Du bist Aji.
Du hast dich beim Thema Frühstück bereits genug gegen deinen Mentor aufgelehnt. Nun ist es vermutlich besser, ihm erst einmal zu folgen. Vermutlich weiß er eh, was er tut, hält es aber nicht für nötig, euch alles zu erklären.
Mit raschen Schritten eilt er nach Westen, den Schimmel am Zügel. Melréds Hufe wirbeln die Tannennadeln auf dem Boden auf.
Arthrax führt Atesh und das Maultier am Zügel. Letzteres lässt sich nur schwer voranziehen und bockt. Der Krieger flucht unterdrückt.
„Kann ich dir helfen?“, bietest du an.
Arthrax zögert, dann reicht er dir die Zügel von Atesh.
„Arthrax!“, zischt Allyster auch sofort, als du den Strick des Kaltbluts übernimmst.
„Atesh ist ganz brav.“ Arthrax klopft dem großen Tier auf den Hals. „Das schafft Aji schon.“
Du platzt fast vor Stolz, dass der Krieger dir sein riesiges Schlachtross anvertraut. Allerdings bemühst du dich, das nicht zu zeigen, sonst verbietet Allyster euch das nochmal mit Nachdruck. So wendet er sich jetzt augenrollend ab und geht nicht weiter darauf ein.
Sobald Arthrax beide Hände frei hat, um das Maultier vorwärts zu ziehen, kommt ihr auch schneller voran. Nach einer Weile bemerkst du einen auffälligen Tannenbaum, dessen Nadeln nicht dunkelgrün, sondern rot wie frisches Blut sind. Der Stamm ist dafür weiß, fast wie Knochen. Erstaunt bleibst du stehen und betrachtest die Pflanze.
„Ah, ich habe mich nicht getäuscht.“ Allyster hält ebenfalls, als er deinen Blick bemerkt. „Blutfichten. Sie wachsen nur tief im Druidenwald. Wir sind also auf dem richtigen Weg.“
„Blutfichten. Unheimlicher Name. Sind sie verflucht?“
„Nein. Der Name wurde von Kalynorern geprägt, die diese Bäume das erste Mal sahen. Bei der Farbe ist es nicht verwunderlich, dass sie so einen düsteren Namen tragen, aber die Bäume sind deswegen jetzt nicht anders als gewöhnliche Pflanzen.“
Du nickst und zieht an Atesh‘ Zügeln, worauf sich das große Pferd wieder in Bewegung setzt. Ihr zieht weiter und bald siehst du immer mehr der Blutfichten auf beiden Seiten eures Weges. Sie überragen die gewöhnlichen Tannen zunehmend um etwa ein Viertel, und die Stämme sind bei den offenbar ausgewachsenen Exemplaren auch ein Stückchen breiter. Graue Verwirbelungen auf ihren Stämmen erinnern an Gesichter.
„Ich hab‘ ja gehört, dass die Druiden ihre Feinde in die Stämme lebender Bäume einschließen, wo diese vom Baum selbst am Leben erhalten werden und so lange leiden, bis der Baum gefällt wird“, sagt Arthrax. „Und dass diese Bäume dann blutrote Nadeln kriegen, vom Lebenssaft der Toten genährt.“
Erschaudernd siehst du dich um. Es sind beinahe zwanzig Blutfichten in eurer Nähe.
„Unsinn!“, sagt Allyster unwirsch. „Das ist einfach eine Variante der Pflanzen, so wie die blauen Birken in den Elfenwäldern. Erzähl dem Jungen nicht solche Schauermärchen.“
„Sind dann die anderen Geschichten über die Druiden auch nur Schauermärchen?“, fragt Arthrax lauernd.
Dein Mentor seufzt und schweigt einen Moment, ehe er langsam antwortet: „Mit Sicherheit nicht alle, aber ein paar werden darunter sein. An der Akademie wurde nur wenig über die Magie der Druiden gelehrt. Es ist eine schwarze Kunst, die ihre Kraft aus Blutopfern zieht. Die Druiden verehren eine Vielzahl an Göttern, die sie in den Pflanzen und Tieren der Wälder zu erkennen glauben. Es gibt beispielsweise den Kriegsgott in Gestalt eines Bären, den weißen Hirsch des Friedens, einige Blumen- und Beerenmädchen … Um mit ihren Göttern zu kommunizieren, verzehren sie irgendwelche Pilze und Kräuter, und aus diesen Visionen schließen sie, dass sie ihre Macht von diesen Kreaturen geschenkt bekommen, während Magie doch eigentlich eine erlernbare Kunst wie das Stricken ist, nur sehr viel komplexer.“ Allyster atmet tief durch. „Dieses Jenseitsvolk bildet sich aber ein, dass sie ihre Macht erkaufen können. Sie glauben, mit jedem Opfer, das sie dem Wald darbringen, werden sie mächtiger, und der Zufall scheint sie oft genug zu bestätigen, dass sie die Wahrheit nicht erkennen.“
„Aber sie beherrschen Magie, obwohl sie dieses ganze Formelzeug nicht können? Sprechen sie überhaupt die Sprache?“
Allyster sieht dich an. „Macht dir keine Hoffnungen, Aji. Das ist wilde und dunkle Magie, höchst gefährlich. Du wirst die Magie auf die traditionelle Art lernen.“
„Ja“, murrst du. Hoffnungen hast du dir nicht gerade gemacht, aber jetzt, wo Allyster es anspricht, gefällt dir die Vorstellung, all die komplizierten Beschwörungen und die Grammatik zu überspringen. Du musst ja nicht gleich mit Blutopfern anfangen! Aber wenn es eine Alternative gibt, wäre das doch mal interessant.
„Aber ja, sie können zaubern“, beantwortet Allyster den eigentlichen Kern deiner Frage. „Deswegen sollten wir vorsichtig sein. Ihre Macht beruht auf Illusionen und sie können auch eine Art Anziehungskraft erwecken, die euch zu tödlicher Gefahr ruft. Falls ihr also plötzlich das unerklärliche Bedürfnis habt, von einer Klippe zu springen, sagt Bescheid – dann ist einer dieser Mistkerle in der Nähe.“
„Einer dieser Mistkerle?“, erklingt plötzlich eine Stimme irgendwo neben dir. „Habt ihr das gehört? Der alte Narr denkt, wir würden einzeln angreifen.“
Erschrocken drängt ihr euch zusammen. Allyster murmelt ein Wort und eine Flamme erscheint auf seiner Handfläche. Arthrax zieht seine Kriegsaxt.
Ihr hört Gelächter um euch her, doch erkennen könnt ihr nur die Schatten unter blauschwarzen und roten Tannen. Es ist niemand zu sehen, dabei sind euch die Stimmen so nah …
Dann flimmert die Luft plötzlich und ein ganzer Trupp menschenähnlicher Wesen erscheint um euch herum.
Die Druiden haben eine Haut wie Rinde und tragen lange, fließende Gewänder, die oft von einem Gürtel voller Beutel und Fläschchen gehalten werden. Ihre Augen sind stahlgrau und statt Fingern gehen ihre Hände in zweigartige Klauen über. Sie manifestieren sich wie Geister um euch herum. Zwar richten sie keine Waffen auf euch, doch du spürst das Prickeln magischer Fesseln in der Luft.
Allyster umklammert deine Schulter und schiebt dich hinter sich.
„Also, Kalynorer“, beginnt einer der Druiden. „Ihr habt unser Portal genutzt und dachtet, das würde uns nicht auffallen.“
„Und nun ist euer Plan was? Einfach ins Herz des Waldes zu marschieren?“
Hämisches Gelächter quittiert die Aussage des zweiten Druiden. Du siehst, wie die Gruppe die Reihen um euch schließt. Es sind bestimmt fünfzig. Die Luft fühlt sich so dick an, dass du kaum atmen kannst.
Allyster dreht sich um und wirft euch einen langen, traurigen Blick zu. „Es tut mir leid“, murmelt er leise.
Kälte kriecht deinen Rücken herauf.
„Nun? Wollt ihr uns nicht antworten?“, fragt ein dritter Druide ungeduldig.
„Nein“, antwortet Allyster, dann springt er vor. Er ruft Worte in der Alten Sprache und blaue Flammen schießen auf die Druiden zu. Die knurren wütend, dann reißen sie ihrerseits die Arme hoch. Dünne, dunkelrote Wurzeln erheben sich wie Schlangen aus dem Boden und jagen auf Allyster zu.
Du …
- … springst vor und schreist: „Nein! Meister Allyster!“ Lies weiter in Kapitel 8.
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- … bleibst wie vom Donner gerührt stehen. Lies weiter in Kapitel 9.