südwesten eurer Reisestrecke liegt dagegen Kaltmoor, die Festung an der Mondsee, und deine Heimat. Kaltmoor liegt am Fuß der Klippen, die sich von Ost nach West quer durch Kalynor ziehen und die Hochebene tragen, die im Norden allmählich in flacheres Land übergeht. Dass es bergab geht, spürt ihr jeden Tag, den ihr über die Prärie reitet, doch dir steht der Anblick der gewaltigen Klippen noch vor Augen, die ihr hinaufsteigen musstet, um Sonnengrund zu erreichen. Um diese Strecke auf dem flachen Land wieder hinunter zu reisen, muss man mehrere Wochen gen Norden ziehen.
Euer Weg führt nordwestlich, weshalb euch die sinkende Sonne in die Augen strahlt. Sie berührt bereits den Horizont, doch Allyster macht keine Anstalten, eine Pause zu beginnen. Arthrax, dessen Kaltblut Melréd im Abstand eines guten Speerwurfs folgt, hat inzwischen gelernt, nicht jeden Abend nach einer Rast zu fragen.
Du tastest nach dem Trinkschlauch und nimmst einen großen Schluck. Selbst das Wasser ist warm, noch immer aufgeheizt von der unbarmherzigen Sonne des kalynorischen Mittags.
Müde lässt du die Stirn gegen den Rücken deines Mentors sinken und schließt die Augen. Mit der Zeit hast du ein gewisses Talent darin entdeckt, im Sitzen auf dem Pferderücken zu schlafen.
Plötzlich hält Melréd an. „Seht doch!“, ruft Allyster.
Du hebst den Kopf, während Arthrax Atesh zum Trab treibt und aufschließt.
An deinem Mentor vorbei kannst du ein dunkles Gebilde am Horizont erblicken. Durch die Hitze flimmert der Umriss. Du kneifst die Augen zusammen. „Was ist das?“
„Burg Karkadon“, antwortet Allyster. „Die große Feste im Westen. Sie markiert das Ende der Hochebene.“
„Wir haben es geschafft!“, rufst du aus.
„Oh, keineswegs“, entgegnet Allyster hoheitlich. „Nach der Festung müssen wir zum Wachturm von Karkadon reisen, der die Außengrenze von Kalynor markiert, und dann …“
„Die Hochebene liegt hinter uns!“, jubelt Arthrax glücklich. „Hoffentlich haben die Bier in der Feste.“
„Traditionell werden Reisende zwar aufgenommen, aber eine Bewirtung sollten wir nicht erwarten“, dämpft Allyster seine Freude. „Aber uns erwartet ein Kasernenbett in der Kühle der dicken Mauern.“
„Ich war schon mal dort“, knurrt Arthrax. „Und damals hatten sie Bier!“
Er schnalzt und treibt Atesh in den Trab. Schnaubend donnert das Kaltblut los. Melréd folgt ihm stolpernd, doch die Pferde scheinen zu riechen, dass das Ende der unangenehmsten Etappe sie bei jener Steinfestung erwartet. Sie werden noch einmal schneller.
Bis ihr allerdings bei der Burg ankommt, ist die Sonne vollends hinter den Horizont gesunken. In der Dunkelheit stolpern die Pferde über Unebenheiten im Gelände. Warmer Feuerschein, der aus den Fenstern der Burg dringt, weist euch den Weg. Die Nächte in der Hochebene sind ebenso eisig, wie die Tage heiß sind, und so bist du dankbar, als ihr hinter dem Burgtor von einigen müden Stallburschen empfangen werdet und schließlich in die große Halle kommt, in deren Kamin ein stattliches Feuer lodert.
„Endlich, Zivilisation!“ Arthrax seufzt erleichtert.
„Macht es euch nicht zu gemütlich“, zischt Allyster streng.
Ihr streift eure staubigen Mäntel ab und wärmt euch vor dem Feuer, als Schritte erklingen.
„Ihr seid späte Gäste“, brummt eine füllige Frau, die sich noch im Hereinkommen eine Schürze umbindet. „Drei Betten?“
„Ja, bitte.“ Allyster lächelt liebenswürdig, doch die Frau ignoriert ihn oder kriegt seine Freundlichkeit nicht einmal mit. Stattdessen schlurft sie an euch vorbei und winkt euch. „Kommt mit.“
Ihr kurzes Haar ist durcheinander, sodass du vermutest, dass einer der Stallburschen sie wieder aus dem Bett geholt hat. Nun führt sie euch über eine ausgetretene Wendeltreppe in einem der Türme nach oben. Ihr betretet den Ostflügel, wo sich unzählige Türen an einem schmalen Gang befinden. Hinter manchen der Türen erklingt sägendes Schnarchen. Die Frau bleibt an einer Tür stehen. „Das erste Zimmer.“
Ihr tauscht kurze Blicke, dann tritt Arthrax vor und in den Raum dahinter. Kurz siehst du ein Bett, daneben ein Tischen mit einer fast heruntergebrannten Kerze in einem Kerzenständer.
Die Frau schlurft weiter, ihr folgt ihr eilig. Arthrax wirft seine Tasche auf das Bett und kommt ebenfalls mit, um zu sehen, wo ihr landet. Zu recht, denn es geht zwei Ecken weiter, bis die Frau dir und Allyster zwei Zimmer am Ende des Ganges zuteilt.
„Frühstück gibt es bei Sonnenaufgang, und bis dahin stört ihr besser niemanden.“
„Frühstück?“, fragt Arthrax und grinst deinen Meister dann vielsagend an.
„Kostet eine Goldmünze extra pro Nase.“
„Nehmen wir!“, ruft Arthrax sofort. Er freut sich wie ein kleines Kind.
„Wir können ja morgen noch entscheiden“, wirft Allyster bestimmend ein.
Arthrax‘ Lächeln verblasst.
Die Frau sieht zwischen euch hin und her, dann schnauft sie. „Bis morgen.“
Ihr seht ihr nach, bis sie um die Ecke ist. Dann wirbelt Arthrax zu Allyster herum. „Natürlich gehen wir zum Frühstück! Ein Goldstück ist nicht zu viel, wir sind jetzt reich. Und, verdammt, wer weiß, wann wir wieder etwas Vernünftiges kriegen!“
Allyster schüttelt den Kopf und widerspricht mit ruhiger Stimme: „Es könnte gefährlich sein. Alle hier gehen zum Frühstück, oder wenigstens die meisten. Wenn Aji dort auffällt …“
Du schluckst, als sich beide Blicke auf dich richten. Du bist das Problem? Das fühlt sich ein bisschen wie ein Hieb in die Magengrube an. Wahrscheinlich hat dein Mentor einfach keine Lust, sich unter Menschen zu begeben, und nimmt dich als Ausrede. Das würdest du ihm zutrauen.
„Denk doch mal nach. Wir sind nah am Steinrund, an der Grenze von Kalynor. Es sind womöglich keine Druiden hier, aber manche Reisende haben sich mit ihnen arrangiert und angefreundet. Wenn die jetzt herumerzählen, dass sie so jemanden wie Aji gesehen haben, erinnern sich die Jenseitsvölker an Berichten von anderen Steindiebstählen und erkennen, was unser Plan ist. Dann können wir es vergessen, den nächsten Schöpferstein zu finden.“
„Als ob ein kleines Frühstück solche Auswirkungen hätte!“ Arthrax schnaubt.
„Freu dich einfach über ein normales Bett. Reicht das nicht an Luxus?“
„Nein.“ Bockig verschränkt Arthrax die Arme vor der breiten Brust.
Allyster seufzt und kneift sich in die Nasenwurzel. „Arthrax … das Risiko ist zu hoch.“
„Ist es nicht. Aji trägt einfach seine Kapuze. Dafür kriegen wir frisches Brot, Wurst und Käse, Bier, dieses frische Obst, auf das Elred so abfährt. Vielleicht haben sie hier sogar Honigkuchen. Honigkuchen, Allyster! Die sind der Himmel, dafür lohnt es sich sogar zu sterben!“
Genervt schüttelt Allyster den Kopf. „Lass gut sein, Arthrax. Wir sehen uns morgen.“
„… zum Frühstück.“
„Arthrax!“ So gereizt hast du deinen Mentor selten gesehen. Was vielleicht daran liegt, dass du immer brav nickst und tust, was er sagt.
Beide Männer sind stur. Von selbst werden sie sicher nicht zu einer Einigung kommen, also solltest du vielleicht einschreiten, bevor sie sich anbrüllen und die halbe Burg wecken. Aber wem sollst du zustimmen? Du hättest eigentlich auch gerne ein Frühstück, denn die nächsten Wochen werdet ihr vermutlich nur Trockenfleisch und Trockenfrüchte und trockenes Brot essen.
Aber hat Allyster vielleicht recht mit seiner Vorsicht? Kalynor liegt zwar mit den Jenseitslanden im Krieg, aber Menschen, die so nah an der Grenze leben, haben manchmal trotzdem mit Jenseitsvölkern Kontakt. Insbesondere mit solchen wie den Druiden, die man nicht zum Feind haben will – und deren dunkle Magie auch sehr nützlich sein kann.
Du solltest jedenfalls bald einschreiten, bevor Allyster die Geduld verliert oder Arthrax zornig wird.
Du trittst vor und sagst: …
- „Lasst uns einfach früh frühstücken und aufbrechen, bevor alle da sind.“ Lies weiter bei Kapitel 2.
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- „Frühstück ist doch unwichtig, das brauchen wir nicht.“ Lies weiter bei Kapitel 3.