Die Sommerferien waren nie lang genug - auch dieses Jahr nicht. Übermüdete Schüler mit Augenringen trotteten unmotiviert die Gänge der Gesamtschule entlang, ohne mich zu beachten. Ich starrte währenddessen entgeistert auf meinen Stundenplan.
»Womit auf der Welt habe ich Herr Schmidt in Mathe verdient?
Ich bin noch zu jung um zu sterben!«, jammerte Mike, der neben mir stand theatralisch, doch ich verdrehte nur die Augen. »Jetzt stell dich nicht so an.«, seufzte ich, krampfhaft bemüht, ein Grinsen zu verbergen.
»Was hast du denn gleich?«, fragte er mich dann und linste neugierig auf meinen Stundenplan. »Geschichte und danach Deutsch.«, antwortete ich. Enttäuscht klopfte er mir auf die Schulter. »Ich habe Chemie und danach den Deutsch Fortgeschrittenenkurs.«
Ich würde es zwar nie zugeben, aber beneidete Mike manchmal insgeheim. Klar, wir waren beste Kumpel, aber er war in allem besser als ich. Er war sportlicher, beliebter, schlauer, schlagfertiger, er war einfach immer der Beste in allem.
»Wir sehn' uns Kumpel!«, sagte ich schnell, als der Gong ertönte und eilte zu meinem Geschichtsklassenraum.
Geschichte war Recht in Ordnung, nicht unbedingt spannend, aber auch nicht langweilig. Es waren viele Leute in den Kurs, die ich noch nicht kannte. Hoffentlich würde das in Deutsch nicht auch so sein.
Ich kam kurz nach dem Gong zur zweiten Stunde in den Klassenraum und wurde prompt von Frau Meyer-Berger angeblafft, dass ich zu spät sei. Mike an meiner Stelle hätte jetzt einen beschwichtigenden Spruch gemurmelt und unsere Lehrerin damit sofort um den Finger gewickelt. Mir jedoch fiel keiner ein - ich wurde rot und setzte mich schnell auf den nächstbesten freien Platz. Peinlich berührt wollte ich meine Unterlagen herausholen und stellte erschrocken fest, dass ich mein Deutschbuch bei dem Plausch mit Mike heute morgen in meinem Spind vergessen hatte. Mein Blick wandte sich nach rechts und ich erblickte einen Mitschüler von offensichtlich ausländischer Herkunft, den ich schon einmal auf den Gängen gesehen habe. Ich schluckte. Verdammt, warum bin ich nicht so sozialkompetent wie Mike?, schoss es mir durch den Kopf. Doch ich hatte keine Lust, noch einmal von meiner unausstehlichen Deutschlehrerin angemeckert zu werden, deshalb straffte ich meine Schultern und flüsterte: »Entschuldigung, ich habe mein Deutschbuch vergessen, kann ich vielleicht bei dir mit reinschauen?« Er schob mir sein Buch zu. »Klar.«
»Ich bin Julian.«
»Kai.«
Ich wusste nicht genau warum, aber so einem Namen hatte ich mir nicht vorgestellt. Daher versuchte ich meine Überraschung zu verbergen und nickte bloß, was mir allerdings nicht sonderlich gelang. Denn er flüsterte mir wenig später zu: »Ich weiß...kein üblicher Name für einen Ausländer.« Irgendwie sah er ein wenig frustriert aus. Er tat mir leid. Wie viele Menschen denken mussten, er hätte einen typisch muslimischen Namen. Was ist überhaupt typisch? Das, was die Gesellschaft sagt. Sie drücken uns in Backförmchen als wären wir irgendein verformbarer Teig. Aber wir sind individuell und wir wollen nicht typisch für irgendetwas sein. Wir sind typisch uns und wir sind halt wie wir sind.
»Hey Julian.«, flüsterte Kai von rechts und riss mich damit aus meinen Gedanken. Die Augen der gesamten Klasse lagen auf mir und ich schrumpfte unter Frau Meyer-Bergers grimmigem Blick zusammen. Meine Finger zitterten und ich fluchte innerlich. Was hätte Mike getan? Nein. Was hätte ich getan? Ich versuchte mich aufzuraffen und sagte mit bebender Stimme: »Ich habe die F-frage leider nicht genau verstanden, könnten sie die nochmal wiederholen?« Ich hörte Schüler hinter und neben mir kichern und dann Kais Stimme: »Hör nicht auf sie!«
»Sie sollen den Abschnitt drei lesen und deuten.«
Ich nickte, während ich versuchte mich selbst zu beruhigen. Ich hasste solche Momente. Ich hasste Menschen. Ich hasste es im Mittelpunkt zu stehen. Ich tat wie mir befohlen und schlug mich sogar gar nicht so schlecht.
Nach der Stunde kam Kai zu mir. »Man, war das eine scheiß Situation. Hast dich gut rausgeboxt.«, grinste er und nickte mir zu. »Danke.«, sagte ich und wollte gehen. Doch Kai hielt mich am Arm fest und drückte mir einen Zettel in die Hand. »Wäre cool, wenn du Mal schreiben würdest.«, sagte er und zwinkerte mir zu. Ich wurde augenblicklich rot und öffnete meine Hand. Auf dem Zettel stand in einer unordentlichen Schrift eine Nummer.
»Er hat dir seine Nummer gegeben? Werde ich etwa ersetzt?«, klagte Mike in der Freistunde und ich verdrehte die Augen. Als ob dieser Typ Mike ersetzen könnte, nur weil er mir seine Nummer gegeben hatte. Ich wusste noch nicht einmal, ob ich ihn anschreiben würde. Ich war eigentlich zufrieden mit meinem Freundeskreis. Beziehungsweise meinem einzigen Freund.
»Bin wieder da.«, rief ich durchs Haus und ließ meine Schlüssel auf den Küchentisch fallen. »Hey Schatz.«, begrüßte Grace mich. »Meike ist noch weg. Wie war's in der Schule?«
»Gut.«, brummte ich gelangweilt. »Wie immer halt.«
Danach zog ich mich in mein Zimmer zurück und holte mein Handy aus der Hosentasche. Dabei fiel ein zusammengeknüllter Zettel heraus. Eigentlich wollte ich jetzt noch einen Eintrag in mein Notizbuch machen, aber...dieser Zettel lächelte mir so verlockend entgegen. Ich nahm ihm und tippte seine Nummer in mein Handy. Anschreiben konnte ich ihn später. Wenn überhaupt.
Ich setzte mich an meinen Schreibtisch, nicht ohne mich vorher zu vergewissern, dass ich die Tür wirklich abgeschlossen hatte, und begann zu schreiben.
14. 03. 2017
Es war ein normaler Tag in einem normalen Leben von einer normalen Person. Normal? Was ist normal? Hetero, mittelmäßig in der Schule, braunhaarig und 180 groß? Dann bin ich definitiv nicht normal. Es gibt nicht viel zu sagen. Normale Kurse, Mike...
Ich wusste nicht, was ich sonst noch schreiben sollte und schloss das Buch. »Julian, bin dann weg.«, hörte ich Grace von unten rufen. »Sport.«
»Okay.«, rief ich zurück und wartete, bis sie die Tür geschlossen hatte. Dann schloss ich meine Tür sicherheitshalber noch einmal ab und drehte die Musik auf. Ich war irgendwie aufgebracht, aber wusste nicht genau, wieso. Ich hatte ein lauteres Lied ausgewählt, etwas wildes und rhythmisches. Schon nach wenigen Sekunden begann ich, mich vorsichtig in den Beat zu wippen und nach wenigen Takten fing ich erst zögerlich, dann immer sicherer an zu tanzen. Ich vermischte verschiedene Choreographien, die ich gesehen hatte miteinander und ließ mich einfach fallen. Das Tanzen war mittlerweile wie eine Droge für mich geworden. Ich war abhängig davon. Musste es einfach machen. Die Musik sponn ihre Fäden und bewegte von allein meinen Körper. Musik war die Luft, in der ich atmen konnte, der Boden auf dem ich stand, die Stimme mit der ich sprach. Einfach alles in meinem Leben war besser mit Musik. Diese hatte nun einen dichten Nebel aus Tönen um mich gebildet, der aufwirbelte, wenn ich mich bewegte. Jeder Millimeter meines Körpers fühlte den Beat und ich legte meinen Kopf zurück und öffnete meine Lippen zu einem stummen Schrei. Ein Schrei der Freiheit.
Das lauwarme Wasser aus dem Duschhahn prasselte wie ein sanfter Regen auf mich hinab und wusch den Schweiß und die Musik aus meinen Poren. Noch immer zierte ein seeliges Lächeln mein Gesicht und noch immer war ich betrunken von dem Gefühl der Freiheit.
Ich hatte Meike anrufen wollen, doch meine Augen waren zwischendurch über den Kontaktnamen ›Kai‹ gestolpert. Nun schwebten meine Finger über der Tastatur und ich wusste nicht genau, was ich schreiben sollte. Hey Kai, hier ist Julian, der aus dem Deutschkurs? Nein, das klang bescheuert. Ich beließ es bei einem einfachen Hey und die Online Anzeige änderte sich von Zuletzt online um 14:39 zu online.
Julian, bist du's?, ploppte eine Nachricht auf dem Bildschirm auf. Ich bestätigte und wenig später konnte ich auch sein Profilbild sehen. Es war ein Selfie mit einem Kumpel von ihm, offensichtlich auch Ausländer.
Sorry man, aber ich muss für Mathe lernen. Wir sehen uns
Ein wenig enttäuscht schaltete ich mein Handy aus und lehnte mich zurück. Im selben Moment hörte ich ein Schlüssel im Schloss unserer Tür und wenig später Meikes Stimme. »Ich bin's Ju!« Ich ignorierte sie, schloss die Augen und stellte mir vor, ganz weit weg zu sein. Irgendwo, wo Väter Zeit für ihre Kinder haben und jeder so wie er ist perfekt ist.