Fei
Das Buch rutschte mir aus der Hand. Geschockt starrte ich auf die Seiten, die feinsäuberlich mit Tinte in einer geschwungenen Handschrift mit vielen Schnörkeln beschrieben waren. Schnell hob ich es wieder auf und las die Passage noch einmal.
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Das Mädchen aus dem reichem Hause,
verhüllt sich, im Palast zuhause.
Ein Junge, eine reine Seele
wird beschmutzt durch des Vaters Befehle.
Durch das Schicksal auf ewig gebunden,
und doch, durch ihre Anwesenheit geschunden.
Unsere Zukunft baut auf sie auf,
ein neuer Anfang
oder
unser Ende.
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Ich las diese Prophezeiung abermals, doch vergebens - ich hatte mich nicht verlesen.
Es könnte sein, dass die Prophezeiung totaler Quatsch ist, oder? Vielleicht hat eine Person sie nur erfunden und hat es in dieses Buch geschrieben. Vielleicht war es gar nicht das Orakel von Delphi, das es prophezeit hat. Das Orakel kann doch sicherlich besser reimen, oder? Ich meine, sie ist das Orakel von Delphi, da kann man doch erwarten, dass sie dichten kann! Selbst wenn es so wäre, dass die Prophezeiung von ihr stammt; wer hat gesagt, dass ich dieses Mädchen bin? Es gibt hier in Alésia viele Paläste und viele blaublütige Mädchen, die sich verhüllen oder es spielt in einer ganz anderen Zeit, es könnte doch auch erst in 100 Jahren passieren - nicht jetzt. Ja, so ist es, dieses Mädchen in der Prophezeiung bin nicht ich.
»Fei, die an einem Sonntagmorgen in der Bibliothek sitzt, leider kein seltener Anblick.«
Ich schreckte hoch und sah wen? Vor mir stand mein großer Bruder Nathaniel, der mich breit angrinste.
»Ich muss jedoch sagen, dass die allerwenigsten Personen sich freiwillig an einem Sonntag um gerade mal neun Uhr in eine Bibliothek begeben würden. Du bist mal wieder eine Ausnahme, Schwesterherz.«
Ich seufzte und legte das Buch zur Seite. Da dachte ich mal, dass ich meine Ruhe bekommen würde, denn mein Bruder war einer der Personen, die nie im Leben freiwillig in eine Bibliothek gehen würden. Leider täuschte ich mich, manchmal schien es so, als wäre es seine Lebensaufgabe mich zu nerven.
»Was machst du hier?«
Nath zog eine Schnute.
»Darf ich nicht mal meine kleine Schwester suchen gehen? Ich habe dich vermisst.«
Ich konnte es mir nicht verkneifen meine Augen zu verdrehehn, doch er konnte es sowieso nicht sehen.
»Und jetzt den wahren Grund bitte.«
»Schade, einen Versuch war es wert.«
Er grinste mich wieder breit an und seine Augen funkelten schelmisch.
»Ich habe etwas vom Arzt gehört...«
Hach, lasst die Dramen beginnen!
»Warum hast du mir nichts gesagt? Ich bin dein Lieblingsbruder!«
»Ich habe auch nur einen Bruder.«
Böse starrte er mich an, bevor er wieder anfing die Dramaqueen zu spielen.
»Das spielt keine Rolle! Du hättest es mir sagen müssen! Du bist meine kleine Schwester und du hast es mir verschwiegen! Ich bin enttäuscht von dir! Wie soll das mit unsere Beziehung nur weitergehen? Ich glaube, dass ich mit dir Schluss machen muss; ab jetzt bist du nicht mehr meine Schwester!«
»Fertig?« Um meine Aussage noch einmal zu unterstreichen, gähnte ich herzhaft.
Nath grinste mich freudig an.
»Ja! Kommst du jetzt ku-urz mi-it?«
Er mag zwar 20 Jahre alt sein, doch mental war er leider sehr oft noch ein Kleinkind. Und der sollte der zukünftige König sein... Manchmal fühlte ich mich in diesem Haushalt wie die Mutter von zwei kleinen Kindern.
Seufzend stand ich auf.
»Wohin geht es diesmal? Ich komme nicht mehr mit zum See, damit du mich wieder mit Wasser vollspritzen kannst.«
Natürlich ignorierte er mich nur und ging einfach los. Naja, wenigstens lief er für mich extra langsam.
Nach einiger Zeit blieben wir vor meinem Zimmer stehen.
»Was machen wir jetzt vor meinem Zimmer?« Nath legte nur einen Finger auf seine Lippen und deutete mit dem Kopf zu der Tür. So blieb ich stehen und wollte schon in mein Zimmer gehen, bis ich es hörte. Ein kleines Mädchen, das weinte. Nach einigen Sekunden hörte ich schon eine Frau rumschreien:»Sei mal leise, du verdammte Göre! Hör auf so zu lärmen, das ist ja unerträglich!« Meine Augen weiteten sich und das Mädchen weinte noch lauter. Ich hörte ein Klatschen und das wurde mir zu viel.
Ich riss die Tür auf und sah meine kleine Schwester, die mit gespreizten Beinen in der Mitte meines Zimmers saß. Vor ihr stand ihr Kindermädchen und schaute erschrocken zu mir rüber.
»Eure Hoheit, i-ich kann das er-erklären«, stammelte sie, doch ich ignorierte es und lief direkt zu Meiling und hob meine Schwester hoch, die sich sofort an mich klammerte und den ultramarinblauen Stoff meines Kleides mit ihren Tränen durchnässte.
»Alles ist gut, Kleines, ich bin ja jetzt bei dir. Schsch, beruhige dich.« Ich wand mich dem Kindermädchen zu.
»Raus, jetzt sofort«, befahl ich ihr mit ruhiger Stimme und sie verzog sich augenblicklich.
Schlaue Frau.
Ich wand mich wieder der Kleinen zu.
»Hat sie dir wehgetan? Was ist passiert?«
Sie schluchzte nur weiter und zum ersten Mal meldete sich Nath zu Wort.
»Dein Liebling wollte nicht im Zimmer bleiben, sondern dich suchen gehen, doch das Kindermädchen ließ sie nicht gehen, woraufhin sie anfing zu weinen. Keine Sorge, das Klatschen stammt vom Tisch. Clarissa haut gerne mal drauf, um für Ruhe zu sorgen. Leider klappt das nicht so, wie sie sich das vorstellt. «
Ich drehte mich zu ihm um. Da stand er, so unsicher in Türrahmen und sah so aus, als würde er sich am liebsten verkriechen.
»Du wusstest also davon?«
Er schluckte, das hieß dann wohl ja.
»Wie lange läuft das schon so?«
»Ein Jahr...«, antwortete er leise.
»Tut mir Leid, ich habe es nicht gehört, kannst du es bitte wiederholen?«
Er senkte seinen Blick und starrte auf den Boden.
»Seit einem Jahr«, antwortete er nun etwas lauter.
»Und du bist nie auf die Idee gekommen, es mir zu sagen?«
Ich hob eine Augenbraue. Er konnte es zwar nicht sehen, aber das war mir nun wirklich egal.
Er schluckte noch einmal.
»Es ist nie etwas passiert, Meiling hat höchstens ein bisschen geweint.«
»Definiere bitte ein bisschen.«
»Höchstens zehn Minuten!«, beteuerte er.
Tzz, Anfänger! Zehn Minuten weinen - ein bisschen! Meine arme, kleine Lingling! Sie war doch erst zwei Jahre alt und das lief schon seit einem Jahr...
Ich blieb extra still.
»Ähm, Fei..? Warum bist du so still?«
Der Arme, fürchtete sich vor seiner kleinen Schwester, nur weil sie gerade nichts sagte - wie putzig!
Obwohl... Ich redete ja sowieso nie.
»Du musst dich mal sehen, wie ein kleiner Junge, der etwas verbrochen hat und nun auf seine Strafe wartet, putzig. Komm rein.«
Er trottete wie ein begossener Pudel in mein Zimmer, den Blick weiterhin gesenkt.
»Kannst du nun bitte im normalem Tonfall mit mir reden? Du hörst dich so kalt und ruhig an. Warum bist du noch nicht ausgerastet? Wenn ich ehrlich bin, wäre mir das sogar lieber... So kenne ich dich gar nicht...« Unsicher trat er von dem einen Bein auf das Andere.
»Sollte ich denn nicht normal mit dir reden, sondern ausrasten? Ist es denn nicht besser ruhig zu bleiben? Nach dem Motto >Keep calm and hug a panda Also, ich bleibe in so einer Situation lieber ruhig und kalt, als aufbrausend und laut. Früher war ich vielleicht mal so, doch jeder verändert sich im Laufe der Zeit und auch ich habe mich verändert. Kommen wir zurück zum Thema: Du hast meine Kleine ein Jahr lang leiden
lassen. Und du meintest, dass ich nicht mehr deine Schwester wäre, weil ich dir 20 Stunden lang etwas verschwiegen habe. Was willst du nun zu deiner Verteidigung sagen?«
»Clarissa hat höchstens jeden zweiten Tag rumgeschrien! Da musst du dich doch nicht so anstellen! Außerdem hatte ich meine Gründe!«
»Soso... Ich soll mich also nicht so anstellen. Nur zehn Minuten, jeden zweiten Tag. Und natürlich hattest du auch deine Gründe.«
»Genau!« Er schaute wieder hoch und nickte wie wild.
»Schade nur, dass ich kein Verständnis für sowas habe.« Sofort hielt er wieder still. Wie süß Nath sein konnte! Wie gesagt, manchmal war ich halt der Boss hier im Haushalt und er leider nur das Kleinkind.
»Merk dir eins, Nath. Niemand, wirklich niemand tut meinem Yimiang weh und sollte das doch passieren, sollte sich diese Person auf etwas gefasst machen.«
Er machte schon Anstalten, sich umzudrehen.
Tzz, und ich dachte, dass er mich besser kannte.
»Ah, ah, ah, schön hier geblieben, mein kleiner Bengel. Du musst doch noch angemessen bestraft werden. Wie soll deine Bestrafung aussehen? Hm... Ich hab's! Ich lass dich wieder bei den Gerichtsverhandlungen, den gemeinsamen Mahlen, den Ratssitzungen und den Gerichtstagen beiwohnen! Ich konnte Vater überzeugen, dich in Frieden zu lassen, da kann ich ihn wohl auch wieder dazu umstimmen, dich wieder darin zu integrieren. Du musst sowieso langsam lernen, wie man sich als König verhält.«
»Bitte Fei! Alles nur nicht das! Du weißt, dass Vaters Ansprüche seit... es viel zu hoch sind. «
Jemand lief an meiner offenen Zimmertür vorbei und ich erkannte sofort, wer es war. Langsam formte sich eine kleine Idee in meinem Kopf.
»Berater Li! Wären Sie so nett und würden Sie sich kurz in mein Zimmer begeben?«
Verwirrt trat er ein und verbeugte sich kurz.
»Eure Hoheit, wie kann ich Ihnen behilflich sein?«
Der Typ wirkte sichtlich verwirrt. Am Vortag sagte ich noch zu ihm, dass ich nichts mehr mit ihn zu tun haben wollte und jetzt rief ich ihn in mein Zimmer. Naja, es war halt wichtig.
»Die Arbeit als königlicher Berater und Stratege ist doch sicherlich anstrengend, oder? Besonders in der Menschenwelt, wenn Sie in die Schule gehen und dort alles erledigen müssen.«
»Ihr habt Recht, Eure Hoheit, die Arbeit kann manchmal ziemlich ermüdent sein, besonders bei den Menschen.«
Berater Li runzelte die Stirn und guckte kurz nach rechts, wo er dann auch Nath entdeckte.
Berater Li verbeugte sich hastig.
»Entschuldigt mich, Euer Hoheit, ich habe Euch nicht gesehen.«
Nath winkte nur ab und guckte mich weiterhin an. Wahrscheinlich fragte er sich, worauf ich denn hinaus wollte, genauso wie Berater Li, der jetzt wieder mich betrachtete, oder eher gesagt Meiling, die mittlerweile aufgehört hat zu weinen und uns interessiert zuhörte.
Anscheinend sah er ihre geschwollenen Augen, denn er drehte sich erschrocken zu Nath um.
»Was habt Ihr getan? Ihr müsst doch wissen, dass Ihre Hoheit Euch töten werdet!«
»Nah dran, Berater Li. Noch so eine Aktion von meinem Brüderchen und er wird leiden, doch diesmal wir er nur mit einer geringen Strafe davon kommen. Ab jetzt haben Sie für drei Monate meinen Bruder als Gehilfen zur Verfügung. Machen Sie mit ihm, was Sie wollen, Sie haben meine volle Erlaubnis dazu. Ich werde das noch heute Abend mit meinem Vater klären und Nath wird dann spätestens am Dienstag Ihnen zur Verfügung stehen. Das heißt natürlich auch, dass er mit zur Schule geht, um auch dort Ihnen behilflich zu sein.«
»Ab-«
»Kein Aber, Brüderchen, meine Kleine musste ein Jahr lang leiden, deine Strafe hätte schlimmer aussehen müssen, doch ich habe Erbarmen. Du wirst auch nicht vor Vater protestieren, wenn er dich nach deiner Meinung fragt.«
Berater Li stand einfach nur da und guckte uns an.
»Also... Sie sind damit einverstanden?«
»Ja, Eure Hoheit. Ich fühle mich geehrt.«
Ich nickte.
»Sollten Sie nicht, mein Bruder ist ziemlich inkompetent.«
»Hey! I-«
»Ich bitte um Ruhe auf den billigen Plätzen!«
»Ja, Eure Hoheit.«
Nath gab auf, ein gutes Zeichen und er nannte mich >Eure Hoheit< - ein noch besseres Zeichen.
»Ich erwarte von Ihnen, dass sie mindestens ein Mal in der Woche herkommen und Bericht erstatten. Nath wird sich mit ihnen um die Unterlagen kümmern und beim Haushalt helfen.«
»Jawohl, Eure Hoheit.«
»Danke für Ihre Kooperation, Berater Li. Ich werde heute Abend Alles mit meinem Vater klären und Nath wird dann spätestens am Dienstag bei Ihnen eintreffen. Sie sind nun entlassen.«
Ein letztes Mal verbeugte er sich und verschwand dann aus dem Zimmer.
Nath drehte sich zu mir um. »Das kannst du doch nicht machen! Bitte, Fei, ich habe aus meinem Fehler gelernt!« Er sah mich bittend an.
»Das habe ich auch vor zehn Jahren gesagt und dann? Ich habe nicht aus meinem Fehler gelernt. Diesmal werde ich kein Risiko eingehen, nicht noch eimmal. Meine Antwort: Doch, ich kann das machen und ich werde es durchziehen. Geh jetzt bitte aus meinem Zimmer.«
Er tat , wie gehießen, doch bevor er die Tür hinter sich schloss, drehte er sich noch mal zu mir um.
»Ich wünschte, du hättest mir zugehört und versucht, meine Beweggründe zu verstehen.« Die Tür fiel knallend ins Schloss.
Nun stand ich allein mit meiner Schwester in meinem Zimmer und konnte die Tränen freien Lauf lassen.
Es tut mir Leid, Nath, doch ich muss dafür sorgen, dass du aus deinen Fehlern lernst und sowas wie vor zweieinhalb Jahren nicht wiederholt wird. Ich sagte, dass dieser Fehler mir nie wieder unterlaufen würde, doch es ist passiert, ich habe den Fehler noch mal begangen und die Folgen waren schlimmer als die davor...
Doch langsam beschlichen mich die Zweifel, ob ich nicht doch zu hart zu ihm war. Vielleicht hätte ich ihm besser zuhören sollen...