»Kayla! Wie geht’s dir?« Ava sprang von ihrem Stuhl auf und zog mich in eine Umarmung.
»Gut. Dir?« Ich setzte mich an den Platz neben meine besten Freundin und stützte den Kopf auf der Hand ab.
»Auch. Bin etwas geschafft von dem Familientreffen am Wochenende, aber sonst geht’s mir gut.«
Ava erzählte noch weiter, doch meine Gedanken schweiften ab. Ich musste die ganze Zeit über an Jaden, den Bruder von Devon denken.
Wir waren mittlerweile drei Monate zusammen und Devon hatte mit keinem einzigen Wort erwähnt, dass er einen Bruder hatte.
Das war doch nicht normal?
»He...Worüber denkst du nach?« Ihre beste Freundin schaute mich fragend an.
»Gestern Abend stand auf einmal Devons älterer Bruder vor der Tür«, antwortete ich schulterzuckend.
Erstaunt riss sie die Augenbrauen hoch. »Er hat einen Bruder?«
»Ja anscheinend. Er heisst Jaden und ist etwa dreiundzwanzig Jahre alt. Er kam hereinstolziert, als ob er jedes Recht hätte sich wie der König der Welt aufzuführen. Und heute morgen beim Frühstück hat er mich mit Fragen durchlöchert.«
»Okay...Und hast du mit Devon darüber geredet?«
»Ja, ich habe ihn gestern Abend noch darauf angesprochen. Aber er ist meinen Fragen ausgewichen. Er hat gesagt, dass er und Jaden noch nie ein gutes Verhältnis hatten und dass er schwierig sei. Sein Bruder sei furchtbar unberechenbar und kein sehr freundlicher Mensch.« Ich holte tief Luft. »Aber da ist noch mehr. Devon verheimlicht mir was und ich will wissen, was es ist.«
»Ja das klingt sehr merkwürdig.« Ava berührte mich sanft am Arm und ich legte den Kopf auf ihre Schulter.
»Setzt euch bitte hin. Der Unterricht beginnt.« Mister Thompson betrat das Mathezimmer und fing sofort an, Rechnungen an die Tafel zu kritzeln.
Ich schaltete ab.
Die Formel, die wir lösen sollten, verwandelte sich in die Formel, mit der ich Devons Geheimnis lösen könnte.
Doch da ich nicht in der Lage war die Formel aufzulösen, konnte ich auch sein Geheimnis nicht aufdecken.
Was verbarg er bloss?
Er hatte mit keinem Wort erwähnt, dass er einen Bruder hatte.
Devon erzählte allgemein relativ wenig über sich selbst.
Seine Eltern waren vor zwei Jahren ums Leben gekommen, da verschloss man sich, aber ich wusste so gut wie nichts über ihn.
Er schien unglaublich intelligent zu sein und er konnte so gut wie alles. Rundum perfekt, doch irgendetwas verbarg er. Ich hatte im Gefühl, dass sein Geheimnis nicht so ganz zu seiner sonst so perfekten Person passte.
Ich mochte Devon wirklich gern.
Aber die Basis einer guten Beziehung war Vertrauen.
Und mein Freund vertraute mir ganz offensichtlich nicht.
»Hey«, ertönte es hinter mir und zwei starke Arme umschlossen mich.
»Hi.« Ich drehte mich in Devons Umarmung um und schaute in seine grünen Augen.
»Wie geht’s dir?« Er schaute mich besorgt an und strich mir sanft eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
»Gut. Dir?« Wir lösten uns voneinander und betraten die Kantine.
Mit unseren Tabletts gingen wir zu Ava und Koren rüber.
»Hi ihr beiden«, begrüsste mich mein bester Freund grinsend.
»Koren! Alles klar?« Ich setzte mich zu den beiden an den Tisch. Devon liess sich neben mir auf den Stuhl gleiten und fing eine Diskussion mit dem anderen Jungen über das letzte Footballspiel an.
Ava beugte sich vor und flüsterte: »Hast du ihn schon darauf angesprochen?«
Ich schüttelte den Kopf. »Mache ich, wenn wir nach der Schule zu ihm gehen.« Ich wollte unbedingt herausfinden, was Devon vor mir zu verbergen versuchte.
Erstens war ich einfach neugierig und zweitens wollte ich, dass er wusste, dass er mit mir über alles reden konnte.
Hinter uns erklang Geschrei und wir drehten uns um. In der Mitte der Kantine prügelten sich zwei Jungs. Die anderen Schüler hatten einen Kreis um die beiden gebildet und feuerten sie an.
Ich brauchte einen Moment bis ich realisierte, wer sich dort prügelte.
»Timothy!«
Mein kleiner Bruder hob den Kopf und schaute mich benebelt an. Der Andere schlug ihm einen Kinnhaken und Blut tropfte Tim aus der Nase. Er drehte sich um und sie droschen weiter auf sich ein.
Wut durchschoss mich wie eine Welle Lava. Wieso konnte er sich nicht einmal benehmen? War es denn so schwierig mal keine Scheisse zu bauen?
Koren sprang dazwischen und versuchte die beiden zu trennen. Dabei bekam er auch ein paar Schläge ab und wurde in den Kampf verwickelt.
Mein bester Freund konnte das natürlich nicht auf sich beruhen lassen und schlug zurück.
Devon sprang auf die drei Streithälse zu und trennte sie voneinander. Ava hielt Koren fest, während mein Freund Timothy festhielt.
»Was sollte das?«, fuhr ich meinen Bruder an.
»Was denn?« Tim liess seinen Blick abwesend über mich schweifen.
»Bist du betrunken?«, fragte ich ihn ungläubig. Seit dem Tod unserer Mum war ihm alles egal. Die Schule, seine Freunde, unsere Familie. Dad war so gut wie nie Zuhause und Timothy wollte wahrscheinlich so die Aufmerksamkeit auf sich ziehen.
»Nee«, lallte er.
»Du gehst jetzt nach Hause. Hast du mich verstanden?«, knurrte ich ihn wütend an.
Auch seine Augen blitzten aufgebracht, aber er drehte sich wortlos um und verliess die Kantine.
»Wieso macht er das?« Devon nahm mich in den Arm und murmelte an mein Haar: »Ich weiss es nicht.«
Koren hatte sich wieder beruhigt und er kam mit Ava zu uns rüber.
»Tut mir leid«, entschuldigte er sich zerknirscht.
»Schon gut.« Der Braunhaarige war schon immer sehr impulsiv gewesen. Er konnte keine Provokation auf sich sitzen lassen. Selbstbeherrschung war nicht seine Stärke, aber ich mochte ihn deswegen nicht weniger.
Er war mein bester Freund seit dem Kindergarten und ich würde ihn gegen niemanden austauschen wollen.