Als ich aufwache stelle ich erschrocken fest, dass ich auf Damons Schulter eingeschlafen bin. Sofort richte ich mich auf. Kurz sehe ich ihn an, aber er sieht nach draußen, sein Kopf auf seine Hand gestützt. Er hört immernoch meine Musik, während mir mein Hörer schon lange aus dem Ohr gefallen sein muss. Ich blinzle ein paar mal und fange dieses ästhetische Bild ein. Es hat schon etwas. Ich zwinge mich, woanders hinzusehen. Bloß nicht zu lange starren, Jessie.
Bei einem Blick aus dem Fenster sehe ich, dass wir gerade in die Straße einfahren, in der Lisa wohnt. Ich reibe meine Augen und sehe zu dem jungen Mädchen neben mir. Unwillkürlich ziehen sich meine Mundwinkel zu einem Lächeln, und ich kann nicht anders als meiner Freundin einen sanften Kuss auf den Kopf zu geben. Sie ist so süß.
Ich verschränke meine Finger mit ihren, was sie aufzuwecken scheint. Sie blickt mit ihren glänzenden Augen zu mir auf. Kurz sehen wir uns an, als sie ihr Kinn in meine Richtung hält, und ich mit einem Kuss erwidere.
Der Wagen hält an, und alle steigen aus. Maria wurde von Martina bereits nach Hause gebracht, also sind nur noch wir vier ürbig. Wir treffen uns auf der Beifahrerseite des Autos, Lisa vor mir in meinen Armen. Ich küsse sie auf den Hals, worauf sie kichert und etwas einknickt. Ich lächle amüsiert. Als Damon dazu kommt scheint er irgendwie traurig zu sein, aber vielleicht ist er auch einfach müde.
"Damon, soll ich dich nicht noch nach Hause bringen? Es ist ziemlich spät, nicht, dass dir noch was passiert.", fragt Martina, während sie mit ihren Autoschlüsseln spielend zum Kofferraum geht. Gemeinsam hieven sie Lisas Koffer aus dem Auto, und Lisa und ich nehmen diese an.
"Nein passt schon,“, antwortet er dann, „aber danke. Ich geh dann mal." Er winkt einmal kurz in die Runde, wirft mir einen Blick zu und setzt zum Gehen an. Lisa löst sich von mir und rennt ihm hinterher.
"Hey warte! Warte Damon!" Sie hält ihn an seinem Handgelenk fest. Er dreht sich schnell um. "Du musst mir schon richtig tschüß sagen, okay?" Und dann gibt sie ihm eine herzhafte Umarmung. Ich muss lächeln. Sie hat sich kaum geändert. Sie ist immer noch das süße kleine Mädchen, dass so fürsorglich ist, dass es fast weh tut. Schließlich nähere ich mich auch den beiden und Damon drückt Lisa sanft von sich weg. Man kann sogar ein leichtes Lächeln auf seinen Lippen erkennen. Trotzdem kann ich nicht aufhören daran zu denken ob Maria nicht doch Recht damit hatte dass er…
"Alles klar.", sagt er schließlich und sieht zu mir. Ich erwidere den Blick, halte ihm stand. Er sieht wirklich irgendwie gebrochen aus.
„Ach jetzt kommt schon“, unterbricht Lisa die Stille. „Umarmt euch endlich!“
Ich sehe zu Lisa und lache leicht verzweifelt. Das kommt Damon bestimmt gerade recht. Ich sehe zu Damon, und er scheint nichts gegen diesen Vorschlag zu haben. Gott, ist mir das unangenehm. Aber ehe ich mich versehe liegen seine Arme schon um mir und ich muss die Umarmung wohl oder übel erwidern. Flüchtig lege ich meine Arme um seinen Körper, um mich kurz darauf schnell von ihm zu lösen. Ich wende meinen Blick von ihm ab, sehe Lisa an, ziehe sie zu mir und lege einen Arm um ihre Schulter. Irgendwie muss ich Damon klar machen, dass er sich bloß fern von ihr halten soll und ich sie mit allen Mitteln beschützen muss. Aber ich wage zu bezweifeln, dass er das verstehen wird. Ich muss sie wirklich fern von ihm halten. Wieder beginne ich, mich in ihrem Anblick zu verlieren. Gott, ich bin so verknallt. Ich spüre, wie ich rot und nervös werde.
"Also dann.", sagt er. Aus meiner Trance geweckt sehe ich zu ihm.
"Jo." Ich nicke kurz und gebe eine Handbewegung zum Abschied. "Wir sehen uns dann Montag."
Er wendet sich ab und verschwindet in der Dunkelheit. Lisa und ich gehen mit Martina und den Koffern im Schlepptau ins Haus.
Ich helfe, alles mit nach oben zu bringen und Lisas Bett nochmal neu aufzuschlagen. Bald schon kuscheln wir uns unter die Decke und betrachten die Dunkelheit. Fest halte ich sie in meinen Armen.
„Ich habe dich mehr vermisst, als ich gedacht hatte“, bringe ich schließlich heraus. Ihr Körper zuckt kurz von ihrem leichten Lachen.
„Du hast mir auch sehr gefehlt“, gibt sie zu. Das macht mich glücklich. „Ich bin froh, wieder bei dir zu sein.“
Ich drücke sie kurz an mich. Verdammt, ich bin so glücklich, sie wieder bei mir zu haben. Bei ihr fühle ich mich zum ersten Mal seit Wochen endlich sicher, geborgen, verstanden. Keine Maria, die meine Homosexualität zu ignorieren scheint, kein Damon, der meinem Hals hinterhersabbert. Einfach nur Lisa, die mich für das liebt was ich bin. Wie lange habe ich mich nicht so akzeptiert gefühlt. Ich schließe meine Augen.
„Lisa?“, frage ich vorsichtig in die Stille hinein.
„Ja?“, gibt sie genauso leise zurück.
„Ich liebe dich.“
Lisa dreht sich in meinen Armen um, sodass wir uns nun ganz nah sind, und sieht mir in die Augen.
„Ich liebe dich auch, Jessie“, sagt sie und küsst mich. Ich drücke sie fester an mich und verharre in diesem Moment.
Dann löst sie sich von mir und gähnt laut. Ich lache.
„Wie lange warst du unterwegs?“, frage ich und versuche ein lauteres Lachen zu unterdrücken. Lächelnd schüttelt sie den Kopf.
„Zu lange.“
"Wie wärs, wenn wir beide dann erst mal schlafen?" Sie nickt, dreht sich um und kuschelt sich an mich.
Über das Wochenende bleibe ich bei Lisa. Sie ist die ganze Zeit ziemlich verschlafen, aber am Ende vom Sonntag ist sie schon wieder ziemlich fit. Der Jetlack hat sie echt erwischt. Eine Freundin aus ihrer Stufe bringt ihr das Zeug vorbei, das sie in ihrer Abwesenheit verpasst hat und ich helfe ihr dabei, alles nachzuholen. Wirklich darauf konzentrieren tun wir uns aber nicht, größtenteils sitzen wir nur da, zocken, hören Musik, unterhalten uns über Neuseeland während sie mir Fotos zeigt und Geschichten erzählt, oder genießen einfach nur unser Beisammensein. Maria kommt auch vorbei und sieht nach dem Rechten. Wir kochen zusammen, wober sie ununterbrochen redet und auch von Damon erzählt, was mir so gar nicht gefällt. Seltsamerweise lässt sie den Fakt aus, dass sie ihn und mich verkuppeln wollte. Irgendwie stört mich das, aber ich will es Lisa gegenüber auch nicht erwähnen. Sie soll nicht auf falsche Gedanken kommen. Vielleicht denkt Maria das auch? Lisa zeigt sich trotzdem interessiert, und so geht das Wochenende auch schon vorbei. Von Damon habe ich in der Zeit nichts gehört, aber das kann mir auch ziemlich egal sein. In der Nacht von Sonntag auf Montag schlafe ich Zuhause. Am nächsten Morgen treffe ich Lisa an der Bushaltestelle der Schule. Sie hat auf mich gewartet. Wir küssen uns und gehen Hand in Hand zu meinem Spind, bei dem auch schon Maria steht. Irgendwie habe ich das Gefühl dass ich die einzige von uns dreien bin die ihren Spind wirklich benutzt.
Jedenfalls trennen wir uns dann und gehen in den Unterricht. Damon setzt sich neben mich. Ich seufze. Es ist also wieder alles beim alten. Seine Anwesenheit zieht meine Laune um einiges runter. Er lehnt sich zu mir rüber.
"Ich warte später auf dich hinter der Schule. Du weißt was passiert wenn du nicht kommst." Ich habe ihn verstanden. Aber reagieren werde ich trotzdem nicht. Gezwungenermaßen arbeite ich mit ihm in der Gruppenarbeit zusammen. Es ist ertragbar. Als ich den Raum zur Pause verlasse, bemerke ich nach einer Weile, dass er mir eindeutig hinterher läuft. Und das ist definitiv kein Zufall.
Ich drehe mich um und gehe für ein paar Schritte rückwärts. "Damon?"
"Was?"
"Du kannst aufhören mich zu verfolgen, danke." Ich drehe mich wieder um und gehe weiter zu Lisas Raum.
"Ich verfolge dich nicht. Du rennst vor mir weg." Er holt mich ein und geht neben mir.
"Hey ihr zwei!" Maria erwischt uns und hakt sich bei mir ein. "Wohin geht's?"
"Ich wollte Lisa bei ihrem Raum abholen."
"Alles klar, bin dabei!" Ich lächele leicht. Wenigstens sie hat gute Laune.
Lisa läuft mir entgegen und schließt mich in ihre Arme. Ich löse mich aus Marias Griff und erwidere die Umarmung.
"Wie war der Unterricht?", frage ich sie als wir uns wieder voneinander gelöst haben, lege meinen Arm um ihre Schulter und gemeinsam gehen wir los – Damon und Maria im Hintergrund. Verdammt, es tut gut mich nicht mit ihm unterhalten zu müssen.
"Ach ganz gut, ich habe zwar noch nichts verstanden, aber das wird bald denke ich."
"Alles klar."
"Jes? Ich habe Hunger. Gehen wir in die Cafe?"
"Na klar." Ich lenke uns in Richtung Cafeteria. In der Cafe angekommen holt Lisa sich etwas zu essen. Damon und ich warten an einer Wand und warten. Maria hat ein paar ihrer anderen Freunde getroffen und unterhält sich mit ihnen. Ich hasse es wenn sie das tut.
"'Jes' also, ja?" Ich drehe mich zu Damon.
"Ja…? Problem damit?"
„Nein“, antwortet er schließlich nach einer kurzen Überlegung. „Ist nur gut zu wissen.“ Ich habe kein gutes Gefühl dabei.
Lisa quetscht sich gerade aus der Menschenmenge heraus und hält ein belegtes Croissant in der Hand. Sofort komme ich ihr entgegen.
„Wollen wir nach draußen?“, frage ich sie, während ich der überladenen Lisa ein paar Sachen abnehme.
„Ja, gerne“, Lisa beginnt, sich hastig zu sortieren. „Hier ist es viel zu voll. Ich kann ja kaum atmen.“
Sie nimmt ihre Sachen zurück, und gemeinsam gehen wir nach draußen. Wohl oder übel folgt uns Damon.
Während wir durch den Park gehen, unterhält sich Lisa Croissant-mampfend mit Damon, während ich der Konversation zuhören muss. Wenigstens kann ich ihre Hand halten. Das ist ein sehr schlechter Kompromiss, fällt mir ein. Aber wenn ich Lisa dabei zusehe, wie sie sich so lebhaft mit Damon unterhält, denke ich mir, ich kann das schon ertragen. Zur Hölle, ich würde alles für dieses Mädchen tun. Nach einer Weile entdeckt Lisa auch ihre Freunde, die sie wohl heute zum ersten mal trifft, und verabschiedet sich von mir. Etwas sehnsüchtig sehe ich ihr hinterher.
Als Damon etwas sagen will, unterbreche ich ihn bevor er die Chance dazu hat. „Wir sehen uns nach der Schule“, sage ich nur und gehe damit genervt in die andere Richtung.
In den nächsten Pausen versuche ich Damon so gut es geht zu ignorieren und aus dem Weg zu gehen. Ich will meine Zeit mit Lisa genießen. Nach jeder Stunde gehe ich so schnell es geht zu Lisas Raum um sie abzuholen. Nicht nur, dass ich bei ihr sein möchte, aber es ist auch ein guter Weg um sicher zu gehen, dass Damon nicht bei ihr ist.
"Jes, wollen wir nicht in den Park gehen?", fragt Lisa, als sie gerade meine Hand genommen hat und wir losgehen. "Ich habe mich ja jetzt mit meinen Freunden gut genug ausgetauscht, weißt du…"
Dass sie mit dem Park ankommt erinnert mich daran, wie wir uns das erste Mal geküsst haben. Wir waren so nervös.
Es war die letzte Woche vor den Sommerferien, und gerade hatte ich nach Ermutigung von Lisa meine Haare kurz geschnitten. Mir gefiel die Kurzhaarfrisur nicht so gut, aber Lisa meinte, es würde mir wunderbar stehen. Zu dem Zeitpunkt waren wir schon zwei Wochen offiziell zusammen, und es hatte sich schon in beiden unserer Stufen herumgesprochen. Dann hörte man so Sätze wie "Seid ihr beide jetzt so wirklich zusammen?" oder "Also bei dir hätte ich mir das schon denken können, aber Lisa? Voll witzig irgendwie." Ich wollte daraus nie eine so große Sache machen, und um ehrlich zu sein war es mir auch unangenehm. Maria hatte das auch sehr verwundert, aber auch sie erzählte mir, dass Lisa und ich schon ab und zu mal Gesprächsthema waren.
Jedenfalls fanden wir im Park immer einen guten Rückzugsort vor all den Menschen, vor all den Blicken. Ich war noch sehr unsicher zu der Zeit. Wir gingen sehr oft in den Park.
Und an diesem Tag in der letzten Woche vor den Sommerferien wusste ich, dass eine ganz besondere Stimmung in der Luft stand. Wir standen da an dieser Mauer und unterhielten uns. Ich sah mich um, genoss die helle Sonne in meinem Gesicht zusammen mit dem angenehmen Gespräch mit meiner Freundin. Meiner festen Freundin. Als mir dieser Gedanke durch den Kopf schoss, wollte ich sie bei mir haben, also nahm ich sanft ihr Handgelenk und zog sie zu mir. Sie war zwar überrascht, reagierte dennoch gekonnt darauf und stand nun direkt vor mir. Ich sah ihr in die Augen.
Und ohne weitere Umschweife lagen ihre Hände an meinem Hals, zogen mich zu ihr runter, und da war es auch schon geschehen. Sie hatte mir erzählt, dass sie schon ein paar Beziehungen vor mir gehabt hatte, und daher wusste ich auch, dass sie schon den ersten Kuss hinter sich hatte. Aber ich damals, mit meinen fünfzehn Jahren, hatte noch nie jemanden geküsst. Es war mir ehrlich gesagt auch etwas peinlich, sie war ein Jahr jünger als ich und hatte schon so viel Erfahrung. Allerdings fiel es mir auch schwerer jemanden zu finden, schließlich kannte ich keine, die genauso für Mädchen empfand wie ich. Lisa hatte es da mit ihrer Bisexualität etwas einfacher.
Als wir uns voneinander lösten war ich sehr schockiert und war bestimmt komplett rot angelaufen. Lisa lachte schüchtern, und ich sah verlegen weg. Ich war so froh, als es mir danach trotzdem noch leicht fiel mit ihr zu reden. Sie erzählte mir dann auch, dass es ihr erstes mal mit einem Mädchen war, und es sich mit mir bis dato auch am richtigsten angefühlt hatte. Das gab mir ein gutes Gefühl. Allerdings war sie es trotzdem in den nächsten Wochen immer, die zum Küssen ansetzte. Ich tat mich immernoch schwer damit. Das hat sich im laufe des Jahres, in dem wir zusammen waren, natürlich geändert. Jetzt gehe ich auch endlich mal auch sie zu.
Unwillkürlich lächele ich bei diesem Gedanken.
"Was ist?", fragt Lisa sofort, nachdem sie mein Lächeln sieht. Ich sehe zu ihr hinunter.
"Ich musste gerade einfach an unseren ersten Kuss denken", erwidere ich.
"Achso." Auch sie lächelt jetzt.
"Okay, gehen wir in den Park", sage ich dann und ziehe sie zügig aus dem Gebäude heraus.
Als wir an der Wand ankommen, an der Wand, lege ich meinen Rucksack auf den Boden, lehne mich gegen die Wand, ziehe meine Freundin sanft zu mir und küsse sie.
"Du verstehst mich", lächelt Lisa, als wir uns kurz lösen, worauf sie mich auf Zehenspitzen stehend sofort wieder zu sich hinunter zieht.
Erst, als die Pausenglocke ertönt, bin ich bereit, sie loszulassen. Verliebt sieht sie mir in die Augen, legt ihre Hand an meine Wange und bewegt ihren Daumen leicht hin und her.
"Sehen wir uns nach der Schule?", fragt sie.
Scheiße. Ich kann nach der Schule nicht. Wenn ich Damon noch einmal hängen weiß Gott was er tun wird. Ich kann das nicht riskieren. Besonders, wenn Lisa wieder da ist.
"Jessie?" Meine Freundin reist mich aus meinen Gedanken. Ich blinzle einmal kurz um mich wieder in die Gegenwart zu holen. Ich hebe meinen Rucksack auf, nehme Lisas Hand und gehe los.
"Tut mir leid, Lisa, aber ich kann nicht", antworte ich ihr dann.
"Oh, okay.." Ich höre die Traurigkeit in ihrer Stimme. Verdammt. Bitte frag jetzt einfach nicht, wieso.
"Darf ich denn fragen, warum?", fragt sie vorsichtig. Verdammt.
"Ach, mach dir keinen Kopf", versuche ich mich rauszureden. Gott, bin ich schlecht im Lügen. "Ich habe mich mit Mason verabredet, er wollte irgendwas wegen einem Mädchen wissen, dass er kennen gelernt hat."
Lisa gibt sich damit zufrieden, aber ich bin mir sicher, dass sie weiß, dass ich gelogen habe.