Es war einsehr alter Durchgang, den wohl eine längst vergangene Zivilisationgegraben hatte. Viele der Stützsäulen waren eingestürzt und Teileder Decke hingen tief hinab. Auch der Boden war oft nicht mehrgerade, mit geborstenen Granitplatten, die unter den Füßenknirschten. Entlang der Wände waren antike Hieroglyphen aus bunterKreide, die spielende Kinder auf Rutschen und Schaukeln zeigten.Diese fröhlichen Szenen setzten sich über viele Galerien fort, bisdann neue Zeichnungen von bewaffneten Teddys und Kaninchen kamen, dieanfingen all die Kinder zu töten und zu kreuzigen.
Zum Glückhatte er die Fackel mit dem blauen Feuer, die nicht auszugehenschien. In der Dunkelheit hätte er sich sicherlich sämtlicheKnochen gebrochen.
Auf halbenWeg fand er dann den Hund.
Es war eingroßer Hund. Ein sehr großer Hund. Mindestens sieben Meter lang undfast doppelt so hoch wie ein Mann. Seine Füße waren kurz wie beieinem Dackel und er hatte ein flauschiges weißes Fell. Seine Pfotenbesaßen Metallkrallen an denen trockenes Blut klebte und an seinenSchlappohren waren jeweils vier goldene Ohrringe.
Ein großerBalken aus Sandstein war auf seinem Rücken gefallen und knurrendversuchte das knuffige Tier sich zu befreien. Es hielt allerdings inseinen Bemühungen inne, als der Junge näher kam und seine Schnauzewandte sich schnüffelnd in seine Richtung.
»Duscheinst wohl in einem großen Schlamassel zu stecken?«, fragte erund inspizierte die Unfallstelle.
Ein Bellenwar die Antwort.
»Hast duhier nach deinem Herrchen gesucht?«
Wieder einBellen.
»Ich werdeversuchen dich zu befreien, okey?«
Diesmalbellte der Hund dreimal.
Es dauerteein wenig, den gerissenen Sandstein zu entfernen und der Junge musstedazu einen alten Priesterstab mit einem Teddybärengesicht an derSpitze als Hebel benutzen, um überhaupt Fortschritte machen zukönnen. Doch nach zwei Stunden war die Tat vollbracht der Balkenrutschte vom Rücken des Hundes, der sofort begeistert nach vornesprang und sich kratzte.
Nachdem derJuckreiz befriedigt war, leckte er den Jungen zum Dank mit seinergewaltigen Zunge mehrmals.
»Hey, hey«,lachte das Kind und streichelte seinen neuen Freund. »Ein bisschensanfter oder du schmeißt mich zu Boden. Bist wohl froh, dass ichvorbeikam, oder?«
Das Bellendiesmal war so laut, dass die Decke ein wenig erzitterte und umeinige Zentimeter nach unten rutschte.
»Ich willzu dem Schloss, wo man das goldene Ticket bekommt mit dem man nachNimmerland reisen kann. Ein wichtiger Freund wartet dort auf mich.Ganz sicher tut er das. Möchtest du vielleicht mitkommen?«
Das erneuteLecken war eine eindeutige Antwort.
»Hast wohldoch nicht nach deinem Herrchen gesucht, was? Gut, dann gehen wirzusammen weiter.«
Und so fandder der Junge einen Begleiter für die Reise.
Leichtfallender Zuckerschnee erwartete sie beide, als sie aus dem Tunnelstiegen. Der Junge fing einige dieser süßen Kristalle mit der Zungeund der Hund stürmte an ihm vorbei und wälzte sich in demglänzendem Weiß.
EinTannenwald in nächtlicher Ruhe erstreckte sich um sie herum. EinSchild in der Nähe zeigte den Weg zum Nordpol, dem nächsten Dorfund dem großen Industriegebiet, was sich hier in der Gegend befand.
»Und wasist das?«, fragte der Junge und bemerkte, dass einer der Pfeile miteiner Schicht Asche verschmiert war, sodass man nicht sagen konnte,wohin der Pfad führte. Er wischte es fort, sodass ein einzelnes Worterkennbar wurde. »Clown?«, murmelte er. »Da lang geht es also zumClown?« Er drehte sich zum Hund um. »Heya, willst du einen Clownsehen? Ich würde gerne etwas lachen.«
SeinBegleiter bellte zustimmend.
Es war einentspannte Wanderung durch das nächtliche Gehölz. Der Zuckerknirschte unter ihren Füßen und alles schien zu schlafen. Einigevoll dekorierte Weihnachtsbäume beleuchteten dabei blinkend den Weg.
Bei einerbesonders prachtvoll verzierten Tanne fanden sie dann eine HerdeRentiere, die sich an der Leiche eines Kobolds labten. Sie hoben ihreKöpfe mit den rasiermesserscharfen Geweihen. Blut tropfte aus ihrenMündern und ihre Augen glühten rot.
Der Hundknurrte neben dem Jungen und dies veranlasste die Herde von derLichtung zu ziehen. Als sie beide dann zu dem Kobold traten dampftenseine, durch die Hufen platt getretenen, Organe in der Kühle derNacht und der Kopf mit der großen Nase drehte sich etwas zu ihnen.
»Oh ho. Ohho. Was haben wir denn hier? Seid ihr auch hier um mich zu essen?«
»Wiesosollten wir dich essen?«, fragte der Junge.
»Man hatmich aus der Fabrik geworfen. Ich wurde unnütz und nicht mehrgebraucht. Mein einziger verbliebener Wert besteht darin Futter fürdie Tiere zu werden.«
»Und dasist in Ordnung für dich?«
»Wieso dennnicht? Mein Körper ist das einzige was ich noch geben kann. Allesist eins, junger Freund. Ich werde Teil von jemand anderen, mache ihnstärker und nützlicher als mich.«
»Und deineSeele?«
»Geht aufin den Wolken, wie alle anderen. Oh, die großen leuchtenden Wolken,von denen ich eines Tages zurückkehren werde.«
»Zurückkehren?«
»Ja, wennWelt wieder ein besserer Ort ist. Dann werde ich mit allen anderenvon den Wolken zurückkehren.«
Der Jungedachte etwas über diese Worte nach und wechselte dann das Thema. Erwar neugierig mehr zu hören. »Was wird denn in den Fabrikengebaut?«
»Spielzeug.«
»Spielzeug?«
»Ja,Spielzeug für Kinder. Kleine Roboter aus Plastik die blinken, Bälledie hüpfen und Malstifte. Solche Sachen werden da gebaut.«
»Oh, dassklingt schön. Ihr macht die Welt also zu einem spaßigeren Ort,nicht wahr?«
Der Kobolddrehte den Kopf wieder etwas weg, sodass sein Gesicht sich in densüßen Schnee grub. »Nicht wirklich. Oder zumindest nicht mehr.Alles Spielzeug, was wir bauen, werfen wir nach draußen. Wirerrichten regelrechte Berge aus dem Kram. Du solltest sie sehenkönnen, wenn du weiter diesem Pfad folgst.«
»Wiesomacht ihr das?«
»Es gibtkeine Kinder mehr, die mit unseren Spielzeug spielen können.«
»Aber ichbin doch ein Kind!«
»Dann bistdu wohl das letzte Kind dieser Welt.«
»Wieso bautihr dann weiter Spielzeug, wenn es keine Kinder mehr gibt?«
»Weil wirnichts anderes können. Wir waren, sind und werden immerSpielzeugmacher sein. Unser Leben und unser Tun sind an den Fabrikengekoppelt. Und wir haben die Hoffnung...«
»WelcheHoffnung?«
Der Koboldsah nun wieder zu dem Jungen auf und lächelte erneut. »DieHoffnung, dass irgendwann die Kinder wiederkommen. Ja, die Kinder.Auch wenn meine Erinnerungen heute hinauf zu den Wolken wandern, soweiß ich, dass ich wiederkommen kann, wenn ich dort oben das Lachenvon Kindern wieder hören kann. Denn dann ist die Welt wieder gut.«