Du bist Allyster der Sehende.
Widerstrebend wendest du dich ab. Aji ist stark, er wird die Behandlung in der Arena eine Weile durchhalten. Was auch immer er genau aushält – da bist du dir nicht so ganz sicher. Die Geräusche aus der Arena werden vom Johlen der Zuschauer übertönt. Aber du vertraust deinem Lehrling, auch wenn es dir nicht gefällt, ihn im Stich zu lassen.
Du siehst dich um und entdeckst schließlich ein Gebäude, das etwas abseits liegt und von zwei Druiden bewacht wird. Die beiden stehen zu beiden Seiten eines hohen Walls aus Geäst und sehen in die Höhle hinein. Du kannst dich ungesehen von der Seite her anschleichen und durch das dichte Geflecht der Äste schlüpfen, ohne dass sie etwas bemerken.
Doch dieses Gebäude ist nicht ohne Grund so gut geschützt und bewacht, da bist du dir sicher. Und du wirst nicht enttäuscht, denn drinnen findest du mehrere flache Findlinge vor. Die Steine dienen offenbar als Tische, und auf ihnen liegen mehrere uralte Dokumente. Viele bestehen aus Steintafeln und sind mit kantigen Runen beschriftet, die selbst du nicht lesen kannst. Doch es gibt ein Pergament, dem du dich näherst. Dieses ist in der Gemeinsprache verfasst und sicherlich kamen die Druiden nicht von selbst auf die Idee, Papier zu benutzen. Nicht als Baumwesen. Es muss ein Unterpfand sein, dass für noch eine weitere Rasse lesbar sein musste.
Als du das Papier betrachtest, wird dein Verdacht bestätigt. „Temporärer Friedensvertrag der freien Völker gegen die Bedrohung Kalynor“, liest du als Überschrift. Du hast ihn gefunden – den Vertrag der Jenseitsvölker.
Nachdem du dich vergewissert hast, dass die Druiden noch immer nichts bemerken, nimmst du das Papier vorsichtig auf und überfliegst den Inhalt. Es ist langatmig verfasst – sicherlich von Wissenssammlern oder sogar von den Drachenkaisern diktiert. Es beginnt mit einer detaillierteren Beschreibung der „Bedrohungslage“. Die Jenseitsvölker fühlen sich von der wachsenden militärischen Macht Kalynors in die Ecke gedrängt. Zu recht, willst du meinen. Allein wie sich die Söldner während deiner Lebenszeit weiterentwickelt haben, ist fast unfassbar. Die Armee wurde deutlich ausgebaut und aufgestockt. Einzelne Jenseitslande könntet ihr problemlos überrollen.
Das Problem ist, dass Kalynors Grenzen dann weniger gut bewacht wären. Das ist der Grund, wieso ihr noch nicht in die Offensive gegangen seid. Kalynor liegt umringt von elf Militärmächten. Wenn ihr gerade in einem Land einmarschiert, könntet ihr je nach Angreifer noch einen Gegenkrieg abfangen. Danach hätte jeder Einmarsch leichtes Spiel. Andererseits sind die Sonnlande im Kernreich nahezu uneinnehmbar. Dort könntet ihr auch einer mehrfachen Invasion trotzen. Und bisher war euer Vorteil, dass die Jenseitslande untereinander zu zerstritten waren. Sie konnten euch nicht angreifen, weil jede Partei fürchten musste, in der Zwischenzeit von ihren Nachbarn zerfleischt zu werden.
Dieses Problem haben auch die Jenseitsvölker nun erkannt. Aus dem Dokument geht hervor, dass die Initiative von den Drachen ausging, die im Besitz der meisten Schöpfersteine waren. Statt anzugreifen, beschlossen sie, ein Bündnis anzustreben. Du kannst dir auch denken, wieso. Mit dem Blutjaspis, der Gedanken kontrolliert, dem Tiegerauge mit der Macht über die Zeit und dem Zirkon, der Feuer erschafft, waren einige der mächtigsten Steine unter den anderen Jenseitsvölkern verteilt und hätten die Drachen empfindlich treffen können, hätten sie beschlossen, anzugreifen. Die Drachenkaiser waren nicht stark genug, um gegen alle zu kämpfen. Also haben sie beschlossen, zuerst einmal Kalynor aus dem Weg zu räumen.
Dafür wurde jedem Volk ein Stein übergeben. Die Auflistung im Dokument deckt sich mit dem, was Karja euch erzählt hat.
Leider steht im Vertrag nicht, wo die Steine versteckt sind. Du überlegst trotzdem, ob du das Pergament mitnehmen solltest. Auf den ersten Blick enthält es nicht viel Neues, doch es ist sehr umfassend und beinhaltet unter anderem auch Anweisungen, was beim Verlust von einem oder mehreren Steinen zu tun ist – das könnte für euch sehr wichtig sein!
Aber die Druiden können ziemlich gut in den Raum sehen und der Verlust des Papiers würde auf einen Blick auffallen. Du würdest ein ziemliches Risiko eingehen.
Etwas benommen erwachst du aus einer Art Trance, in der du während des Lesens versunken bist. Du warst so sehr auf das Papier konzentriert, dass du nichts um dich herum wahrgenommen hast.
Jetzt allerdings dringt die Stimme des Kommentators in der Arena zu dir vor:
„Unglaublich! Er hält sich immer noch aufrecht. Was sagst du, Bursche? Bereust du deine Dreistigkeit jetzt? Hm? Ich kann dich nicht hören!“
Gelächter dringt aus der Arena. Das Blut kocht in deine Wangen los. Was auch immer sie Aji antun, es ist offenbar eine Art Folter. Du musst ihn schleunigst befreien. Stattdessen vertrödelst du deine Zeit hier und liest irgendwelche nutzlosen Dokumente! Du hättest dich niemals zu diesem Abstecher aufmachen sollen! Aji ist erst einmal wichtiger als ein dummer Schöpferstein.
Dein Blick gleitet zurück zum Pergament. Solltest du es mitnehmen? Damit dieser Umweg wenigstens nicht völlig sinnlos war?
Du streckst die Hand aus und …
- … nimmst das Papier. Lies weiter in Kapitel 44.
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- … lässt sie wieder sinken und das Papier legen. Lies weiter in Kapitel 45.